Die deutschen IS-Kämpfer, von denen die Bundesregierung nichts wissen will
In der Hochphase der Miliz „Islamischer Staat“ reisten mehr als tausend Deutsche nach Syrien in den „Heiligen Krieg“. Mit dem Niedergang des IS gerieten sie in Gefangenschaft. Experten fordern, die mutmaßlichen Terroristen zurückzuholen, um sie zu bestrafen und zu deradikalisieren. Die Bundesregierung weigert sich.
Ihr erster und bis heute letzter Besuch bei ihrem gefangenen Enkel liegt nun schon fast fünf Jahre zurück. Doch die Bilder dieses Tages wird Margrit G.* wohl nie mehr vergessen. Ihr Enkel Anton* war ausgemergelt und abgemagert. Er steckte in einem abgetragenen Overall, und als die Wärter ihm in dem Besuchszimmer Handfesseln und Augenbinde abnahmen, starrte Anton sie mit leeren Augen und starren Gesichtszügen an – als sei ihm nicht klar gewesen, dass es seine Oma war, die da vor ihm stand.
Erst nach einigen Sekunden war Anton wieder im Hier und Jetzt angekommen – und Enkel und Großmutter fielen sich in die Arme und weinten Tränen, die nur aus den Augen von zwei sich liebenden Menschen fließen können, die fürchteten, einander nie wieder zu sehen. „Es war meine größte Angst, dass ihr nicht mehr hinter mir steht“, sagte Anton zu seiner Oma. Margrit G. erwiderte: „Wir werden alles für dich tun, was wir können.“
Dann war die Besuchszeit abgelaufen – und die zwei Männer mit den Gesichtsmasken und den Schlagstöcken legten Anton wieder Handfesseln und Augenbinde an und brachten ihn zurück in sein Gefangenenlager. Seitdem hat Margrit G. nie wieder etwas von ihrem Enkel gehört.
Ein talentierter Handballer mit vielen Freuenden
Wie es so weit kommen konnte, dass Anton fernab der Heimat inhaftiert ist, ohne Anklage, ohne Urteil und ohne jemals rechtliches Gehör gefunden zu haben, versteht Margrit G. bis heute nicht. Ihr Enkel war ein talentierter Handballer, erzählt die bodenständig wirkende Mittsechzigerin im Gespräch mit dem Reporter von CORRECTIV. Er begeisterte sich für den örtlichen Fußballverein, hatte Freunde und trug meistens ein Lächeln auf den Lippen.
Dann entdeckte er das für sich, was er für den Islam hielt – und radikalisierte sich.
Im Juli 2014, mit 19 Jahren und kurz bevor er eine Ausbildung anfangen wollte, verkündete er seiner Mutter und seiner Oma Margrit, mit seiner nach islamischem Recht angetrauten Ehefrau zur Hochzeitsreise in die Türkei aufzubrechen. Tatsächlich aber wollten Anton und seine Frau keinen Urlaub am Bosporus machen. Sie reisten nach Syrien. Dort schlossen sie sich dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) an, jener Terrorgruppe, die in ihrer Hochphase Mitte der 2010er Jahre weite Teile Syriens und des Irak beherrschte, und deren Anhänger all jene massakrierten oder folterten, die ihnen als „Ungläubige“ erschienen.
Als der IS zurückgedrängt wurde und seinen Status als Territorialmacht verlor, gerieten viele IS-Anhänger in Gefangenschaft. Die meisten stammten aus Syrien und Irak. Unter den Gefangenen waren aber selbst ernannte „Gotteskrieger“ aus anderen Ländern, etliche Europäer und auch viele Deutsche. Einer von ihnen: Anton, der Enkel von Margrit G.
Die Ausreise in den „Dschihad“ gehörte in der Szene zum guten Ton
Die Ausreise in den „Heiligen Krieg“ gehörte für einige in der deutschen Dschihadisten-Szene Mitte der 2010er Jahre zum guten Ton. Nach Informationen der deutschen Sicherheitsbehörden reisten seinerzeit weit mehr als tausend Dschihadisten aus Deutschland nach Syrien. Die meisten landeten beim IS. Etwa ein Viertel bezahlte das Leben als „Kämpfer auf dem (vermeintlichen) Wege Allahs“ mit dem Leben. Rund 40 Prozent sind mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt. Die meisten von ihnen mussten sich hierzulande wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verantworten. Sie wurden verurteilt und sitzen im Gefängnis – oder haben ihre Haftstrafe bereits abgebüßt.
