Faktencheck

Tiktok-Video interpretiert Studie über Suizidrisiko von Transpersonen falsch

Laut eines Tiktok-Videos belege eine Studie, dass mehr Transpersonen Suizidgedanken nach ihrer Transition hätten als davor. Auch Suizidversuche seien nach der Transition häufiger. Das stimmt nicht, die Studie wurde falsch interpretiert. Hinter dem Video steckt ein rechter Youtuber.

von Kimberly Nicolaus

International Women's Day in Rome, Italy - 08 Mar 2023
Eine Transgender-Flagge zur Feier des Internationalen Frauentags am 8. März 2023 in Rom. (Quelle: Vincenzo Nuzzolese / DPA / Picture Alliance)
Behauptung
Laut einer Studie sei die Zahl der Transpersonen, die Suizidgedanken hätten, nach ihrer Transition auf das letzte Jahr bezogen um 15 Prozent höher, als davor. Die Anzahl der Transpersonen, die einen Suizidversuch unternommen hätten, sei nach ihrer Transition mehr als doppelt so hoch.
Bewertung
Falsch. Die Ergebnisse der Studie werden falsch wiedergegeben. Die Studie lässt keine Rückschlüsse auf Unterschiede in Bezug auf Suizidgedanken und -versuche vor und nach der Transition zu, wie uns die Verantwortlichen der Studie bestätigten.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um Suizid. Wenn Sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen oder mit jemandem reden möchten, finden Sie hier Hilfe: Die Seelsorge per Telefon ist anonym und kostenlos unter 0800 1110111 erreichbar.

In einem Tiktok-Video berichtet eine Person über eine „schockierende Studie zu Transpersonen“. Das angebliche Ergebnis: Mehr Transpersonen hätten nach ihrer Transition Suizidgedanken als davor. Auch die Zahl der Suizidversuche steige nach der Transition. Das Video wurde über 6.000 Mal gesehen.  

Ein Blick in die Studie verrät: Die Studienergebnisse wurden falsch interpretiert, wie uns Noah Adams und Maaya Hitomi, die die Studie mitverfasst haben, auf Anfrage bestätigten. Die Studie lässt keine Rückschlüsse darüber zu, ob eine Transperson vor oder nach ihrer Transition mehr Suizidgedanken hatte oder versucht habe, Suizid zu begehen. 

Das Tiktok-Video ist ein Ausschnitt eines etwa 20-minütigen Youtube-Videos, das im August 2022 veröffentlicht wurde. Es verrät: Der Mann, der im TikTok-Video spricht, ist kein Unbekannter, sondern trat bereits im Youtube-Kanal „Die vulgäre Analyse” und unter dem Namen „Shlomo Finkelstein” in Sozialen Netzwerken auf. Er ist laut Medienberichten in der rechten Szene durch Videos, in denen der Koran verbrannt oder darauf Schweinefleisch gegrillt wird, bekannt geworden und entwarf ein Poster, das mit einer rassistischen Botschaft Stimmung gegen Muslime macht und in mehreren deutschen Städten hing. Die Kölner Oberstaatsanwaltschaft sucht per Haftbefehl nach ihm.  

Die angeblich „schockierende Studie“ lässt keine Rückschlüsse auf Unterschiede hinsichtlich Suizidgedanken oder Suizidversuchen bei Transpersonen vor und nach ihrer Transition zu (Quelle: Tiktok; Screenshot und Schwärzungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Studie zeigt nicht, dass mehr Transpersonen Suizidgedanken nach ihrer Transition hätten

Die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (PDF; Download) und Gendertreff e.V., eine Informations- und Austauschplattform, definieren Transition als den „Vorgang, das eigene Leben vom zugewiesenen [Geschlecht] auf das Identitätsgeschlecht umzustellen“. Damit sei das gesellschaftliche Coming-Out einer Person gemeint, aber auch der juristische Vorgang, den Vornamen und Personenstand zu ändern, oder der medizinische Eingriff, zum Beispiel eine geschlechtsangleichende Operation. 

Laut dem Tiktok-Video zeige ein Diagramm aus einer sogenannten Metastudie mit Ergebnissen aus 42 Studien folgendes: Die Zahl der Transpersonen, die Suizidgedanken hatten, sei nach ihrer Transition, auf das letzte Jahr bezogen, um 15 Prozent höher, als davor. Die Zahl der Transpersonen, die einen Suizidversuch begangen haben, sei nach ihrer Transition mehr als doppelt so hoch.  

