Neue Rechte

Gewalt als Alternative

Schläge, Drohungen, Waffenbesitz: Eine CORRECTIV-Recherche zeigt, dass die AfD auf allen Ebenen Mandatsträgerinnen und -träger duldet, die mit körperlicher, verbaler oder indirekter Gewalt aufgefallen sind – viele trotz Verurteilung. Darunter sind mehrere Landtags- und Bundestagsabgeordnete.

von Till Eckert , Sebastian Haupt , Elena Schipfer

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(Collage: CORRECTIV)

Felix Alexander Cassel ist ein Fan von Vertreibung. Zumindest wirbt er auf Instagram offen für das Buch „Remigration“ des österreichischen Rechtsextremen Martin Sellner, gegen den deutsche Behörden kürzlich ein Einreiseverbot verhängten. Cassel scheint auch ein klares Verständnis vom Umgang mit politischen Gegnern zu haben: Im Jahr 2019, auf einer Wahlkampfveranstaltung, fuhr er nach Überzeugung der Richter am Kölner Landgericht mit dem Auto in eine Gruppe von Gegendemonstranten. Einer davon landete dadurch auf Cassels Motorhaube.

Im Jahr 2021 wurde Cassel deshalb erstmals vom Kölner Amtsgericht verurteilt. Es folgte ein jahrelanges Hin und Her: Schließlich bestätigte das Landgericht dann das ursprüngliche Urteil des Amtsgerichts. Cassel machte sich demnach der gefährlichen Körperverletzung, des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und der Unfallflucht schuldig. Das Strafmaß: Sieben Monate Haft auf Bewährung, 500 Euro Schmerzensgeld an das Opfer.

Cassel beging eine Gewalttat. Doch Reue zeigt der Landesvorsitzende der Jungen Alternative in Nordrhein-Westfalen nicht: Er fechtet das Urteil weiter an. Und behält sein politisches Mandat. Denn Cassel ist AfD-Bezirksverordneter in Bonn.

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CORRECTIV recherchierte in den vergangenen Wochen zu 48 AfD-Mandatsträgerinnen, -trägern und Mitarbeitern auf Kreis-, Landes- und Bundesebene, die in der jüngeren Vergangenheit mit Gewalttaten aufgefallen sind, darunter mit direkter körperlicher Gewalt, psychischer Gewalt, einer Form der Beihilfe zu Gewalt oder gewaltnahem Verhalten. 28 dieser Politikerinnen und Politiker wurden der Recherche zufolge von einem Gericht zumindest erstinstanzlich verurteilt, oder es wurden Strafbefehle gegen sie erlassen – 14 davon sind trotzdem noch immer in ihrem politischen Amt tätig.

Unter diesen 14 Politikerinnen und Politikern sind zwei Bundestagsabgeordnete und drei Landtagsabgeordnete. Gegen mindestens fünf weitere AfD-Mandatsträger wird zurzeit ermittelt. Bei den Fällen geht es teils um brutale körperliche Angriffe, teils verbale Gewalt wie Beleidigungen oder Volksverhetzung und indirekte Gewalt wie Beihilfe, Waffenbesitz oder Missbrauch des Gewaltmonopols qua Amt. Juristisch gesehen handelt es sich dabei meist um „Vergehen“.

Expertinnen führender Beratungsstellen zu rechter Gewalt zeigen sich gegenüber CORRECTIV alarmiert über das Ausmaß der Fälle bei der AfD. Im direkten Vergleich mit anderen Parteien konnte CORRECTIV weder bei Linken oder Grünen noch bei CDU/CSU, SPD oder FDP Ähnliches ausmachen.

Wie es bei den anderen Parteien aussieht

Abgeordnete und Mandatsträgerinnen und -träger, die verurteilt sind oder gegen die Strafverfahren laufen, gibt es auch in anderen Parteien, in den Volksparteien ebenso wie in den kleineren. Auffällig ist jedoch: Keine andere im Bundestag vertretene Partei fällt in annähernd ähnlichem Umfang wegen Gewalttaten auf. 

