Füttern. Waschen. Weiter.
Über die Zustände in deutschen Pflegeeinrichtungen gibt es viele Schauergeschichten. Eine Reporterin der Rheinischen Post wollte wissen, wie es wirklich ist, und hat ein Praktikum in einem Altenheim gemacht. Schon am zweiten Tag stieß sie an ihre Grenzen.
Die Rheinische Post kooperiert mit uns zum Thema Pflege. Dieser Beitrag ist zuerst in der Rheinischen Post erschienen.
Am Eingang erinnert eine Gedenkwand an die Verstorbenen. Vor wenigen Tagen hat es einen Mann getroffen. Jetzt gibt es nur noch ein Foto von ihm: Das Gesicht ist faltig, er lächelt müde. Angehörige gibt es nicht. In wenigen Tagen wird sein Zimmer mit einem neuen Pflegebedürftigen belegt.
Ich bin als verdeckte Reporterin unterwegs und arbeite elf Tage im Düsseldorfer Awo-Seniorenzentrum Ernst-Gnoß-Haus. Altenpflege ist ein Dauerthema. Ich möchte wissen, wie es wirklich aussieht. In dem Heim leben 80 Pflegebedürftige, verteilt auf vier Wohneinheiten.
Eine Woche zuvor habe ich mich für ein Praktikum beworben. Nach einem Anruf im Heim gegen 10 Uhr stand ich drei Stunden später mit meinen Bewerbungsunterlagen vor der Tür. Ein kurzes Bewerbungsgespräch, und ich hatte das Praktikum. Dass ich keinerlei Erfahrung in der Pflege mitbringe, spielte keine Rolle. Täglich habe ich eine Schicht von sieben bis 14.30 Uhr. Auch am Samstag und Sonntag. Als Ausgleich gibt es einen freien Tag in der zweiten Woche. „Wenn, dann müssen Sie die Pflege auch so erleben, wie sie wirklich ist“, sagte die Pflegedienstleiterin.
Montag, Tag 1
Ich betrete das Heim. Sofort steigt mir ein Geruch in die Nase, der mich die kommenden Tage begleiten wird. Es riecht nach Krankheit und Körperflüssigkeiten.
Für die 20 Bewohner sind pro Schicht je drei Pfleger zuständig, schon wenige Tage später werde ich einer von ihnen sein. Bei mindestens einem muss es sich um eine examinierte Pflegefachkraft handeln. Diese haben eine dreijährige Ausbildung hinter sich und sind für die medizinische Versorgung der Bewohner verantwortlich. Die übrigen Kräfte sind meist Pflegehelfer mit einjähriger Ausbildung.
Herr Schmidt*, der Wohnbereichsleiter, erklärt mir die wichtigsten Regeln — etwa die Hände-Desinfektion. „Nach jedem versorgten Bewohner musst du dir die Hände desinfizieren.“ Zudem seien Handschuhe während der Pflege Pflicht.
Neben Herrn Schmidt, der auch Fachkraft ist, sind eine Auszubildende sowie ein Pflegehelfer im Dienst.
Ich begleite Pflegehelfer Max. Vor dem Frühstück waschen wir die Bewohner, reinigen ihr Gebiss, rasieren sie, ziehen sie an und wechseln ihre Pflaster. Geduscht werden die 20 Bewohner einmal pro Woche. Sie leben in sieben Doppel- und sechs Einzelzimmern.
Als Erstes kümmern wir uns um einen dementen, körperlich noch fitten Bewohner. Er wäscht sich selbst, dann zieht der Pflegehelfer ihn an. Von der Unterhose bis zum Pullover. Ich mache das Bett und hole Handtücher. Dann bringe ich den Mann in den Frühstückssaal. Alleine würde er nicht dorthin finden.
Ein infizierter Patient
Wir gehen weiter zu einem bettlägerigen Bewohner. Er ist kaum ansprechbar, durch einen Schlauch fließt bräunlicher Urin in einen Plastikbeutel am Bett. Der Katheter führt aus dem Bauchnabel, die Stelle ist entzündet und mit MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus)-Bakterien infiziert, wie mir Max erklärt. Diese sind resistent gegen die meisten Antibiotika, was es schwieriger macht, durch den Erreger ausgelöste Infektionen zu behandeln.
Nach Angaben des Landeszentrums Gesundheit (LZG) NRW, das als fachliche Leitstelle die Landesregierung und die Kommunen in allen gesundheitlichen Fragen unterstützt, wurden 1456 MRSA-Fälle im Jahr 2012 gemeldet. 2013 waren es 1354, 2014 dann 1204 und 2015 schließlich 1160 Fälle (Stand Februar 2016). Die Zahl der MRSA-Infektionen ist rückläufig, aktuelle Zahlen zu Altenheimen liegen nicht vor. Während Max die Wunde saubermacht und desinfiziert, trägt er Mundschutz und Schürze. Herr Schmidt hatte mir erklärt, dass das bei allen mit MRSA infizierten Bewohnern Pflicht ist. Zudem wird die dreckige Wäsche des Bewohners in einem gesonderten Behälter gesammelt. Trotz der Infektion liegt der Mann in einem Doppelzimmer. Es gibt weitere solcher Fälle in dem Heim.
