Faktencheck

Nein, diese Grafik belegt nicht, dass es in den vergangenen 9.500 Jahren fast immer wärmer war als jetzt

Immer wieder nutzen Klimawandel-Skeptiker eine mehr als 20 Jahre alte Grafik, um vermeintlich zu belegen, dass es in den vergangenen Jahrtausenden fast immer wärmer gewesen sei als jetzt. Doch die Grafik wird in einem völlig falschen Kontext verbreitet – und dass der aktuelle Anstieg der globalen Mitteltemperatur die Entwicklung der vergangenen zehntausend Jahre übersteigt, ist wissenschaftlich belegt.

von Uschi Jonas

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Diese Grafik wird immer wieder genutzt, um Zweifel an der globalen Erwärmung zu säen – doch sie wird in einen falschen Kontext gesetzt (Quelle: Twitter; Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)
Behauptung
Eine Grafik belege, dass es in den letzten 9.500 Jahren fast immer wärmer gewesen sei als jetzt. Der Klimawandel sei weder neu, noch menschengemacht.
Bewertung
Falscher Kontext
Über diese Bewertung
Falscher Kontext. Die mehr als 20 Jahre alte Grafik zeigt aus einem grönländischen Eisbohrkern rekonstruierte Daten, die allein betrachtet keinerlei Rückschlüsse auf die weltweite Temperaturentwicklung zulassen. Zudem endet die Grafik im Jahr 1885 – noch bevor die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels auftraten. Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Temperaturen der letzten Jahre höher sind als fast während des gesamten Holozäns. Auch die globale Erwärmung in Folge der durch Menschen verursachten Treibhausgasemissionen ist belegt.

„In den letzten 9.500 Jahren war es fast immer wärmer als jetzt (…) Die Mär vom menschengemachten Klimawandel ist der größte Betrug aller Zeiten“, behauptete ein Twitter-Nutzer am 19. November zu einer Grafik, die Temperaturentwicklungen zeigt. Auf der Grafik heißt es zudem, „die aktuellen globalen Temperaturen befinden sich am unteren Ende der historischen Werte“. Der Tweet wurde rund 2.500 Mal geteilt. Auch Markus Krall,, ehemaliger Geschäftsführer des Goldhändlers Degussa und Medienberichten zufolge Verbreiter von rechten Thesen und Untergangsprophezeiungen, twitterte die Grafik am 5. Dezember und schrieb dazu: „Die Temperaturentwicklung der letzten 9.500 Jahre. (…) Klimawandel gibt es, nur ist er weder neu, noch menschengemacht“. Dieser Beitrag wurde fast 3.000 Mal geteilt. 

Anders als behauptet, zeigt die Grafik jedoch nicht die globale Temperaturentwicklung der vergangenen 9.500 Jahre, sondern die rekonstruierte lokale Temperaturentwicklung aus einem Eisbohrkern in Grönland – und das auch nur bis zum Jahr 1885. Die aktuelle mittlere globale Oberflächentemperatur ist höher als fast in den gesamten vergangenen 9.500 Jahren.

Daten von einzelnem Eisbohrkern lassen keine Rückschlüsse auf globale Temperaturentwicklung zu

Eine Google-Suche nach dem Titel der Grafik („Climate History Over 9,500 years“ R. B. Alley) führt nicht zum Ursprung der Grafik, aber zu einem Faktencheck der australischen Presseagentur AAP von Juli 2022. Richard B. Alley ist ein US-amerikanischer Geowissenschaftler an der Pennsylvania State University. Gegenüber AAP bezeichnete er die Grafik als „Zombie, der einfach nicht sterben will“, weil die Grafik seit Jahren international kursiert und von Klimawandel-Skeptikern immer wieder missbräuchlich interpretiert wird. Bereits im Februar 2010 berichtete die New York Times darüber, 2019 die Webseite Carbon Brief. Es sei „wissenschaftlich [nicht] sinnvoll“, mit den Daten aus der Grafik gegen die globale Erwärmung zu argumentieren, so Alley gegenüber der New York Times.

Die Daten für das Diagramm stammen aus einem Eisbohrkern des Greenland Ice Sheet Project 2 (GISP2), das von der U.S. National Science Foundation initiiert wurde und 1988 begann. Ab 1993 konnte ein Eiskern aus mehr als 3.000 Meter Tiefe gewonnen werden. Dessen Daten wurden beispielsweise 1997 von dem Geographen Kurt Cuffey und dem Geophysiker Gary Clow für einen wissenschaftlichen Artikel im Journal of Geophysical Research analysiert; Richard B. Alley nutzte die Daten dann im Jahr 2000 für einen Aufsatz, der in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America veröffentlicht wurde.

Die Arbeiten beschäftigten sich mit klimatischen Veränderungen während der letzten Eiszeit und dem Start der aktuellen Warmzeit (dem sogenannten Holozän), die vor 11.000 Jahren begann. 2010 erklärte Alley der New York Times, dass eine einzelne Temperaturaufzeichnung (in diesem Fall des Eisbohrkerns) von einem bestimmten Ort die globale Erwärmung weder beweisen noch widerlegen könne. Zudem endet die Grafik im Jahr 1885. Über das „Jetzt“ sagen die Daten des Eisbohrkerns also nichts aus. 