Um die Angaben aus dem Tiktok-Video zu prüfen, haben wir die Studie mit den Stichworten „suicidality over a specific period“ – diese Worte sind in dem Video zu erkennen, als ein Balkendiagramm eingeblendet wird – und „transgender“ bei Google gesucht. So fanden wir die Studie mit dem Titel „Varied Reports of Adult Transgender Suicidality: Synthesizing and Describing the Peer-Reviewed and Gray Literature“, sie wurde im Jahr 2017 in der Fachzeitschrift Transgender Health veröffentlicht. 

Dass für die Studie Ergebnisse aus 42 Studien zusammengetragen wurden, ist richtig. Genauer gesagt werteten die Autorinnen und Autoren solche Studien aus, an denen mindestens fünf kanadische oder US-amerikanische Personen teilgenommen hatten und die zwischen 1997 und 2016 veröffentlicht wurden. Die geschätzte Zahl der Teilnehmenden, alle Studien zusammengetragen, liegt bei knapp 26.000 Transpersonen.

Mit der Studie sollte die Rate von Suizidgedanken und -versuchen unter Transpersonen ermittelt werden. Es sei jedoch falsch, die Studie so zu interpretieren, dass mehr Transpersonen nach ihrer Transition Selbstmordgedanken oder Selbstmordversuche unternommen hätten als davor, schreibt uns Noah Adams, Mitautor der Studie.

Studienautorin: Gruppen können nicht direkt miteinander verglichen werden

Das im Tiktok-Video gezeigte Diagramm entspricht „Abbildung 3“ in der Studie. Darin wird dargestellt, wie hoch der Anteil der Studienteilnehmenden ist, die Suizidgedanken („Ideation“) und Suizidversuche („Attempt“) in den Zeiträumen vor der Transition („before transition“), im letzten Jahr („past year“), oder während des gesamten Lebens („lifetime“) hatten. Das Tiktok-Video interpretiert diese Abbildung falsch.

Diese Abbildung aus der Studie vergleicht veröffentlichte statistische Daten über die Suizidgedanken und Suizidversuche von Transpersonen aus insgesamt 42 Studien zu folgenden Zeiträumen: Vor ihrer Transition, im letzten Jahr, oder während des gesamten Lebens. (Quelle: Transgender Health; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Im Video wird die Angabe „im letzten Jahr” fälschlich mit einem Zeitraum nach der Transition gleichgesetzt und so behauptet, es zeige im Vergleich zu „vor der Transition“, dass der Anteil von Transpersonen, die an Suizid dachten, um 15 Prozent gestiegen sei. Doch diese Angabe hat laut Maaya Hitomi, Mitautorin der Studie, nichts mit dem Transitions-Status zu tun. „Einige Teilnehmer können ihre Transition in der Mitte des Jahres, erst Jahre später oder bereits Jahre zuvor vollzogen haben“, so Hitomi. „Im letzten Jahr“ bedeute: Haben die Teilnehmenden in dem Jahr vor der Befragung Suizidgedanken und/ oder suizidales Verhalten gezeigt? 

Auch, dass sich „das gesamte Jahr“ auf die Zeit nach der Transition beziehe, wie im Video behauptet wird, ist falsch.

Die jeweilige Studienanzahl, die im Diagramm in Klammern unter den Zeiträumen steht, macht zudem deutlich: Die Personen sind nicht in allen drei Kategorien dieselben, denn nicht jede Studie befragte dieselben Teilnehmenden zu allen drei Zeiträumen. Da diese Studie 42 verschiedene Studien kombiniert, setze sich jede der Kategorien „vor der Transition“, „im letzten Jahr“ und „während des gesamten Lebens“ aus einer anderen Gruppe von Personen zusammen, schrieb uns Hitomi. Dadurch könnten die Gruppen nicht direkt miteinander verglichen werden. 

Die Prozentzahlen miteinander zu vergleichen und wie in dem Tiktok-Video von einer Dopplung der Suizidversuche nach der Transition zu sprechen, macht – abgesehen davon, dass das Diagramm in der Studie nicht spezifisch die Zeit nach der Transition abbildet – keinen Sinn. 

