Schöffin am Amtsgericht Essen hetzt gegen Migranten und zweifelt an Unabhängigkeit der Justiz
Demos mit Rechtsextremen, rassistische Posts, Zweifel am Rechtsstaat: Obwohl Leen K. seit Jahren fragwürdige Positionen öffentlich teilt, wurde sie als Schöffin gewählt. Der Fall zeigt, wie leicht eine extremistische Unterwanderung der Justiz möglich ist.
„Die Brandmauer fällt. Ich wurde zur Schöffin gewählt. In Essen wurden nun zwei AfD-Mitglieder zum Schöffen gewählt“, schreibt Leen K. am ersten Weihnachtstag 2023 auf Facebook. Darunter setzt sie den Eid für Soldaten. Sie schwört, der Bundesrepublik treu zu dienen und „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.
Seit Januar 2024 ist K. Ersatzschöffin am Amtsgericht Essen. Schöffen, wie K., haben als Laienrichter viel Macht, da sie gemeinsam mit den Berufsrichterinnen über die Schuld und die Strafe von Angeklagten entscheiden.
In Deutschland gibt es rund 60.000 Schöffinnen und Schöffen. Alle fünf Jahre werden sie gewählt. Ihre Stimmen zählen so viel wie die der ausgebildeten Juristen. Sie sollen unparteilich und unabhängig urteilen und nur Recht und Gesetz verpflichtet sein. Nach Recherchen von CORRECTIV ist fraglich, ob Leen K. diesem Anspruch gerecht wird.
Der Facebook-Post im Dezember 2023 ist nicht das erste Mal, dass K. mit fragwürdigen Äußerungen auffällt. Seit Jahren hetzt sie in den sozialen Netzwerken gegen Migranten und Menschen, die trans sind, sich also nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Sie nahm an Demonstrationen mit Rechtsextremen teil. Im Jahr 2020 schloss sie der Essener Jugendamtselternbeirat wegen hetzerischen und rassistischen Inhalten in sozialen Netzwerken aus. Das Gremium vertritt die Kita-Eltern in der Stadt.
Leen K. äußerte sich auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal nicht zu den Vorwürfen.
Schöffen müssen verfassungstreu sein
Zwei Rechtsexperten, denen CORRECTIV.Lokal die Posts von K. vorlegte, haben große Zweifel daran, dass sie für das Amt der Schöffin geeignet ist: Sie sehen Aussagen wie die zur „Brandmauer“ als Hinweis darauf, dass K. grundsätzlich die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellt. Und sie befürchten, dass ihre politischen Ansichten ihre Urteile als Schöffin beeinflussen könnten.
Im Idealfall sollten Bewerberinnen und Bewerber, die für das Schöffenamt ungeeignet sind, bereits im Wahlverfahren ausgeschlossen werden, um nicht ins Amt zu gelangen. Etwa wenn befürchtet wird, dass sie den Rechtsstaat und die Verfassung ablehnen.
Doch das funktioniert nicht immer: Eine kürzlich veröffentlichte Recherche von CORRECTIV.Lokal zeigt, dass in der vergangenen Amtszeit mindestens elf verfassungsfeindliche Schöffen ins Amt kamen. Und dass dies durch das intransparente Wahlverfahren und die Überlastung der zuständigen Institutionen weiter möglich ist. Denn die Gemeinden, die oft hunderte Bewerberinnen überprüfen sollen, verfügen häufig nicht über die nötigen Ressourcen.
Die Wahlausschüsse an den Amtsgerichten verlassen sich oft auf die vorherige Überprüfung durch die Gemeinden. Es gibt jedoch gute Gründe, die Kandidierenden genauer zu prüfen, denn Rechtsextreme haben in der Vergangenheit wiederholt zur Unterwanderung der Schöffenwahlen aufgerufen.
Demos mit Rechtsextremen
Leen K. tritt seit Jahren öffentlich auf. Es gibt Artikel in der lokalen Presse über sie und Veröffentlichungen eines örtlichen antifaschistischen Bündnisses. Dennoch scheinen die Stadt Essen und das Amtsgericht Essen nichts von ihren problematischen Aussagen gewusst zu haben, als sie als Bewerberin zugelassen und als Schöffin gewählt wurde.
Bereits 2018 wurde K. zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Da veröffentlichte sie ein Video auf Facebook, das viral ging. Darin beklagte sie eine angebliche drohende Islamisierung ihres Kindes in einer Essener Kita. Die Lokalzeitung WAZ und überregionale Medien wie Stern und Welt berichteten.
Im selben Jahr trat sie als Rednerin auf einer Demo der „Mütter gegen Gewalt“ auf – einem Bündnis mit Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Von diesen Verbindungen will K. später nichts gewusst haben.
Im Oktober 2020 forderte sie auf Facebook, dass persönliche Informationen von pädokriminellen Verurteilten veröffentlicht werden sollten. Sie befürwortete Lynchjustiz als abschreckende Maßnahme. Ihre Äußerungen wurden von dem lokalen antifaschistischen und antirassistischen Bündnis „Essen stellt sich quer“ dokumentiert.
Wahlkampf für die AfD
Inzwischen ist K. umtriebiges Mitglied der AfD. Auf Facebook betreibt sie ein eigenes Gesprächsformat, in dem sie AfD-Politiker aus der Bundes- und Landespolitik interviewt. Vor der Europawahl warb sie an einem Stand für die AfD und hängte Plakate für die Partei auf.
