Faktencheck

Tschernobyl: Nach Einnahme durch russische Truppen wurde erhöhte Strahlung gemessen – laut Experten besteht aber keine Gefahr

Nachdem russische Truppen die Anlage des ehemaligen Kernkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl eingenommen haben, wird in Sozialen Netzwerken über eine angeblich stark erhöhte radioaktive Strahlung diskutiert. Nach Ansicht von Experten besteht jedoch keine Gefahr.

von Marc Steinau

Ein Radarsystem aus der Sowjet-Zeit hinter einem Radioaktivistätsschild in Tschernobyl. Das Kraftwerksgelände in Tschernobyl wurde am 24. Februar 2022 von russischen Truppen eingenommen (Credit: Picture Alliance / Associated Press / Efrem Lukatsky)
Ein Radarsystem aus der Sowjet-Zeit hinter einem Radioaktivistätsschild in Tschernobyl. Das Kraftwerksgelände in Tschernobyl wurde am 24. Februar 2022 von russischen Truppen eingenommen (Credit: Picture Alliance / Associated Press / Efrem Lukatsky)
Behauptung
Am Atomkraftwerk in Tschernobyl sei stark erhöhte radioaktive Strahlung gemessen worden.
Bewertung
Größtenteils richtig
Über diese Bewertung
Größtenteils richtig. Experten halten es für plausibel, dass die Truppenbewegungen zu erhöhter radioaktiver Strahlung geführt haben. Doch weder vor Ort, noch in Deutschland besteht Experten zufolge dadurch Gefahr für Menschen.

Hinweis: Dieser Faktencheck stellt die Lage und unsere Kenntnisse bis zum 7. März 2022 dar.

Am Morgen des 24. Februar 2022 haben russische Truppen das Areal um das stillgelegte Kernkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl eingenommen. Dort ereignete sich 1986 eine Nuklearkatastrophe.

In Sozialen Netzwerken, etwa auf Twitter und Telegram, wurde daraufhin behauptet, die gemessene radioaktive Strahlung auf dem Areal sei stark erhöht und alarmierend gestiegen. 

Experten halten die erhöhten Strahlenwerte in Tschernobyl für plausibel und führen sie auf Truppenbewegungen zurück. Es bestehe derzeit jedoch keine Gefahr – weder für Menschen in Deutschland, noch für Menschen direkt vor Ort. 

Manipulationen oder Fehlmessungen können nicht ausgeschlossen werden

Nach der Einnahme des stillgelegten Kernkraftwerks durch russische Truppen, berichteten Medien, dass vor Ort erhöhte Strahlenwerte gemessen worden seien.

Am 25. Februar habe das staatliche ukrainische Messnetz Medo innerhalb der Sperrzone des Reaktorgeländes einen Anstieg von 3000 auf zirka 93.000 Nanosievert pro Stunde verzeichnet, schrieb die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Da die Internetseite des Medo aktuell nicht mehr erreichbar ist, konnten wir diese Angaben nicht überprüfen. Aber zur Einordnung: In Deutschland nimmt eine Person laut Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) pro Jahr je nach Wohnort 100.000 bis 1 Million Nanosievert natürliche Strahlung auf. Ist man über einen längeren Zeitraum erhöhter Strahlung ausgesetzt, erhöht sich die Krebsgefahr.  

Die staatliche Nuklearaufsichtsbehörde der Ukraine (SNRIU) schrieb am 25. Februar von einer „Überschreitung der Kontrollwerte“, nannte aber keine genauen Zahlen. Als Grund gab die Behörde an, dass schwere Militärfahrzeuge Staub und Erde aufgewirbelt hätten. Die Daten lassen sich derzeit nicht von unabhängiger Seite überprüfen. Das BfS hält erhöhte Werte für möglich, weist in einer Lageeinschätzung (Stand 4. März) aber darauf hin, dass man „Datenmanipulation, fehlerhafte Messungen aufgrund elektromagnetischer Störungen oder fehlerhafte Übermittlung“ nicht ausschließen könne. 

Experten sehen keine direkte Gefahr durch erhöhte radioaktive Strahlenwerte in Tschernobyl

Wir haben mit Experten der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) und des Deutschen Wetterdienstes (DWD) über die Meldungen zu den erhöhten Strahlenwerten gesprochen. Alle halten sie für glaubwürdig, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass von der Strahlung außerhalb des Reaktorgeländes keine Gefahr ausgehe. 

Thorsten Stahl, Leiter der Abteilung Strahlen- und Umweltschutz bei der GRS, erklärt: „Durch den Einsatz von schweren Militärfahrzeugen wurden auf dem Gelände Nuklide aufgewirbelt. Dadurch kam es offenbar zu erhöhten Messwerten in der Umgebung.“ Radioaktive Nuklide sind instabile Atome, deren Kerne radioaktiv zerfallen. Die zwischenzeitlich gemeldeten Höchstwerte von 93.000 Nanosievert beträfen ausschließlich die Sperrzone, erklärt Stahl. Diese wurde 1986 in einem Radius von 30 Kilometern um den havarierten Reaktorblock errichtet und ist nicht öffentlich zugänglich. Auf Deutschland habe die erhöhte radioaktive Strahlung keine Auswirkung, so Stahl.

Uwe Kirsche, Sprecher des DWD, teilt diese Einschätzung. „Wir überwachen die entsprechende Situation weiterhin. Sollte es Messungen oder Hinweise auf Emissionsquellen geben, die auch Deutschland erreichen könnten, werden vom DWD Ausbreitungsrechnungen durchgeführt.“

Sebastian Stransky, Leiter der Abteilung Internationale Projekte der GRS, sagt, über größere Kämpfe und Zerstörungen am Kraftwerksgelände in Tschernobyl sei nichts bekannt. Die GRS sei  in direktem Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen ukrainischer Behörden. „Demnach ist die Lage stabil und die Betriebsmannschaft ist weiter im Dienst und arbeitet unter russischer Kontrolle.“ Auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) meldet unter Verweis auf ukrainische Behörden, dass es bislang keine Beschädigungen oder Kriegsopfer innerhalb der Sperrzone gebe.

Keine Einnahme von Jodtabletten notwendig

In Sozialen Netzwerken wurde infolge der Berichte über die erhöhten Strahlenwerte auch eine prophylaktische Einnahme von Jodtabletten diskutiert. Das BfS sieht keinen Grund zur Einnahme von Jodtabletten in Deutschland.

Reiner Kern, Sprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), sagt, es gebe in den Apotheken vereinzelt eine erhöhte Nachfrage nach hochdosierten Kaliumiodid-Tabletten. Die Tabletten sollen die Schilddrüse davor bewahren, radioaktive Strahlung aufzunehmen – wenn man dieser in hohem Maße unmittelbarer ausgesetzt ist. „Es ist aber Unsinn, nun Jodtabletten zu horten. Die für Katastrophenschutz zuständigen Behörden geben diese im Notfall an die Bevölkerung aus“, erklärt Kern.

Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Russland-Ukraine-Krieg finden Sie hier.

Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Lageeinschätzung des Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) zur Ukraine, wird regelmäßig aktualisiert: Link
  • Informationen zur kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine, Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), Stand 7. März: Link
  • Mitteilung zur Situation in der Ukraine, Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), 24. Februar 2022: Link