Doch das Erbe der dschihadistischen Ausreisewelle beschäftigt die deutsche Politik immer noch. Denn in Gefängnissen und Gefangenenlagern in Syrien befinden sich noch immer rund 40 mutmaßliche einstige IS-Mitglieder, die einst aus Deutschland ausreisten. Schergen des IS, die sich in Deutschland aus unterschiedlichen Gründen radikalisierten – und von denen einige in Syrien mutmaßlich schlimmste Kriegsverbrechen verübten.
Hat Deutschland eine rechtliche und moralische Verpflichtung, sich um diese Menschen zu kümmern? Muss der deutsche Rechtsstaat nicht dafür sorgen, dass seine Staatsbürger zur Verantwortung gezogen werden, aber eben nicht in einem Gefängnis in Syrien unter menschenunwürdigen Bedingungen, sondern hierzulande, vor deutschen Gerichten und nach den Regeln des deutschen Rechtsstaates?

Ein Besprechungsraum in den Räumen des Deutschen Bundestages am Dienstag dieser Woche: Die Grünen-Abgeordnete Lamya Kaddor hat zum Parlamentarischen Frühstück geladen. Es geht um die „Rückführung und Strafverfolgung ehemaliger deutscher IS-Kämpfer“.
Claudia Dantschke, Islamismus-Expertin und Leiterin des Vereins zur Radikalisierung „Grüner Vogel“ stellt bei dem Treffen klar, dass die Befürchtungen, die inhaftierten einstigen IS-Mitglieder könnten noch heute gefährlich sein, berechtigt sind. „Nach 6 bis 7 Jahren Isolationshaft kann man nicht davon ausgehen, dass diese Männer deradikalisiert sind, eher im Gegenteil“, sagt Dantschke.
Die Bundesregierung sei dennoch gut beraten, sie zurückzuholen. „In den Haftanstalten in Syrien bestehen keine professionellen Angebote zur Distanzierung von extremistischen Ideologien“, sagt Dantschke. In Deutschland gebe es dagegen mittlerweile gute Strukturen zur psychologischen Stabilisierung und Deradikalisierung. Die Lage in Syrien sei zudem weiterhin instabil. „Angesichts dieser instabilen Lage drohen Ausbrüche oder Freilassungen.“
Die freigekommenen einstigen Dschihadisten könnten, unbemerkt von den Sicherheitsbehörden, nach Deutschland zurückkehren. „Eine kontrollierte Aktion, um diese Menschen zurückzuholen, um sie hier einer strafrechtlichen Verfolgung und einer Deradikalisierung zuzuführen, wäre ein Beitrag zur inneren Sicherheit“, sagt Dantschke.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann, Professor für Security Studies am King’s College in London und einst im Schattenkabinett des einstigen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet, erläutert, dass Rückkehrer aus den Kampfgebieten des IS unter Fachleuten stets als großes Sicherheitsrisiko galten. „Die Sorge war, dass diese Menschen nach ihrer Rückkehr noch radikaler sein würden als zuvor, und dass sie sich in der einheimischen Dschihadisten-Szene als Anführer etablieren könnten“, sagt Neumann.
Deutschland habe aber „sehr konsequent“ eine Infrastruktur zur Deradikalisierung aufgebaut. Mit Erfolg. Von den rund 500 einstigen IS-Anhängern, die bereits nach Deutschland zurückgekehrt sind, sei bisher „kein einziger“ an Anschlägen oder Anschlagsplanungen beteiligt gewesen. Die ausgereisten Deutschen hätten in Syrien teils schwerste Verbrechen verübt. Radikalisiert hätten sie sich aber nicht in Syrien – sondern in Deutschland. „Wenn die Bundesrepublik von diesen deutschen Staatsbürgern jetzt nichts mehr wissen will, ist das gegenüber Syrien eigentlich nicht gerecht“, sagt Neumann.
Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor betrachtet das Thema nicht nur aus der Perspektive einer Bundestagsabgeordneten. Kaddor ist Islamwissenschaftlerin. Vor ihrem Einstieg in die Politik arbeitete sie im nordrhein-westfälischen Dinslaken als Religionslehrerin. Fünf ihrer damaligen Schüler, so erzählt sie es bei dem parlamentarischen Frühstück, hätten sich seinerzeit radikalisiert und seien in die syrischen Kampfgebiete gezogen. Vier seien nach ihrer Rückkehr in Deutschland verurteilt worden, einer sei in Syrien ums Leben gekommen.
Kaddor verweist darauf, dass die USA im Zuge der Kürzungen bei ihrer Entwicklungshilfebehörde US Aid auch ihre finanzielle Unterstützung für die Bewachung der Gefangenenlager in Syrien zusammengestrichen hätten. „Die Gefahr steigt, dass die Gefangenen einfach abhauen“, sagt Kaddor. Wichtiger noch: In der aktuellen politischen Debatte um Abschiebungen gehe es derzeit nur darum, dass Deutschland straffällige Syrer abschieben wolle. Über die mutmaßlichen deutschen Straftäter in Syrien, die einstigen deutschen IS-Mitglieder, rede dagegen kaum jemand. „Wenn wir syrische Straftäter nach Syrien abschieben wollen, müssen wir auch deutsche Straftäter nach Deutschland zurückholen“, sagt Kaddor.

Eine Rückholaktion wäre nicht leicht. Denn die Gefangenenlager liegen im Nordosten Syriens, in der Region Rojava, die nicht von der Zentralregierung, sondern von der kurdischen Autonomiebehörde kontrolliert wird. Experten wie Kaddor, Dantschke und Neumann verweisen aber darauf, dass es zu den Kurden durchaus Gesprächskanäle gibt. Kaddor sagt: „Eine Rückholaktion ist letztlich eine Frage des politischen Willens.“
Doch der politische Wille ist derzeit nicht vorhanden. Die Bundesregierung verwies auf Anfrage der Linksfraktion zwar erst vor wenigen Wochen darauf, seit 2019 knapp 30 deutsche Frauen, sowie 85 Kinder aus Syrien konsularisch betreut und nach Deutschland zurückgeholt zu haben. Die Rückkehr von zwölf weiteren Frauen und 25 weiteren Kindern sei vom Bundeskriminalamt begleitet worden. In der Antwort auf die parlamentarische Anfrage heißt es aber auch: „Gegenwärtig plant die Bundesregierung keine (weitere) Repatriierung deutscher Staatsangehöriger aus Syrien oder Irak.“ Auf Anfrage von CORRECTIV, ob weitere Rückholaktionen geplant seien, gab das Auswärtige Amt keine zitierfähige Stellungnahme ab.
Margrit G. verfasste unterdessen Petitionen an die verantwortlichen Politiker. Sie demonstrierte mit weiteren Angehörigen von inhaftierten deutschen mutmaßlichen IS-Mitgliedern vor dem Auswärtigen Amt. Und sie versuchte, auf eigene Faust Kontakt zu der kurdischen Autonomiebehörde herzustellen. Ohne Erfolg.
Sollte Anton jemals nach Deutschland zurückkehren, solle er seine gerechte Strafe erhalten, sagt sie. Doch dass die Bundesregierung ihn und die anderen Gefangenen in Syrien vor sich hin vegetieren lasse, sei eines Landes wie Deutschland unwürdig „Meine schlimmste Befürchtung ist, dass Anton entweder schon tot ist“, sagt sie. „Oder dass er in der Haft den Verstand verloren hat.“
Gespräche mit dem syrischen Übergangspräsidenten
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verkündete unterdessen, den syrischen Übergangspräsidentin Ahmed al-Scharaa nach Deutschland eingeladen zu haben. Merz will al-Scharaa überzeugen, syrische Geflüchtete – zuerst Straftäter – so schnell wie möglich wieder in Syrien aufzunehmen. Ob er mit al-Scharaa auch über die Rücknahme gefangener deutscher einstiger IS-Terroristen aus Syrien sprechen will, sagte Merz nicht.
*Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir die Namen geändert