Politische Gewalt kommt bei anderen Parteien in der Regel gar nicht vor, was sowohl für die Bundes- und Landesebene als auch lokal gilt. In sehr begrenztem Umfang (einzelne Fälle) ergingen Urteile gegen Funktionsträger wegen häuslicher oder sexueller Gewalt. Bei der AfD hingegen ist herauszuheben, dass zahlreiche der gerichtlich verfolgten Gewaltdelikte sich explizit gegen politische Gegner richten – von der lokalen bis zur Bundesebene.  

Zu den häufigsten Gründen, warum Mandatsträgerinnen und -träger verschiedener Parteien verurteilt wurden, gehören Delikte wie Steuerhinterziehung, Betrug, Veruntreuung oder Korruption. Für den Zeitraum der letzten 15 Jahre haben wir hier (bezogen auf den gesamten Bereich dieser finanziellen Straftaten) wenige Dutzend Fälle recherchieren können. Auch AfD-Abgeordnete gehören dabei zu den Tätern. In deutlich weniger Fällen lassen sich Prozesse wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch (etwa durch das Besetzen einer Fläche im Zuge von Demonstrationen) oder Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit finden. Im vergangenen Jahr trat etwa der Grünen-Stadtrat Bernd Schreyer wegen Volksverhetzungs-Ermittlungen von seinem Mandat zurück. Weitere Straftaten (wegen Drogenkurierfahrt, wegen Datenweitergabe) von Abgeordneten liegen darüber hinaus im Einzelfallbereich.

Spätestens seit den CORRECTIV-Enthüllungen zum Geheimtreffen von Potsdam ist offensichtlich, welche Absichten zentrale Akteure der Partei verfolgen, sollten sie über die nötige Macht verfügen. Der rechtsextreme und als Gewalttäter rechtskräftig verurteilte Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten, Mario Müller, brüstete sich dort auch unverhohlen mit weiteren Gewalttaten

Das ist allerdings nur ein Beispiel für eine bemerkenswerte Gewaltaffinität. Die meisten Urteile ergingen in den vergangenen zwei Jahren – die AfD scheint die verurteilten Täterinnen und Täter in ihren Reihen zu dulden. Der AfD-Bundesverband hat sich gegenüber CORRECTIV nicht dazu geäußert, auch die 14 AfD-Mandatsträgerinnen und -träger äußerten sich bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht oder nicht konkret.

Gewalt führt nicht automatisch zum Verlust eines politischen Mandats

Ob eine Person in ein Amt gewählt werden kann, regelt in Deutschland das sogenannte „passive Wahlrecht“. Nicht für politische Ämter wählbar sind laut Strafgesetzbuch nur solche Personen, die sich eines „Verbrechens“ schuldig machen. Das sind per Definition alle Straftaten ab schwerer Körperverletzung, sexuellem Missbrauch, Totschlag, Raub oder Meineid. 

Ausgenommen ist ein breites Spektrum an Gewalttaten, die als „Vergehen“ gelten. Entzogen wird ein Mandat nur dann automatisch, wenn gewählte Politikerinnen und Politiker wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt werden. Sprich: In Deutschland verhindert nur eine Gefängnisstrafe die Wählbarkeit.

Politische Amtsträgerinnen und -träger, die vor oder während ihres Mandats mit Gewalttaten aufgefallen sind, die lediglich als Vergehen gelten, dürfen ihre Ämter aus rein rechtlicher Sicht behalten. So wie auch Felix Alexander Cassel, der einen Menschen angefahren hat, würde das Kölner Urteil gegen ihn rechtskräftig.

Mehrere Politikerinnen und Politiker zeigen sich aufgrund der Fälle besorgt: Für den parlamentarischen Geschäftführer der CDU im Bundestag, Thorsten Frei, steht das Vertrauen in die Demokratie auf dem Spiel. Clara Bünger, Obfrau der Linken im Rechtsausschuss, zieht eine mögliche Verschärfung des passiven Wahlrechts in Betracht.