Studie definiert Transition nicht eindeutig

Gabriel_Nox Koenig, Referent*in für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband Trans* e.V., schrieb uns: „Bezüglich Transition sollte im besten Fall unterschieden werden zwischen rechtlicher, medizinischer und sozialer Transition.“ Dabei gehe es um unterschiedliche Ebenen, wie die Änderung von Vornamen und Personenstand in Dokumenten, einer Bandbreite an medizinischen Maßnahmen und der Änderung von Namen und Anrede im Alltag. 

Eine solche Unterscheidung oder Festlegung auf eine der Ebenen gibt es in der im Tiktok-Video angesprochenen Studie nicht. Es ist also unklar, ob sich „vor der Transition“ auf die rechtliche, medizinische oder soziale Transition bezieht. Darauf weisen die Autorinnen und Autoren in der Studie hin, sie schreiben: „Relativ wenige Studien haben die Suizidalität vor der Transition oder im vergangenen Jahr gemessen. Es war daher notwendig, verschiedene ähnliche Kategorien mit der Bezeichnung ‚vor der Transition‘ zusammenzuführen (‚vor der Behandlung‘, ‚ als sich eine befragte Person zum ersten Mal bewusst trans identifizierte‘, ‚vor der Transition‘).“  

Bundesverband Trans*: Suizidgedanken und -versuche treten häufiger vor einer Transition auf

Bislang gibt es kaum Studien, die bei Befragungen zu Suizidgedanken und -versuchen von Transpersonen tatsächlich zwischen den Zeiträumen vor und nach ihrer Transition unterscheiden. In einer niederländischen Studie, veröffentlicht am 6. April 2020 im Journal of Adolescent Health, war dies zumindest ein Bestandteil der Ergebnisse. Sie zeigen: Transpersonen im Jugendalter (Anzahl der Teilnehmenden: 272), die eine spezialisierte Klinik für Geschlechtsidentität besuchten, gaben an, vor ihrer medizinischen Behandlung häufiger „Selbstverletzungen/Suizidalität“ und schlechtere Beziehungen zu Gleichaltrigen zu haben. 

Koenig vom Bundesverband Trans* schrieb uns, der Verband nehme von seinen Mitgliedsorganisationen, die psychologische Beratung für Transpersonen anbieten, einstimmig wahr, dass „Suizidgedanken oder Suizidabsichten mehr vor einer Transition auftreten und in der Regel in einen direkten Zusammenhang zu setzen sind mit Diskriminierungserfahrungen oder auch mit den hohen Hürden, die für eine rechtliche oder medizinische Transition überwunden werden müssen.“

Dass Transpersonen generell ein erhöhtes Suizidrisiko haben, zeigt eine Studie aus Kanada, veröffentlicht im Canadian Medical Association Journal am 6. Juni 2022. Sie vergleicht die Risiken für Suizidgedanken und -versuchen von Transpersonen im Jugendalter mit denen von heterosexuellen Jugendlichen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Die Autorinnen und Autoren untersuchten eine repräsentative Stichprobe von 6800 Personen zwischen 15 und 17 Jahren, die an der „Kanadischen Gesundheitsstudie 2019 über Kinder und Jugendliche“ teilgenommen haben. Das Ergebnis: Im Vergleich hatten transsexuelle Jugendliche ein fünfmal höheres Risiko für Suizidgedanken und ein 7,6-mal höheres Risiko für einen Suizidversuch. 

Das Suizidrisiko von Transpersonen kann laut dem Bundesverband Trans* durch emotionale Unterstützung verringert werden. Zum Beispiel, indem man die Person ernst nimmt und ihre selbstbestimmten Namen und Pronomen verwendet. Beratungsangebote für Transpersonen gibt es beim Regenbogenportal, ein Internetangebot des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 

Redigatur: Matthias Bau, Sophie Timmermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Studie: Varied Reports of Adult Transgender Suicidality: Synthesizing and Describing the Peer-Reviewed and Gray Literature, Transgender Health, 1. Juni 2017: Link (archiviert)
  • Studie: Psychological Functioning in Transgender Adolescents Before and After Gender-Affirmative Care Compared With Cisgender General Population Peers, Journal of Adolescent Health, 6. April 2020: Link (archiviert)
  • Studie: Suicidality among sexual minority and transgender adolescents: a nationally representative population-based study of youth in Canada, Canadian Medical Association Journal, 6. Juni 2022: Link (archiviert)
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