Und K. hetzt weiter in den sozialen Netzwerken: Im März schreibt sie auf Facebook mit Bezug zu einem Bericht der Bild von einer „Migranten Bande“, die einen Jugendlichen gequält haben soll: „Es werden immer mehr: Kinder, 12-Jährige, sie hassen Deutsche und sie haben verstanden, ihre Opfer sind wehrlos, so wehrlos, wie der „Rechts“staat, der ihnen ihr warmes Nest bereitet.“
Ein paar Wochen später teilt sie einen Bericht der Bild auf Facebook, der besagt, dass ein Angeklagter namens Fadi in einem Verfahren am Landgericht München eine Frau als Verteidigerin abgelehnt habe. Sie likt Kommentare, in denen „körperliche Überzeugungsarbeit“ gegen den Angeklagten vorgeschlagen wird und dass er gleich ins Gefängnis gehen könne, wenn er keine Verteidigung brauche. Und ihr, der Schöffin, gefällt dieser Kommentar eines anderen Nutzers: „Unfassbar, wie die unser Rechtssystem ausnutzen und missbrauchen und wir schauen wie gelähmt zu“.
Experten haben Zweifel an K.s Eignung
Ulrich Battis, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Berliner Humboldt-Universität und Autor des Standardkommentars zum Bundesbeamtengesetz, ist einer der Experten, die CORRECTIV.Lokal um eine Einschätzung des Falls von Leen K. gebeten hat. „Sie stellt die Unabhängigkeit der Justiz grundsätzlich in Frage“, sagt Battis, der inzwischen als Anwalt arbeitet. K. unterstelle der Justiz, parteiisch zu sein.
Als Anwalt würde er sofort einen Befangenheitsantrag stellen, wenn K. als Schöffin im Gericht sitzen würde, da sie seiner Meinung nach ungeeignet sei. „Der würde mit Sicherheit durchgehen.“ In Verfahren, an denen Migranten beteiligt seien, sei ein Befangenheitsantrag gegen K. aufgrund ihrer rassistischen Äußerungen auch gerechtfertigt.
Felix Hanschmann, Professor für Verfassungsrecht an der Bucerius Law School in Hamburg, hält K.s Posts zu Pädokriminellen für äußerst problematisch: „Wenn eine Schöffin Posts likt, in denen zu Gewalt gegen Straftäter*innen aufgerufen oder Selbstjustiz gutgeheißen wird, gibt man zu erkennen, dass man das Gewaltmonopol des Staates und die Unschuldsvermutung nicht ernst nimmt.“ Es lasse darauf schließen, dass die Person Strafverfahren nicht für den rechtsstaatlich einzig akzeptablen Umgang beispielsweise mit Fällen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs von Kindern halte.
Wie konnte K. überhaupt Schöffin werden?
Die Stadt Essen äußert sich auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal nicht zu K. und ihrer Eignung als Schöffin. Und auch nicht dazu, ob ihr die Berichte über K. zum Zeitpunkt der Wahl bekannt gewesen seien. Stattdessen verweist sie darauf, dass bei der vergangenen Schöffenwahl die rechtlichen Vorgaben eingehalten worden seien. Interessierte hätten sich über ein Online-Formular bewerben können. Dieses beinhalte auch Pflichtangaben zum „Nichtvorhandensein von Tatbeständen“, die eine Wahl ins Schöffenamt ausschließen. Die Eingaben seien überprüft worden. Zudem sei die umfangreiche Vorschlagsliste für eine Woche im Rathaus ausgelegt worden. Es gab keine Einsprüche.
Das Amtsgericht Essen verweist gegenüber CORRECTIV.Lokal auf die Verantwortung der Gemeinde, die Bewerberinnen auf ihre Eignung zu überprüfen. Der zuständige Richter am Amtsgericht, der dem Schöffenwahlausschuss vorsitze, überprüfe die vorgeschlagenen Bewerberinnen nur darauf, ob sie Berufe ausübten, die mit dem Schöffenamt nicht vereinbar seien, sie vorbestraft oder insolvent seien oder gesetzlich betreut würden. All das habe auf K. nicht zugetroffen.
Die Veröffentlichungen der lokalen Presse und von „Essen stellt sich quer“ seien dem Amtsgericht zum Abschluss des Schöffenwahlverfahrens nicht bekannt gewesen. Weiter schreibt das Amtsgericht: „Die von Ihnen angeführten Informationen sind nach Verfahrensabschluss nur teilweise bekannt geworden.“ Warum das Amtsgericht Essen dann offenbar bisher nichts unternahm, obwohl es offenbar Hinweise auf K.s Äußerungen erhielt, bleibt unklar.
In ihrer Rolle als Ersatzschöffin ist K. bisher nur einmal tätig gewesen in einem Verfahren wegen Insolvenzverschleppung und Betrugs, das im Februar am Amtsgericht Essen stattgefunden hat.
Die Recherche von CORRECTIV.Lokal könnte nun Folgen haben. Die für Schöffen zuständige „richterliche Person“ habe nun die Informationen der Recherche von CORRECTIV.Lokal erhalten. Sie werde darüber entscheiden, wie mit K. umzugehen sei, schreibt ein Sprecher des Amtsgerichts Essen.
Sie haben Hinweise dazu, dass bei Ihnen in der Region verfassungsfeindliche Schöffinnen und Schöffen aktuell im Amt sind? Dann schreiben Sie uns an lokal@correctiv.org oder für sensible Informationen eine verschlüsselte Nachricht über unseren anonymen Briefkasten. CORRECTIV.Lokal arbeitet bei dieser Recherche mit Lokal- und Regionalmedien in allen Bundesländern zusammen, die in der Lage sind, auch Hinweise auf einzelne Fälle zu verfolgen.