Mindestens 14 AfD-Politikerinnen und Politikern trotz Gewalt im Amt

Bei der Recherche stieß CORRECTIV auf Fälle, in denen gewählte AfD-Politiker Menschen in den Bauch traten, Ersthelfer mit Reizgas besprühten, Demonstranten mit dem Auto anfuhren, Waffen mit sich führten, zum gewaltsamen Umsturz der Bundesregierung aufriefen oder Frauen einen „Hatefuck“ androhten, also gewaltvolle sexuelle Handlungen. Alles sogenannte „Vergehen“, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. 

Wir heben in diesem Artikel 14 AfD-Politikerinnen und -Politiker besonders hervor, weil sie trotz begangener Gewalttaten oder gewaltnahem Verhalten weiter ein öffentliches Mandat bekleiden, also die Bürgerinnen und Bürger des Landes vertreten und repräsentieren sollen:

Wie wir „Gewalt“ definieren

Wir definieren Gewalt für diese Recherche einerseits anhand der gängigen juristischen Definition für körperliche und verbale Gewalt und zählen andererseits ein drittes Phänomenfeld, die indirekte Gewalt, dazu. So entstehen drei Stufen:

  1. Körperlich: Fälle, bei denen direkte körperliche Gewalt angewendet wurde (zum Beispiel Körperverletzung, Tätlicher Angriff)
  2. Verbal: Fälle von psychischer Gewalt (zum Beispiel Drohungen, Beleidigungen, Volksverhetzung)
  3. Indirekt: Fälle, in denen es Beihilfe zu Gewalt gab, Gewaltverherrlichung, Waffenfunde, Mitgliedschaft bei möglichen terroristischen Vereinigungen oder des Missbrauchs des Gewaltmonopols qua Amt

Für die meisten Fälle von verurteilten AfD-Politikerinnen und -Politikern im Amt haben wir jeweils die Gerichtsunterlagen recherchiert, in einigen wenigen Fällen verifizierten wir die Urteile über die Pressestelle der jeweiligen Gerichte.

 

Da ist beispielsweise der Fall von Kai Borrmann. Borrmann beleidigte zwei Schwarze Frauen am Nachbartisch in einem Restaurant mehrfach mit dem N-Wort. Übereinstimmenden Zeugenaussagen zufolge schlug er später auf der Straße einer der Frauen ins Gesicht und biss ihr bei einem folgenden Gerangel letztlich in den Unterarm. Das zuständige Gericht verurteilte ihn im Februar 2023 in erster Instanz wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe. Borrmann habe vor Gericht keine Reue gezeigt, Fotos zeigen ihn breit lächelnd. Er ging in Berufung, das Urteil ist demnach noch nicht rechtskräftig. Borrmann ist weiterhin Bezirksverordneter in Berlin-Mitte, er sitzt dort für die AfD im Ausschuss für Schule und Kultur.

Einige AfD-Politikerinnen und -politiker sind der verbalen Gewalt nicht abgeneigt: Marie-Thèrése Kaiser etwa nutzt Plattformen wie Instagram, um sich mit Vertreterinnen und Vertretern der sogenannten Identitären Bewegung zu vernetzen, einer rechtsextremen Gruppe. Und sie veröffentlicht Beiträge, in denen sie ganze Bevölkerungsgruppen herabwürdigt: 2021 etwa setzte sie nach Ansicht eines Gerichts afghanische Geflüchtete in einem Facebook-Beitrag pauschal mit „Gruppenvergewaltigern“ gleich. Das Gericht urteilte, der Beitrag sei geeignet gewesen, „in erheblichem Maße Hass, Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit hervorzurufen“. Kaiser wurde im Juni 2023 erstinstanzlich wegen Volksverhetzung schuldig gesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, weil sie in Berufung ging. Kaiser ist bis heute AfD-Kreistagsabgeordnete im niedersächsischen Sottrum – und arbeitet für den AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann.

