Faktencheck

Klimawandel: Grafik über die Temperaturen der letzten 11.000 Jahre führt in die Irre

Mit einer Grafik über den Temperaturwandel der letzten 11.000 Jahre wird in Sozialen Netzwerken angezweifelt, dass der Mensch einen Einfluss auf das Klima habe. Aber das lässt sich aus der Darstellung nicht ableiten: Sie skizziert nur den lokalen Temperaturwandel im Nordwesten Grönlands bis in die 1960er Jahre und vernachlässigt demnach eine entscheidende Phase der vom Menschen beeinflussten globalen Erwärmung.

von Paulina Thom

Klimawandel Holozän Titelbild
Eine irreführende Grafik zum Klimawandel kursiert seit 2013 in Sozialen Netzwerken und wird auch aktuell wieder geteilt (Quelle: Facebook; Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)
Behauptung
Eine Grafik zeige, dass es vor etwa 4.000 bis 8.000 Jahren Phasen mit höheren Temperaturen als heute gegeben habe. Da der Mensch damals noch keinen Einfluss auf das Klima gehabt haben könne, wird suggeriert, dass es diesen Einfluss auch aktuell nicht gebe.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Die Grafik widerlegt nicht den menschengemachten Klimawandel. Es handelt sich um eine händische Skizze von 1995, die auf Daten eines Eisbohrkerns aus den 1960er Jahren basiert. Sie enthält demnach nicht den rasanten Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur seit den 1990er Jahren, der laut Klimaforschenden in der aktuellen Warmzeit beispiellos ist.

Seit Jahren taucht in Sozialen Netzwerken eine Grafik zum Temperaturwandel während des Holozäns auf, die auch aktuell wieder geteilt wird. Das Holozän ist die aktuelle Warmzeit, in der wir leben und die seit 11.000 bis 12.000 Jahren andauert. Die Grafik soll belegen, dass es in dieser Epoche Temperaturanstiege gegeben habe, die wesentlich stärker ausfielen als die aktuellen. Suggeriert wird damit, dass es keinen nennenswerten menschlichen Einfluss auf den Klimawandel geben könne.  

Doch die Grafik ist aus dem Kontext gerissen und wird irreführend verwendet: Sie stammt aus einem Buch für Studierende aus dem Jahr 1995. Es handelt sich um eine händische Skizze, die auf den Daten eines der ersten Eisbohrkerne aus den 1960er Jahren aus Grönland basiert. Die Daten der Grafik reichen also nicht bis in die aktuelle Zeit, sondern nur bis in die 1960er Jahre. Demnach bilden sie den starken globalen Temperaturanstieg, der vor allem seit den 1990er Jahren stattfindet, nicht ab.

Screenshot eines Facebook-Beitrages mit der Grafik
Der Klimaforscher Christian-Dietrich Schönwiese, der als Quelle in der Grafik unten links genannt ist, bestätigte, dass er sie 1995 für ein Lehrbuch skizziert habe (Quelle: Facebook; Screenshot, Schwärzung und grüne Hervorhebung: CORRECTIV.Faktencheck)

Grafik stammt aus einem Lehrbuch für Studierende von 1995 

Unter der Grafik sind als Quellen zwei Namen und zwei Jahreszahlen angegeben: Dansgaard 1969 und Schönwiese 1995. Willi Dansgaard war ein dänischer Paläoklimatologe, der in den 1960er Jahren einen Eisbohrkern vom Camp Century im Nordwesten Grönlands untersuchte. Christian-Dietrich Schönwiese ist ein deutscher Klimaforscher. 

Eine Googlesuche der beiden Namen führt zu einem Blogbeitrag des Klimaforschers Stefan Rahmstorf, der sich bereits 2019 mit den Zusammenhängen der Grafik beschäftigte. Schönwiese bestätigte ihm, dass er die Grafik anhand der Daten von Dansgaard per Hand schematisch für ein Lehrbuch 1995 skizziert habe. 

