Faktencheck

Abschmelzen der Alpengletscher vor 1.000 Jahren widerspricht nicht dem menschengemachten Klimawandel

Der AfD-Politiker Harald Laatsch verbreitet auf Facebook eine Video-Simulation, die die Entwicklung der Alpengletscher zeigt. Weil diese bereits vor 1.000 Jahren stark geschmolzen seien, sei ein Einfluss der „industriellen Revolution“ nicht plausibel, suggeriert Laatsch. Vier Forscher widersprechen: Vom Menschen verursachte Treibhausgase seien eindeutig für den Klimawandel verantwortlich und die Geschwindigkeit der Gletscherschmelze derzeit einzigartig.

von Paulina Thom

Alpengletscher
Dass Gletscher in vergangenen warmen Phasen klein waren, bedeutet nicht, dass der Mensch keinen Einfluss auf das Klima hat. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der aktuellen Gletscherschmelze unterscheiden sich von früheren Entwicklungen. (Symbolbild: Unsplash / Angelo Burgener)
Behauptung
Eine Simulation der Entwicklung der Gletscher in den Alpen zeige, dass sie bereits vor 1.000 Jahren sehr klein gewesen seien. Das widerspreche einem Einfluss der industriellen Revolution, also des Menschen, auf das Klima.
Bewertung
Falsch. Der Rückgang der Gletscher in den Alpen vor 1.000 Jahren wurde durch eine natürliche Warmphase verursacht. Das widerspricht nicht dem menschengemachten Klimawandel. Dieser wird durch Treibhausgas-Emissionen verursacht. Die aktuelle Geschwindigkeit der globalen Gletscherschmelze ist laut Experten einzigartig.

„So sahen übrigens die Alpengletscher vor 1.000 Jahren aus, falls euch jemand was von ‘wir werden alle sterben wegen der industriellen Revolution’ erzählen will”, schrieb der AfD-Politiker Harald Laatsch am 5. August auf Facebook. Dazu teilt er den Screenshot eines Videos, das die Veränderung der Alpengletscher in den letzten 120.000 Jahren simuliert. Auf dem Screenshot sind die Alpengletscher vor 1.040 Jahren lediglich als kleine weiße Flecken zu sehen. 

Harald Laatsch sitzt seit dem 27. Oktober 2016 für die AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin. Wir haben ihn kontaktiert und gefragt, ob er der Auffassung sei, dass der vom Menschen verursachte Ausstoß von Treibhausgasen keine Auswirkung auf den Klimawandel habe. Er antwortete uns: „Ich möchte genau das aussagen, was im Beitrag steht.“ In einem Kommentar unter seinem Facebook-Beitrag behauptete Laatsch: „Es gibt keinen einzigen Wissenschaftler, der einen menschengemachten Klimawandel belegen kann.“

Wir haben mit vier Forschern darüber gesprochen, welche Aussagekraft die Simulation hat, auf die sich Laatsch bezieht, und ob sich daraus etwas über den menschengemachten Klimawandel ableiten lässt. Ihre Einschätzung: Zwar stimmt es, dass die Alpengletscher in der Vergangenheit aufgrund natürlicher Einflüsse stark abgeschmolzen seien. Ein Widerspruch zum Einfluss des Menschen auf das Klima ist das aber nicht. Die hohe Geschwindigkeit und das Ausmaß der Gletscherschmelze seit etwa 1980 sei einzigartig. Dafür ist laut Forschenden hauptsächlich der menschengemachte Klimawandel mit Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. 

Screenshot des Beitrages auf Facebook mit der Simulation der Alpengletscher
Auf Facebook haben mehr als 2.500 Menschen den Beitrag von Harald Laatsch geteilt (Quelle: Facebook; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Video simuliert Veränderung der Alpengletscher in den letzten 120.000 Jahren

Der Screenshot, den Harald Laatsch verbreitet, stammt aus einem Video von 2018, das der Geowissenschaftler Julien Seguinot veröffentlicht hat. In dem Video ist eine Simulation zu sehen, die zeigen soll, wie sich die Alpengletscher über Jahrtausende ausbreiten und zurückgehen. In der Beschreibung heißt es: „Diese Animation ist der Versuch, die Evolution der Alpengletscher in den letzten 120.000 Jahren zu rekonstruieren.“ In die Animation sei Wissen über Gletscherphysik eingeflossen, welches auf Beobachtungen in Grönland und der Antarktis sowie Laborexperimenten beruhe. 