Mit indirekter Gewalt aufgefallen ist Sebastian Münzenmaier. Er wurde 2018 wegen der Beihilfe zu gefährlicher Körperverletzung verurteilt: Er hatte seinen Hooligan-Kumpels dabei geholfen, gegnerischen Fußballfans auflauern und sie brutal attackieren zu können. Dass auch Kinder unter diesen waren, nahm Münzenmaier nach Ansicht des Gerichts in Kauf. Am Ende wurde es eine Geldstrafe, und nur ein Jahr später konnte er als Abgeordneter in den Bundestag einziehen, wo er bis heute sitzt.

Mehrere AfD-Politiker missbrauchten ihre Stellung als Richter, Polizei- oder JVA-Beamte

Bei unserer Recherche sind uns auch vier AfD-Politiker aufgefallen, die während ihrer Zeit im Staatsdienst als Polizisten oder Richter Straftaten begingen. Drei von ihnen wurden verurteilt, zwei davon sind noch im Amt. Einer von ihnen ist Richard Graupner. 

Vor seiner Zeit als Landtagsabgeordneter im bayerischen Parlament war Graupner Hauptkommissar der Verkehrspolizei. Und gut befreundet mit Imren F. aus Schweinfurt, dessen Namen wir geändert haben. F. gelangte ins Visier von Graupners Kollegen; am 28. Januar 2018 kam es in seiner Wohnung zu einer Hausdurchsuchung. F. widersetzte sich dabei den Polizisten. Er wurde wegen Körperverletzung angezeigt. 

Graupner hatte mit dem Fall nichts zu tun. Aber er tat seinem Freund einen Gefallen: Er rief 2018 mehrfach das polizeiinterne Informationssystem auf, rief dort die Meldungen seiner Kollegen zum Fall F. ab und las sie diesem in allen Einzelheiten vor. 

2019 flog die Sache dann offenbar auf: Die oberste Dienstbehörde der bayerischen Polizei ermöglichte Strafverfolgung gegen Graupner. Dabei fielen den Ermittlern zwei weitere Fälle auf, in denen Graupner seinem Freund F. Informationen zugeschoben hatte. 

Im Juli 2017 schickte F. Graupner auf Whatsapp kommentarlos das Foto eines Mercedes. Graupner rief anhand des Kennzeichens daraufhin die Halterdaten ab und schickte sie seinem Freund. Im Oktober 2017 schickte F. Graupner den Namen eines Mannes, dessen Hund seinen eigenen Hund angefallen habe, wieder auf Whatsapp. Dazu schrieb er: „(…) Besorg mir bitte mal die Adresse in Schweinfurt, damit ich ihm die Rechnungen schicken kann. Danke und lg.“ Graupner machte eine Abfrage beim Einwohnermeldeamt und schickte F. nur knapp 25 Minuten später die Adresse zurück: „Wohnt bei dir in der Nähe. (…) Viele Grüße.“

Graupner wurde im April 2023 rechtskräftig wegen „Verletzung des Dienstgeheimnisses“ verurteilt. Er nutzte damit sein Gewaltmonopol als Polizeibeamter aus. Im bayerischen Landtag ist er weiterhin stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion – und Mitglied im Innenausschuss, wo er trotz seines fragwürdigen Dienstverständnisses auch über Polizeiangelegenheiten diskutieren darf.

Wir wollen weiter zu Fällen recherchieren, bei denen AfD-Politikerinnen und Politiker in ihrer Zeit im Staatsdienst straffällig wurden. Sie haben Hinweise? Melden Sie sich gerne bei uns: hinweise@correctiv.org.