Temperaturen der vergangenen 10.000 Jahre lassen sich nur indirekt rekonstruieren

Für die vergangenen rund 170 Jahre gibt es meteorologische Messdaten, über die sich die Entwicklung des Klimas beschreiben lässt. Für alles, was davor geschah, gibt es teilweise lückenhafte historische Aufzeichnungen (circa für die letzten 3.000 Jahre), die die Wissenschaft in der Klimaforschung unterstützen. Für alles, was noch länger zurückliegt, müssen Klimadaten indirekt rekonstruiert werden.

Dabei helfen sogenannte natürliche Klimaarchive wie Eisbohrkerne, Baumringe oder Meeressedimente. Darin sind indirekte klimarelevante Daten, sogenannte Proxydaten, gespeichert. Mit Hilfe statistischer Methoden lassen sich daraus Rückschlüsse zum Beispiel auf Niederschläge oder die Temperaturentwicklung in einem bestimmten Zeitraum ziehen. So lässt sich aus Eisbohrkernen zwar nicht direkt die Temperatur ableiten, aber zum Beispiel das Sauerstoffisotop 18O messen, das wiederum mit der Temperatur korreliert. Dieser Forschungsbereich, der sich mit der Klima-Vergangenheit der Erde befasst, heißt Paläoklimatologie.

Der Zusammenhang zwischen Proxydaten und den daraus ableitbaren Klimaveränderungen wird ständig weiter präzisiert. Da inzwischen genaueres Wissen dazu existiert, wie das Sauerstoffisotop 18O mit der Temperatur korreliert, entsprechen die Analysemethoden des Eisbohrkerns GISP2 aus den 1990ern nicht mehr dem heutigen Stand der Wissenschaft, wie Carbon Brief schildert.  Forschende, die die Temperaturen der vergangenen Jahrtausende in Grönland rekonstruieren, verwenden heutzutage zudem verschiedene Eisbohrkerne von unterschiedlichen Orten, um Unsicherheiten in den Daten einzelner Kerne zu verringern. So entsteht ein genaueres Bild. Auch Alley sagte gegenüber der New York Times, dass die Daten des GISP2-Eisbohrkerns nur gemeinsam mit anderen grönländischen Eisbohrkernen und im Vergleich zu zusätzlichen Aufzeichnungen von anderen Regionen der Erde aussagekräftig seien.

Seit 1990 zeigt sich die globale Erwärmung in Folge der durch Menschen verursachten Emissionen 

Die Tatsache, dass die globale Erwärmung der vergangenen Jahrzehnte nicht natürlich ist, sondern menschengemacht, gilt als wissenschaftlich belegt. Marie-Luise Beck, Geschäftsführerin des Vereins Deutsches Klima-Konsortium (DKK), schrieb uns für einen Faktencheck im Juli: „[D]ie globale Erwärmung (als Reaktion auf den seit Mitte 1850 erfolgten CO2-Ausstoß) ist im Wesentlichen ab 1990 erfolgt“. Davor habe man den anthropogenen, sprich durch den Menschen verursachten Temperaturanstieg von der natürlichen Klimavariabilität nicht unterscheiden können.

Wie eine aktuelle Grafik des Deutschen Klima-Konsortiums zeigt, sind die globalen mittleren Temperaturen in den vergangenen 150 Jahren rasant angestiegen, was laut DKK beispiellos in der menschlichen Zivilisationsgeschichte ist. Ergänzend heißt es dazu: „Ein solches Temperaturniveau gab es laut den verfügbaren paläoklimatischen Daten noch nie während der vergangenen 2.000 Jahre und sehr wahrscheinlich auch nie während der gegenwärtigen Warmzeit (dem Holozän).“

Eine Grafik mit dem Temperaturwandel im Holozän, in der auch der aktuelle Anstieg der Temperaturen abgebildet ist
Aktuelle Grafik mit Rekonstruktionen und Messdaten der globalen Mitteltemperaturen im Holozän: Laut des DKK sei die globale Erwärmung um 1,1 Grad in den vergangenen 150 Jahren beispiellos in der menschlichen Zivilisationsgeschichte. (Quelle: Deutsches Klima-Konsortium; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Studien belegen, dass die Temperaturen der letzten Jahre höher sind als fast während des gesamten Holozäns

Zahlreiche Studien belegen das. Eine 2013 im Science-Magazin veröffentlichte Studie beispielsweise rekonstruierte die globalen mittleren Oberflächentemperaturen mithilfe von land- und meeresbasierten Proxydaten aus der ganzen Welt und kam zu dem Schluss, dass die Temperaturen heute „höher sind als während 90 Prozent des gesamten Holozäns“.