Wie genau die Animation zustande kam, geht aus der Studie „Modelling last glacial cycle ice dynamics in the Alps“ von Seguinot und weiteren Forschenden von 2018 hervor: Sie wurde mit dem sogenannten Parallel Ice Sheet Model (PISM) erstellt. PISM ist ein Open-Source-Programm, das von der Universität Alaska und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung entwickelt wurde. Mit dem Programm lassen sich vergangene und zukünftige Bewegungen von Gletschern und Eisschilden simulieren.  

Co-Autor: Simulation widerspricht dem menschengemachten Klimawandel nicht

Doch welche Aussagekraft hat die Simulation und lässt sich daraus ableiten, welche Rolle der menschliche Einfluss auf das Klima für die Entwicklung der Gletscher spielt?

Diese Frage wird auch unter dem Video auf der Plattform Vimeo diskutiert. Auf einen Nutzerkommentar antwortete der Forscher Julien Seguinot vor vier Jahren, es sei richtig, dass sich das Klima beständig ändere. Die aktuelle Konzentration von C02 in der Atmosphäre sei jedoch so hoch wie in den vergangenen drei Millionen Jahren nicht mehr. Damals habe es so gut wie kein Eis in Grönland gegeben und wesentlich weniger Eis in der Antarktis, der Meeresspiegel sei 20 Meter höher gewesen als heute, daher sei der Rückgang der Gletscher beunruhigend. Wir haben versucht, Seguinot zu kontaktieren, auf unsere Presseanfrage reagierte er nicht. 

Einer der Co-Autoren der Studie, Frank Preusser, antwortete uns jedoch. Er ist Geologe und Paläontologe am Institut für Geo- und Umweltnaturwissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er schrieb: „Ziel der Studie war es nie, konkrete Gletscherausdehnungen zu simulieren. Was gezeigt werden soll, ist die Eisdynamik auf längeren Zeitskalen.“ Den Klimawandel stelle die Simulation zudem nicht in Frage. Es sei „Unsinn, die Hinweise auf den Klimawandel mit einzelnen Archiven oder Zeitabschnitten widerlegen zu wollen. Das Gesamtbild ist ziemlich eindeutig und der Mechanismus ist klar: Wir haben den CO2-Gehalt der Atmosphäre auf ein Niveau gebracht, wo es in den letzten 800.000 Jahren nicht war“, so Preusser. 

Screenshot zeigt Alpengletscher während mittelalterlicher Warmphase

Der Glaziologe Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften schrieb uns, dass es vor etwa 1.000 Jahren eine „mittelalterliche Warmphase“ gegeben habe, in der es ungewöhnlich warm war – vermutlich mit ähnlichen Temperaturen wie heute. Exakt lasse sich dies aber nicht feststellen. 

Dasselbe teilte uns auch der Glaziologe Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung mit. Es handelte sich laut Eisen bei dieser Warmphase um eine regionale natürliche Klimaschwankung der Nordhalbkugel. Wie wir im Juli 2022 in einem Faktencheck erläuterten, werden solche vergangene Warmphasen immer wieder genutzt, um Zweifel am menschlichen Einfluss auf das Klima zu säen. 

Das starke Schmelzen der Gletscher in der Vergangenheit widerspreche aber nicht dem menschengemachten Klimawandel: „Seit circa der Mitte des 20. Jahrhunderts verzeichnen wir einen Rückgang der Gletscher in einem Ausmaß und in einer Geschwindigkeit, wie er uns aus der Vergangenheit unbekannt ist”, schrieb uns Olaf Eisen. 