Von wegen „Bürgerlichkeit“: Soziologe spricht von antidemokratischer Ideologie

Gewaltaffinität und gewaltnahes Verhalten, das zeigen die juristisch aufgearbeiteten Fälle, treten in der AfD gehäuft auf. Für den Soziologen Axel Salheiser vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) zeigt sich durch die CORRECTIV-Recherche ein Muster – und der Bruch mit dem Selbstbild der „bürgerlichen Partei“, das die AfD über sich selbst zeichne. Es handele sich dabei um eine Fassade, die ihre antidemokratische Ideologie nicht kaschieren könne. „Selbst bei einigen gewählten Abgeordneten der AfD oder deren Mitarbeitenden scheint die Hemmschwelle zum Gesetzesbruch niedrig zu sein“, sagt Salheiser. 

Als einziger Vergleichspunkt in der Geschichte Deutschlands sieht der Experte die NPD, die bemerkenswert viele Funktionäre beschäftigt habe, die über einschlägige Vorstrafen verfügten. „Der Unterschied zwischen NPD und AfD besteht allerdings darin, dass die AfD von sich dezidiert behauptet, sich nicht außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stellen und die Demokratie nicht überwinden zu wollen“, sagt Salheiser. 

Auffällig sei im Fall der AfD, dass es sich oftmals nicht um sogenannte „Propaganda-Delikte“ handele, bei denen sich Politiker als Opfer von „Zensur“ inszenieren könnten. „Bis in die jüngste Vergangenheit gibt es immer wieder Amts- und Mandatsträger der Partei, die zum Teil wegen schweren Straftaten, darunter Körperverletzungsdelikten, angeklagt und verurteilt werden“, sagt Salheiser. Es handele sich oft um physische oder psychische Gewalt gegen rassistisch abgewertete Menschen, politische Gegner und Journalistinnen.

Die AfD inszeniere sich laut Salheiser als Rechtsstaatspartei, die die Gesetze achte und stärker durchsetzen wolle als etablierte Parteien. „Dass dann immer wieder Parteivertretende kriminell werden, ist selbstverständlich ein riesiger Widerspruch, der sich nur mit harten innerparteilichen Disziplinarmaßnahmen beziehungsweise dem Parteiausschluss auflösen ließe“, sagt der Soziologe. 

Dass solche Konsequenzen aber meist erst auf Druck der Öffentlichkeit oder teilweise gar nicht gezogen würden, müsse laut Salheiser als Beleg gewertet werden, dass in der Partei viele gar kein Problem damit haben, wer sich da mit ihnen so tummelt oder sie sogar repräsentiert: „Oder es kann auch heißen, dass einige das sogar ziemlich gut finden.“

Die Aufstellung der Fälle sei einerseits frappierend, andererseits handele es sich nach aktuellem Stand doch um eine übersichtliche Zahl. Das Justizsystem sei langsam, zwischen Fällen und Verurteilungen lägen oft mehrere Jahre und niemand wisse, wie viele Ermittlungsverfahren derzeit noch anhängig seien. Doch Salheiser würde es nicht überraschen, würde die Liste mit der Zeit deutlich länger werden: „Die AfD vertritt eine Ideologie und Programmatik, der die Gewalt inhärent ist und die auf physische, psychische und strukturelle Gewalt hinausläuft.“ 

Betroffenen-Beratungsstellen sind alarmiert

Betroffen sind davon vor allem Menschen, die nicht ins Bild der in weiten Teilen rechtsextremen Partei passen oder nach einem autoritären Verständnis von Volk, Staat, Nation „unbequem“ werden könnten. Die CORRECTIV-Recherche enthält zahlreiche Fälle aus dem unabhängigen Monitoring von Opferberatungsstellen. In vielen Fällen werden die Betroffenen der Angriffe von diesen beraten und begleitet. 