Eine 2020 in der wissenschaftlichen Zeitschrift Scientific Data veröffentlichte Studie ergab, dass die wärmste Periode während des Holozäns im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung 6.500 Jahre zurückliegt. Die globale Durchschnittstemperatur war damals rund 0,7 Grad wärmer als im 19. Jahrhundert. Doch im vergangenen Jahrzehnt zwischen 2011 und 2019 war die Durchschnittstemperatur um 1 Grad Celsius höher als im 19. Jahrhundert. Für den Großteil der genutzten Analysemethoden ergab die Studie, dass die jüngsten Temperaturen höher waren als während des gesamten Holozäns.

In einer Studie aus dem Jahr 2021, die im Nature-Magazin veröffentlicht wurde, wurden die durchschnittlichen globalen Oberflächentemperaturen der letzten 24.000 Jahre rekonstruiert. Im Rahmen ihrer Analyse stellten die Forschenden fest, dass das Ausmaß der heutigen Erwärmung im Vergleich zu natürlichen Klimaschwankungen der vergangenen 24.000 Jahre ungewöhnlich hoch ist.

Auch der aktuelle Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – ein von den Vereinten Nationen ins Leben gerufener zwischenstaatliche Ausschuss, in dem hunderte von Expertinnen und Experten den wissenschaftlichen Forschungsstand zum Klimawandel zusammenfassen – kommt zu dem Ergebnis (PDF, S. 11): Der menschliche Einfluss habe das Klima in einem Maße erwärmt, wie es seit mindestens 2.000 Jahren nicht mehr der Fall gewesen sei.

Der schnelle und synchrone Anstieg der globalen mittleren Temperaturen im 20. Jahrhundert ist einmalig im Holozän 

Vergangene warme Phasen dienen immer wieder als Argument gegen den menschengemachten Klimawandel. Suggeriert wird damit, der aktuelle Klimawandel basiere hauptsächlich auf natürlichen Einflüssen und würde sich von allein regulieren. Dabei unterscheiden sich diese Phasen von der aktuellen globalen Erwärmung in mehreren Aspekten.

Laut dem IPCC (PDF, S. 3) hätten warme Phasen während der letzten 2.000 Jahre häufig nur bestimmte Regionen betroffen. Während des Mittelalters, zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert, erwärmte sich beispielsweise die Nordhalbkugel stärker als andere Regionen – bei der aktuellen Erwärmung handele es sich dagegen um ein zeitgleich stattfindendes globales Phänomen. Der aktuelle Anstieg der globalen Temperaturen vollziehe sich zudem viel schneller und drastischer als bei vergangenen natürlichen Klimaveränderungen. 

Der starke Anstieg der globalen Temperaturen lasse sich über natürliche Einflüsse allein nicht erklären, schreibt das IPCC (PDF, S. 3). Er ist vor allem durch den menschlichen Ausstoß von Treibhausgasen bedingt, wie wir auch in einem Faktencheck im Juni 2021 erklärten.

Eine Grafik mit Daten von Klimamodellsimulationen, die zeigt, dass der aktuelle Anstieg nicht auf natürlichen Faktoren basiert
Klimamodellsimulationen, die menschliche und natürliche Einflüsse auf das Klima für ihre Berechnungen nutzen (grauer Bereich), stimmen mit aktuellen Messungen der globalen Durchschnittstemperatur überein. Modellsimulationen, die nur natürlichen Faktoren miteinbeziehen (grüner Bereich), liegen deutlich unter den Messungen. (Quelle: IPCC Sixth Assessment Report: Working Group 1: The Physical Science Basis. FAQ Chapter 3 (S. 4), Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Ob die globalen Temperaturen zu irgendeinem Zeitpunkt während der aktuellen Warmzeit höher oder niedriger waren als die aktuellen, sei aus wissenschaftlicher Sicht demnach gar nicht so entscheidend, betont der Klimatologe Stefan Rahmstorf in einem Blogbeitrag. „Entscheidend ist vielmehr, dass der rasche Anstieg im 20. Jahrhundert im ganzen Holozän einmalig ist.“

Fazit: Die gezeigte Grafik zeigt lediglich 1997 rekonstruierte Temperaturdaten aus einem einzelnen Eisbohrkern aus Grönland, aus dem sich keine Rückschlüsse auf die globale Temperaturentwicklung ziehen lassen. Außerdem enden die Daten im Jahr 1885 – die Folgen der durch den Menschen verursachten Treibhausgasemissionen auf die Temperaturentwicklung zeigen sich jedoch erst seit dem Jahr 1990.

Redigatur: Mathias Bau, Paulina Thom

Update 29. Dezember 2022: Nach einem Leserhinweis haben wir die Schreibweise des Sauerstoffisotops 18O korrigiert.

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • New York Times-Artikel von Februar 2010: Link (Englisch)
  • Carbon Brief-Artikel von 2019: Link (Englisch)
  • AAP-Faktencheck von Juli 2022: Link (Englisch)
  • IPPC-Bericht „Klimawandel 2021. Naturwissenschaftliche Grundlagen. Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung“ von 2021: Link
  • Blog-Beitrag „Paläoklima: Das ganze Holozän“ von 2013 von Stefan Rahmstorf: Link
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