Melanie Pothmann vom LZG: „Eine Einzelzimmerunterbringung von Bewohnern mit MRSA oder anderen resistenten Erregern ist in Altenpflegeeinrichtungen nach der Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention ,Infektionsprävention in Heimen‘ nicht erforderlich.“ Das Robert-Koch-Institut ergänzt, dass mit multiresistenten Keimen infizierte Bewohner ihr Zimmer mit anderen Personen teilen können, wenn bei den anderen keine offenen Wunden, Katheter oder Sonden vorliegen und das Risiko einer Infektion nicht erhöht ist.
Später räumen wir das Zimmer des verstorbenen Bewohners aus. Wir leeren die Schränke. Stopfen Kleidung und angebrochene Kosmetikartikel sowie Kamm, Rasierer und Zahnbürste in Müllsäcke, beziehen das Bett und kleben neue Namensschilder an die Möbel. Obwohl ich den Verstorbenen nicht kannte, fühle ich mich unwohl. Es kommt mir vor, als würde ein ganzes Leben innerhalb weniger Minuten in großen blauen Säcken verschwinden. Ich frage die Kollegen, ob es ihnen auch so geht. „Man gewöhnt sich daran“, antworten sie.
Medikamente vom Pflegehelfer
Während einer Pause stellt Max die Medikamente für die Bewohner zusammen. „Inoffiziell mache ich das oft“, sagt der Helfer. Eigentlich müsse eine Fachkraft diese Aufgabe erledigen. „Fragt die Heimaufsicht nach, hat das natürlich die Fachkraft gemacht.“
Drei Monate später haben wir die Awo-Seniorendienste Niederrhein gGmbH, die für das Heim verantwortlich ist, und das Heim selbst mit den Ergebnissen der Recherche konfrontiert, unter anderem zur Frage der Verteilung der Medikamente sowie den hohen Arbeitsdruck. Peter Herzog, Leiter des Heims, schreibt: „Das Stellen, Verteilen und Verabreichen von Medikamenten ist im Ernst-Gnoß-Haus klar geregelt und ausschließlich Fachkraftaufgabe. Für diese Aufgaben sind zu jeder Tages- und Nachtzeit Fachkräfte im Haus verfügbar. Das Einhalten der gesetzlichen Vorgaben wird kontrolliert und angepasst. Bei festgestellten Abweichungen werden umgehend durch den Einrichtungsleiter Maßnahmen eingeleitet.“
Beim Mittagessen bekommen einige Bewohner pürierte Erbsen, pürierte Schweinelendchen und pürierte Dosenpfirsiche. Einige werden gefüttert. Ich helfe einer Bewohnerin beim Essen, da sie das Besteck kaum halten kann. Die Dame isst alles auf, spricht aber nicht viel. Was sich über die kommenden Tage verändert.
Duschen ohne Pflegekittel
Herr Schmidt und ich duschen nach dem Mittagessen eine Frau. Auch sie ist mit MRSA infiziert. Erkennbar ist es an einem roten Punkt auf dem Türschild. Einen Mundschutz oder eine Schürze trägt Herr Schmidt nicht. „Warum nicht?“, frage ich. Er geht kaum darauf ein. Man könne sich ja auch in der U-Bahn oder an anderen öffentlichen Orten damit anstecken. Die Hände zu desinfizieren sei das Wichtigste. Die Pfleger tun das auch. Gefühlte 30 Mal am Tag.
Pothmann vom LZG dazu: „Bei den Pflegern ist eine gut etablierte und konsequent durchgeführte Basishygiene Grundlage der Infektionsprävention in Altenpflegeeinrichtungen. Die Händehygiene ist die wichtigste Maßnahme der Basishygiene.“ Trotzdem rät das LZG zum Tragen von Schutzkitteln: „Bei Pflegemaßnahmen am Betroffenen sollte das Pflegepersonal einen Schutzkittel tragen.“
Heimleiter Herzog: „Um eine Verbreitung von Keimen so weit wie nur möglich auszuschließen, sind die Beschäftigten im Ernst-Gnoß-Haus angehalten, die Hygienerichtlinien konsequent einzuhalten. Die Umsetzung wird durch ein Qualitätsmanagementsystem und eine Vielzahl flankierender Maßnahmen gestützt und das Einhalten der Richtlinien kontrolliert.“
Die Pfleger gehen gut mit den Pflegebedürftigen um. Sie nehmen sich Zeit, soweit das zu dritt bei 20 Bewohnern möglich ist.
Um 14.30 Uhr ist Feierabend. Der erste Tag war anstrengend. Am nächsten Tag werde ich an meine Grenzen stoßen.
Saskias Erlebnisse an den Tagen zwei bis elf könnt Ihr bei unserem Kooperationspartner Rheinische Post lesen.
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*Die Namen der Mitarbeiter des Awo-Heimes haben wir geändert.