Eine der Stellen, an die sich Betroffene wenden können und die im vergangenen Jahr erstmals auf die Gewaltaffinität vieler AfD-Politiker aufmerksam machte, ist der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). „Im Monitoring der Opferberatungsstellen sehen wir: Hauptsächliche Zielgruppen von gewalttätigen Angriffen durch AfD-Funktionäre und Mitglieder der rechtsextremen Partei sind aktuell Journalistinnen und Journalisten sowie Menschen, die an Protesten gegen Rechtsextremismus und gegen AfD-Versammlungen teilnehmen. Aber auch von Rassismus Betroffene sowie Abgeordnete und Vertreterinnen und Vertreter demokratischer Parteien sind unmittelbar Bedrohungen ausgesetzt“, sagt Judith Porath vom VBRG. 

„Wir erleben immer wieder, dass die lange Verfahrensdauer nach Angriffen durch AfD-Mandatsträgerinnen und -träger für die Verletzten eine große Belastung darstellt. Das gilt auch für die häufig damit einhergehende Täter-Opfer-Umkehr, die ja ein klassisches Merkmal rechtsextremer Propaganda ist“, sagt Judith Porath. „Seit einigen Jahren sehen wir mit großer Sorge, wie flächendeckend – und keineswegs nur in Ostdeutschland – die Gewaltbereitschaft auch bei Mandatsträgerinnen und -trägern sowie deren Anhängerinnen und Anhängern zunimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Gefahr, die davon ausgeht, nicht abstrakt ist, sondern für viele Menschen reale Konsequenzen hat. Das sehen wir in der alltäglichen Arbeit der Opferberatungsstellen, also bei der Beratung und Begleitung der Angegriffenen – etwa bei der Anzeigestellung ebenso wie bei den oft langwierigen strafrechtlichen Ermittlungen und Gerichtsverfahren“, sagt Porath.

Auch der Bundesverband Mobile Beratung (BMB) mit seinen Ablegern in den Ländern hat unsere Recherche mit seinen Einschätzungen unterstützt. Grit Hanneforth, Geschäftsführerin des BMB, zeigt sich alarmiert. Sie sagt, die Recherche zeige „schwarz auf weiß, welche Gefahr von Teilen der AfD ausgeht“. Ihr Verband entwickelt Handlungsstrategien gegen Rechtsextremismus. Hanneforth sagt, ihr Verband beobachte seit Langem, dass Teile der AfD offen rechtsextrem auftreten, mit Neonazis vernetzt sind und vor verbaler Gewalt nicht zurückschrecken. „Überrascht bin ich daher nicht, wohl aber schockiert über das Ausmaß der Angriffe und darüber, dass viele Politikerinnen und Politiker trotz einer Verurteilung weiter in ihrer Funktion sind.“

Linken-Politikerin zieht Verschärfung des passiven Wahlrechts in Betracht

Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU im Bundestag, äußert sich klar zu Politikerinnen und Politikern, die mit Gewalttaten aufgefallen sind: „Diese erachte ich persönlich für die Ausübung eines öffentlichen Amtes für ungeeignet.“ Auf dem Spiel stünde laut des Juristen nichts geringeres als das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die von ihnen gewählten Volksvertreterinnen und Volkvertreter. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie könnten Schaden nehmen.

Ähnlich sieht das auch Clara Bünger, die als Obfrau der Linken im Rechtsausschuss des Bundestags sitzt. Sie sagt, sie erlebe in nahezu jeder Sitzungswoche „menschenfeindliche Äußerungen und Beleidigungen“ durch AfD-Politikerinnen und -Politiker. „Es muss definitiv Konsequenzen für Politiker und Politikerinnen oder deren Mitarbeitende geben, die menschenverachtende verbale und/oder brutale körperliche Gewalttaten verüben. Aus meiner Sicht sind solche Menschen nicht geeignet, dieses wichtige politische Amt auszuüben“, sagt Bünger. Die Menschen würden darauf vertrauen, von Politikerinnen und Politikern vertreten zu werden, die keinen anderen Mitmenschen Schaden zufügen. 