Diese Entwicklung sei nicht nur regional, sondern global zu beobachten. Die letzten vier Jahrzehnte seien die vier wärmsten in den historischen Aufzeichnungen und „vermutlich auch seit mehreren tausend Jahren“ gewesen: „Unser sehr gutes Verständnis der Prozesse in der Atmosphäre lässt eindeutig den Schluss zu, dass dies auf die Treibhausgase CO2, CH4 [Methan, Anm. d. Red.] und N2O [Lachgas, Anm. d. Red.] zurückzuführen ist.“

Weitere Forscher bestätigen: Schmelze der Alpengletscher vor 1.000 Jahren widerspricht nicht dem menschengemachten Klimawandel

Ähnlich äußerte sich auch Mayer auf unsere Anfrage. Insbesondere die Geschwindigkeit der Gletscherschmelze sei ein Unterschied zur Vergangenheit. Früher benötigten Gletscher 500 Jahre, um abzuschmelzen. Heute geschehe dies innerhalb weniger Jahrzehnte. „Der menschliche Einfluss auf das Klima, den wir heute beobachten, hat eine viel stärkere Intensität und ist viel schneller.“ Seit etwa 150 Jahren seien die Temperaturen so schnell angestiegen, wie bisher noch in keiner Epoche zuvor, die aus Daten rekonstruiert werden konnte.

Das aktuelle Schmelzen der Gletscher sei eindeutig hauptsächlich durch menschlichen Einfluss verursacht, schrieb uns auch Ben Marzeion, Klimawissenschaftler an der Universität Bremen. Unklar sei lediglich, seit wann es diesen Effekt gebe, da Gletscher je nach Größe erst Jahrzehnte später auf Klimaänderungen reagierten. Marzeion hat jedoch in einer Studie gezeigt, dass der menschliche Einfluss sehr wahrscheinlich bereits seit 1850 der Hauptfaktor für die Gletscherschmelze ist. 

Wir haben den AfD-Politiker Harald Laatsch gefragt, wie er die Tatsache bewertet, dass Forschende die Gletscherschmelze in den vergangenen 150 Jahren in ihrer Geschwindigkeit als beispiellos ansehen und auf die Emission von Treibhausgasen durch den Menschen zurückführen. Er antwortete uns, seiner Ansicht nach sei die Klimaforschung durch das IPCC politisch gesteuert, um „das gewünschte Ergebnis“ zu liefern. Er teile „die Ziele der Dekarbonisierung“, aber diese müsse auf Basis von Forschung betrieben werden, die nicht durch Auftraggeber gesteuert werde. Wer diese Auftraggeber seien oder Belege für die von ihm unterstellte Steuerung nannte Laatsch nicht. 

In den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC, fassen hunderte von Fachleuten unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen den wissenschaftlichen Stand der Klimaforschung zusammen. Wie die Seite Klimafakten erläutert, hat die Arbeit des IPCC zwar eine politische Dimension, geschehe aber nach strengen wissenschaftlichen Standards. Die Berichte des IPCC stammten von ehrenamtlichen und unabhängigen Fachleuten. Für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die den aktuellen IPCC-Bericht verfasst haben, besteht kein Zweifel, dass der Mensch den größten Einfluss auf die aktuelle globale Erwärmung ausübt

Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Video der Simulation des Wachstums  der Alpengletscher: Link
  • Studie: „Modelling last glacial cycle ice dynamics in the Alps“, The Cryosphere, 10. Oktober 2018: Link
  • Frequently Asked Questions: „Verschwinden Gletscher aus den Bergregionen?“ (FAQ 4.2), IPCC, 2014, Link (PDF)
  • Studie: „On the attribution of industrial-era glacier mass loss to anthropogenic climate change“, The Cryosphere, 19. April 2021: Link
  • Frequently Asked Questions: „The Earth’s Temperature Has Varied Before. How Is the Current Warming Any Different“ (FAQ 2.1), IPCC, Februar 2022: Link (PDF)
  • Frequently Asked Questions: „How Do We Know Humans Are Responsible for Climate Change?“ (FAQ 3.1), Februar 2022: Link (PDF)