Die Daten der Grafik zum Temperaturwandel enden in den 1960er Jahren

Eisbohrkerne sind Klimaarchive: Aus der Zusammensetzung des Jahrtausende alten Eises lassen sich Daten über klimatische Entwicklungen in der Vergangenheit gewinnen, beispielsweise über die Sonnenaktivität oder Temperaturen. Da der Eisbohrkern vom Camp Century von 1960 bis 1966 gebohrt wurde, kann er aber ausschließlich Informationen über das Klima bis zu diesem Zeitpunkt liefern. Das Jahr Null in dem Diagramm entspricht also maximal dem Jahr 1966. Informationen über klimatische Entwicklungen seit den 1960er Jahren sind in der Grafik von Schönwiese demnach nicht enthalten. 

Aber gerade diese Phase ist für das Verständnis des menschengemachten Klimawandels entscheidend. Marie-Luise Beck, Geschäftsführerin des Vereins Deutsches Klima-Konsortium (DKK), schrieb uns dazu auf Anfrage: „[D]ie globale Erwärmung (als Reaktion auf den seit Mitte 1850 erfolgten CO2-Ausstoß) ist im Wesentlichen ab 1990 erfolgt. Davor konnte man den anthropogenen [durch den Menschen verursachten, Anm. d. Red.] Temperaturanstieg von der natürlichen Klimavariabilität nicht unterscheiden.“ 

Grafik zeigt nicht den globalen sondern den lokalen Temperaturwandel im Nordwesten Grönlands

Es gibt einen weiteren Punkt, der die Aussagekraft der Grafik beschränkt: Wie in der Beschriftung des Diagramms zu lesen ist, soll es die „bodennahen nordhemisphärischen Mitteltemperaturen“ darstellen. „Der Klimawandel ist aber ein globales Phänomen“, schrieb uns Beck. Regionale Warm- und Kaltperioden habe es immer gegeben. „Worum es aber heute geht, das ist die Veränderung der globalen Mitteltemperatur. Das ist etwas völlig anderes.“

Auch Stefan Rahmstorf weist in seinem Blogbeitrag darauf hin, dass die aus dem Eisbohrkern in Grönland gewonnenen Daten nicht globale, sondern lokale Temperaturveränderungen wiedergeben. Bereits durch den Vergleich der lokalen Durchschnittstemperaturen fällt jedoch auf: Seit den 1960er Jahren seien die Temperaturen im Nordwesten Grönlands um 1,5 Grad gestiegen. 

Aktuelle Grafiken zeigen den rasanten Anstieg der globalen Mitteltemperaturen seit 1850 

Dass dieser Trend nicht nur den Nordwesten Grönlands betrifft, zeigen aktuellere Grafiken zur globalen Temperaturentwicklung. Direkte Messdaten existieren zwar erst seit etwa 1850, doch mittels sogenannter Proxydaten lassen sich auch Temperaturen für frühere Zeiträume rekonstruieren. Proxydaten sind indirekte Anzeiger des Klimas aus natürlichen Archiven wie beispielsweise Eisbohrkernen, Baumringen oder Tiefseeablagerungen. 

Eine Grafik mit dem Temperaturwandel im Holozän, in der auch der aktuelle Anstieg der Temperaturen abgebildet ist
Aktuelle Grafik mit Rekonstruktionen und Messdaten der globalen Mitteltemperaturen im Holozän: Laut des DKK sei die globale Erwärmung um 1,1 Grad in den vergangenen 150 Jahren beispiellos in der menschlichen Zivilisationsgeschichte. (Quelle: Deutsches Klima-Konsortium; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Wie die aktuelle Grafik des Deutschen Klima-Konsortiums zeigt, sind die globalen mittleren Temperaturen in den vergangenen 150 Jahren rasant angestiegen. Dies ist laut DKK beispiellos in der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Ergänzend heißt es dazu auf der Webseite: „Ein solches Temperaturniveau gab es laut den verfügbaren paläoklimatischen Daten noch nie während der vergangenen 2.000 Jahre und sehr wahrscheinlich auch nie während der gegenwärtigen Warmzeit (dem Holozän).“ 

Auch der aktuelle Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – eine von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene Institution, in der hunderte von Fachleuten den wissenschaftlichen Forschungsstand zum Klimawandel zusammenfassen – kommt zu dem Ergebnis (PDF, S. 11): Der menschliche Einfluss habe das Klima in einem Maße erwärmt, wie es seit mindestens 2.000 Jahren nicht mehr der Fall gewesen sei.