Geschützt werden müsse der Erhalt der Demokratie und der im Grundgesetz geregelten Grundrechte, insbesondere die Menschenwürdegarantie. „Diesem übergeordneten Interesse dienend kann eine Verschärfung des passiven Wahlrechts in Betracht gezogen werden“, sagt Bünger. Eine Garantie dafür, dass antidemokratische Personen in machtvollen Positionen damit ausgeschlossen würden, schaffe das jedoch nicht.

Die parteilose Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg äußert sich in diesem Punkt zurückhaltender: „Eine Einschränkung des aktiven und des passiven Wahlrechts kommt nur in Betracht, wenn dem eine Straftat zugrunde liegt und ein Gericht hierüber befindet.“ Trotzdem sei es nicht zu tolerieren, wenn Positionen mit Gewalt durchgesetzt werden sollen. „Erst recht nicht in unseren Parlamenten.“

Untragbar? Stadtrat von Salzgitter machte verurteiltem AfD-Politiker Druck

Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz sagt: „Die AfD und ihre Funktionäre radikalisieren sich seit Jahren weiter und weiter. Die Recherche von CORRECTIV zeigt erneut, wie stark die Verstrickungen der AfD ins kriminelle Milieu und offen gewaltbereite politische Spektrum längst sind.“

Die CORRECTIV-Recherche zeigt zudem: Gewählte Politikerinnen und Politiker verlieren ihr Mandat nicht, wenn sie für eine Gewalttat verurteilt wurden und das Strafmaß unterhalb der „Verbrechens“-Grenze liegt. Das bedeutet auch: Sie entscheiden selbst, wann es an der Zeit ist, zurückzutreten. 

In einem konkreten Fall war der Druck von außen wohl zu groß. Denn der Stadtrat von Salzgitter hat eine klare Vorstellung davon, wer das Volk vertreten sollte – und wer nicht. Als dort bekannt wurde, warum der damalige AfD-Ratsherr Rolf Dipp zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt wurde, kam es zum Eklat: Dipp, der sich selbst als „der Ficker“ tituliert habe, habe seine Ex-Freundin derart belästigt, dass sie und ihre neue Familie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten. 

Die Staatsanwaltschaft sprach laut Medienberichten von der „übelsten Stalking-Sache“, die ihr je untergekommen sei. Das Gericht verurteilte Dipp im März 2023 wegen Erpressung, versuchter Nötigung, Beleidigung, Nachstellung sowie der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs. Das Urteil ist rechtskräftig. Rein rechtlich gesehen handelt es sich dabei um ein Vergehen, kein Verbrechen. Damit blieb Dipps Mandat im Stadtrat vorerst erhalten.

Nach Ansicht fast aller im Rat der Stadt Salzgitter vertretenen Fraktionen und Gruppen aber hatte Dipp sich mit seinem Verhalten für sein politisches Amt untragbar gemacht: Als Volksvertreter müsse er selbst erkennen, welche Konsequenzen er aus Gründen von Moral und Glaubwürdigkeit zu ziehen habe und sein Mandat niederlegen. Dipp, der 2021 in den Stadtrat gewählt worden war, teilte einen Monat später ohne Angabe von Gründen mit, dass er auf seinen Sitz verzichten wolle.

Update, 11. April, 12.45 Uhr:

Wir haben im Text einige Passagen angepasst, damit sie juristisch korrekt sind. In den Karten zu den einzelnen Politikerinnen und Politikern haben wir die Kategorie zur Rechtskraft angepasst und bilden dort nun die Verfahrensstände differenziert ab. So unterscheiden wir dort nun unter anderem zwischen Urteilen und Strafbefehlen. So wurde etwa gegen den AfD-Bundestagsabgeordneten Stephan Protschka ein solcher Strafbefehl erlassen, gegen den er Einspruch eingelegt hat. Das haben wir berücksichtigt und korrigiert: Zuvor hieß es dort fälschlicherweise, er sei in Berufung gegangen, was darauf schließen ließ, es sei ein Urteil ergangen. Ein Strafbefehl steht erst dann einem rechtskräftigen Urteil gleich, wenn nicht rechtzeitig Einspruch erhoben wurde.