Keine Belege für „dramatischen“ Anstieg des Risikos für Herzkrankheiten durch mRNA-Impfungen
Ein kurzes Abstract in einer Fachzeitschrift wird als vermeintlicher Beleg aufgegriffen, dass mRNA-Impfungen gegen Covid-19 das Risiko für Herzinfarkte stark erhöhen. Der Text lieferte für diese Schlussfolgerung jedoch keine Belege und wurde inzwischen überarbeitet. Größere Studien aus Frankreich und Israel kamen zu anderen Ergebnissen.
Im November 2021 veröffentlichte die kardiologische Fachzeitschrift Circulation ein sogenanntes Abstract, eine kurze Zusammenfassung einer wissenschaftlichen Arbeit. Darin wurde eine „Warnung“ ausgesprochen, dass mRNA-Covid-19-Impfstoffe das Risiko eines Akuten Koronarsyndroms (ACS), einer Herzkrankheit, erhöhen könnten. Es erschien am 8. November online und am 16. November in der gedruckten Zeitschrift.
Der Text wurde am 15. Dezember in einem deutschen Youtube-Video mit dem Titel „Nebenwirkungen nach mRNA-Impfungen“ aufgegriffen. Darin zitiert ein Arzt den Text und sagt, die „Studie“ zeige, dass die Impfungen das Risiko für ein „kardiovaskuläres Ereignis“, speziell für Herzinfarkte, von 11 auf 25 Prozent erhöhe. „Das ist ein erschreckend hoher Wert (…) einzig und allein durch Covid-Impfungen“, sagt der Arzt. „Ich bin nicht gegen Impfungen“, fügt er hinzu, aber man müsse „Erfahrungen sammeln“ und „näher hinschauen“. Das Video hat inzwischen fast 1,2 Millionen Aufrufe.
Unsere Recherche ergibt: Das Abstract aus dem Journal Circulation wurde in der wissenschaftlichen Gemeinschaft kritisiert. Es liefert keine ausreichenden Belege, um auf eine erhöhte Gefahr für Herzerkrankungen wie Herzinfarkte durch mRNA-Impfungen zu schließen. Ende Dezember wurde eine überarbeitete Version veröffentlicht, in der Einschränkungen der kleinen Studie benannt werden.
Im Youtube-Video wird die Kritik an dem Abstract nicht erwähnt, obwohl die kritischen Beiträge fast drei Wochen vor dem Video veröffentlicht wurden. Es fehlt also wesentlicher Kontext. Andere Studien aus Frankreich und Israel zum Impfstoff von Biontech zeigen kein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte. Zwar gibt es Hinweise auf ein Risiko für Herzmuskelentzündungen, diese Krankheit tritt jedoch der Studie zufolge nach Infektionen mit dem Coronavirus wesentlich häufiger auf als nach Impfungen.
Öffentliche Kritik am Abstract gab es schon Ende November
An der Richtigkeit der Aussagen in dem Abstract gab es bereits im November Zweifel. Die Zeitschrift selbst hat online am 24. November einen Hinweis dazu veröffentlicht. Darin schreibt die American Heart Association, die das Journal herausgibt, dass es Hinweise auf Fehler in dem Abstract gebe: zum Beispiel Schreibfehler, aber auch fehlende Daten und Mängel in der Auswertung.
Auf englischsprachigen Webseiten wurde Ende November und Anfang Dezember über die Probleme mit dem Abstract berichtet. Zum Beispiel auf dem Blog Retraction Watch, der über zurückgezogene wissenschaftliche Arbeiten berichtet, oder der Webseite TCTMD, die von der Organisation Cardiovascular Research Foundation in den USA betrieben wird. Es gibt auch zwei Faktenchecks aus den USA, von Reuters und Factcheck.org. Sie kritisieren, dass das Abstract die These eines generell erhöhten Risikos für Herzkrankheiten durch Impfungen nicht belege.
Auf der deutschen Webseite Kardiologie, die unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie herausgegeben wird, erschien außerdem am 1. Dezember ein Artikel zu dem Abstract. Darin wird es als „fragwürdig“ bezeichnet.
Was steht in dem Abstract?
Die Original-Überschrift des Abstracts lautete: „mRNA Covid Vaccines Dramatically Increase Endothelial Inflammatory Markers and ACS Risk as Measured by the PULS Cardiac Test: a Warning“ (übersetzt: „mRNA-Covid-Impfstoffe erhöhen die mit dem PULS Cardiac Test gemessenen Entzündungsmarker und das ACS-Risiko dramatisch: eine Warnung“).
Im Text berichtete der Autor Steven Gundry, er erhebe bei seinen Patienten regelmäßig Daten mit dem sogenannten PULS-Test. Dieser Test misst bestimmte Werte und soll Aufschluss über das prozentuale Fünf-Jahres-Risiko für ein Akutes Koronarsyndrom (ACS) geben. Unter diese Bezeichnung fallen verschiedene Krankheitsbilder, darunter Herzinfarkte.
Gundry ist nach eigener Aussage Kardiologe und betreibt zwei Privatkliniken in Kalifornien. Der PULS-Score werde bei seinen Patienten seit mehreren Jahren erhoben, schreibt der Mediziner im Abstract. Bei 566 Patienten, die zuvor mit einem mRNA-Impfstoff geimpft wurden, seien die Werte danach erhöht gewesen. Das Fünf-Jahres-Risiko für ACS dieser Patienten sei laut ihrer PULS-Werte von 11 auf 25 Prozent gestiegen. Er zieht die Schlussfolgerung, dass die mRNA-Impfstoffe „dramatische“ Entzündungsprozesse auslösen und verantwortlich seien für „Anstiege von Thrombosen (Blutgerinnsel), Kardiomyopathie (Einschränkung der Herzfunktion durch verschiedene strukturelle Veränderungen des Herzmuskels) und andere vaskuläre Ereignisse nach Impfungen“.