Der schnelle und synchrone Anstieg der globalen mittleren Temperaturen im 20. Jahrhundert ist einmalig im Holozän 

Vergangene warme Phasen dienen immer wieder als Argument gegen den menschengemachten Klimawandel. Suggeriert wird damit, der aktuelle Klimawandel basiere hauptsächlich auf natürlichen Einflüssen und würde sich von allein regulieren. Dabei unterscheiden sich diese Phasen von der aktuellen globalen Erwärmung in mehreren Aspekten.

Laut dem IPCC (PDF, S. 3) hätten warme Phasen während der letzten 2.000 Jahre häufig nur bestimmte Regionen betroffen. Während des Mittelalters, zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert, erwärmte sich beispielsweise die Nordhalbkugel stärker als andere Regionen – bei der aktuellen Erwärmung handele es sich dagegen um ein zeitgleich stattfindendes globales Phänomen. Der aktuelle Anstieg der globalen Temperaturen vollziehe sich zudem viel schneller und drastischer als bei vergangenen natürlichen Klimaveränderungen. 

Der starke Anstieg der globalen Temperaturen lasse sich über natürliche Einflüsse allein nicht erklären, schreibt das IPCC (PDF, S. 3). Er ist vor allem durch den menschlichen Ausstoß von Treibhausgasen bedingt, wie wir auch in einem Faktencheck im Juni 2021 erklärten. 

Eine Grafik mit Daten von Klimamodellsimulationen, die zeigt, dass der aktuelle Anstieg nicht auf natürlichen Faktoren basiert
Klimamodellsimulationen, die menschliche und natürliche Einflüsse auf das Klima für ihre Berechnungen nutzen (grauer Bereich), stimmen mit aktuellen Messungen der globalen Durchschnittstemperatur überein. Modellsimulationen, die nur natürlichen Faktoren miteinbeziehen (grüner Bereich), liegen deutlich unter den Messungen. (Quelle: IPCC Sixth Assessment Report: Working Group 1: The Physical Science Basis. FAQ Chapter 3 (S. 4), Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Ob die globalen Temperaturen zu irgendeinem Zeitpunkt während der aktuellen Warmzeit höher oder niedriger waren als die aktuellen, sei aus wissenschaftlicher Sicht demnach gar nicht so entscheidend, betont der Klimatologe Stefan Rahmstorf in einem weiteren Blogbeitrag. „Entscheidend ist vielmehr, dass der rasche Anstieg im 20. Jahrhundert im ganzen Holozän einmalig ist.“

Fazit: Die Grafik wird irreführend verwendet. Sie ist kein Beleg dafür, dass der Mensch keinen Einfluss auf das Klima habe. Es handelt sich um eine händische Skizze auf Grundlage von Daten eines grönländischen Eisbohrkerns aus den 1960er Jahren. Die Grafik zeigt daher nur den lokalen Temperaturwandel bis zu diesem Zeitpunkt an. Der Wandel der globalen Temperatur und insbesondere ihr rasanter Anstieg nach 1960 sind in der Grafik demnach nicht enthalten. 

Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Blogbeitrag des Klimaforschers Stefan Rahmstorf über die Grafik, 20. März 2019: Link 
  • Blogbeitrag des Klimaforschers Stefan Rahmstorf über die Klimaentwicklung im Holozän, 17. Juni 2013: Link
  • Was wir heute übers Klima wissen: Basisfakten zum Klimawandel, die in der Wissenschaft unumstritten sind, unter anderem herausgegeben vom Deutschen Klima Konsortium, Juni 2021: Link (PDF)
  • Klimawandel 2021: Naturwissenschaftliche Grundlagen, IPCC, Februar 2022: Link (PDF)
  • Frequently Asked Questions: „The Earth’s Temperature Has Varied Before. How Is the Current Warming Any Different“ (FAQ 2.1), IPCC, Februar 2022: Link (PDF)
  • Frequently Asked Questions: „How Do We Know Humans Are Responsible for Climate Change?“ (FAQ 3.1), Februar 2022: Link (PDF)