Kritik führte zu einer Überarbeitung des Abstracts von Gundry
Wir haben den Autor Steven Gundry im Dezember per E-Mail kontaktiert und ihm Fragen über sein Abstract gestellt, aber keine Antwort erhalten.
Die American Heart Association antwortete auf unsere Presseanfrage am 22. Dezember, dass eine überarbeitete Version des Abstracts veröffentlicht worden sei. Generell dienten Abstracts dazu, wissenschaftlichen Diskurs anzuregen und würden intern vor Veröffentlichung vor allem unter diesem Gesichtspunkt überprüft. Die Abstracts sind also keine umfangreichen Studien, sondern – in diesem Fall – eine kurze Zusammenfassung als Beitrag für eine wissenschaftliche Veranstaltung.
In der neuen Version des Abstracts vom 22. Dezember ist in der Überschrift nicht mehr die Rede von einer „Warnung“. Der Titel ist wesentlich neutraler und lautet „Observational Findings of PULS Cardiac Test Findings for Inflammatory Markers in Patients Receiving mRNA Vaccines“ (übersetzt: „Beobachtung der Ergebnisse des PULS Cardiac Tests für Entzündungsmarker bei Patienten, die mRNA-Impfstoffe erhielten“). Es wird anders als zuvor im Text darauf hingewiesen, dass die Daten nicht mit einer Kontrollgruppe ungeimpfter Menschen verglichen wurden. Die Daten seien nicht statistisch verglichen worden. Es werden in der neuen Version zudem keine Behauptungen mehr über kausale Zusammenhänge zwischen mRNA-Impfungen und Ereignissen wie Thrombosen aufgestellt.
Studien aus Israel und Frankreich zeigten kein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte nach mRNA-Impfungen
In dem Artikel auf der Webseite Kardiologie zu dem Abstract wird darauf hingewiesen, dass die These, mRNA-Impfungen führten zu einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko, durch eine „große Studie“ aus Frankreich widerlegt sei.
Die Ergebnisse der Studie aus Frankreich wurden am 22. November 2021 in der medizinischen Fachzeitschrift Jama (Journal of the American Medical Association) veröffentlicht. Darin wurden Daten aus der nationalen Impfdatenbank Frankreichs mit Krankenhauseinweisungen wegen Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Lungenembolien zwischen dem 15. Dezember 2020 und 30. April 2021 abgeglichen. Berücksichtigt wurden Patientinnen und Patienten im Alter über 75 Jahren, die entweder ungeimpft oder mit dem mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer geimpft waren.
Die Analyse ergab, dass die Krankheiten 14 Tage nach der Impfung nicht häufiger auftraten, es sei also kein erhöhtes Risiko nach Impfungen erkennbar. Die Ergebnisse beziehen sich auf ältere Menschen. Ähnliches hätten aber auch Studien aus Israel und den USA mit anderen Altersgruppen ergeben, schreiben die Forschenden.
Risiko für Herzmuskelentzündungen laut Studie aus Israel nach Corona-Infektion höher als nach Impfung
Die genannte Studie aus Israel erschien am 16. September 2021 im New England Journal of Medicine. Es wurden die Daten von hunderttausenden Israelis (Geimpfte und Kontrollgruppe) über 16 Jahren untersucht, der untersuchte Zeitraum umfasste 42 Tage (sechs Wochen) nach der Impfung. Die Studie zeigte, dass es zwar tatsächlich ein erhöhtes Risiko für Myokarditis (Herzmuskelentzündungen) nach der Impfung mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff gibt – es seien 1 bis 5 unter 100.000 Geimpften betroffen. Nach einer Infektion mit dem Coronavirus trat dieselbe Krankheit jedoch viel häufiger auf – 11 von 100.000 Infizierten waren betroffen.
Eine Corona-Infektion erhöhte zudem auch das Risiko für eine ganze Reihe anderer Krankheiten „substanziell“, darunter Herzbeutelentzündungen, Herzrhythmusstörungen, Venenthrombosen, Lungenembolien und Herzinfarkte.
Aufgrund des Risikos für eine Myokarditis empfiehlt die Ständige Impfkommission in Deutschland seit Mitte November keine Impfungen mit dem mRNA-Impfstoff von Moderna für Unter-30-Jährige mehr. In dieser Altersgruppe solle nur noch der mRNA-Impfstoff von Biontech eingesetzt werden, denn damit sei das Myokarditis-Risiko geringer als beim Impfstoff des Herstellers Moderna.
Über ähnliche unbelegte Behauptungen über Schlaganfälle oder Herzkrankheiten nach Impfungen haben wir bereits in anderen Faktenchecks berichtet (hier und hier).
Redigatur: Uschi Jonas, Matthias Bau
Update, 7. Januar 2022: Wir haben im Text die Definition des Begriffs „Kardiomyopathie“ korrigiert. Es handelt sich bei dieser Krankheit nicht ausschließlich um ein vergrößertes Herz, sondern um verschiedene strukturelle Veränderungen des Herzmuskels.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Original-Version des Abstracts: Link (archiviert)
- überarbeitete Version des Abstracts: Link (archiviert)
- Expression of Concern durch die American Heart Association: Link (archiviert)
- Studie aus Frankreich „Myocardial Infarction, Stroke, and Pulmonary Embolism After BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine in People Aged 75 Years or Older“, JAMA (22. November 2021): Link
- Studie aus Israel „Safety of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine in a Nationwide Setting“, NEJM (16. September 2021): Link