Pflege

Erst abhaken, dann pflegen

Gute Pflege in Deutschland bedeutet Regeln einhalten, aufschreiben, prüfen. Monika Ott war Teil dieses System. Und weiß, wie Pfleger und Bedürftige daran zugrunde gehen.

von Daniel Drepper

Monika Ott hat viele Jahre mit den Regeln der Pflege gekämpft. Bis zum 23. Juni 2015.© Ivo Mayr

Dies ist ein Ausschnitt aus unserem neuen Buch „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Der Text erscheint parallel auf Zeit Online.


Monika Otts Karriere begann, als sie sich den Fuß brach. Wochenlang war sie an den Schreibtisch gefesselt. Ausgerechnet dem Papierkram, über den sie sich später immer ärgern wird, verdankt sie einiges. Ott verbindet bis heute eine Hassliebe zur Bürokratie. Damit passt sie gut ins deutsche Pflegesystem. Auch wenn sie am Ende die Seite wechselte.

Gekämpft hat Ott schon immer. Als kleines Kind kam sie mit ihren Eltern aus Polen ins Ruhrgebiet. Mit 15 machte sie erst ein Praktikum im Krankenhaus, dann eine Ausbildung bei den städtischen Kliniken in Dortmund. Zum Examen war sie hochschwanger mit ihrem Sohn, eine Tochter kam zwei Jahre später. Als der Vater sie und die Kinder kurz darauf verließ, schlug sich Ott als Alleinerziehende durch. Online lernte sie Michael aus Oberbreisig kennen, das liegt zwischen Koblenz und Bonn. Mit den Kindern zog sie zu ihm und fand einen Job in der ambulanten Altenpflege. Hier brach sie sich wenig später den Fuß.

Auto fahren, von Haus zu Haus humpeln, Treppen hoch und wieder runter, das ging erst mal nicht. „Aber meinen Kollegen Arbeit überlassen, das kann ich ganz schlecht.“ Also wurde Ott jeden Morgen mit dem Dienstwagen abgeholt, um Formulare und Abrechnungen im Büro zu bearbeiten. Erst übernahm sie die Rolle der Stellvertreterin. Als die Geschäftsführung ihren Vorgesetzten rausschmiss, leitete sie auf einmal einen ambulanten Pflegedienst in Oberbreisig. In wenig mehr als zwei Jahren von der Krankenschwester mit dem Aushilfsjob zur Chefin.

Bei einer Prüfung schaut sich der MDK 45 Minuten lang die Papiere und zehn Minuten lang den Bewohner an. – Monika Ott, Krankenpflegerin

Für Monika Ott kam damals alles auf einmal. Sie leitete eine Dienststelle mit Pflege, Hausnotruf und Essen auf Rädern. Zu den 40 Stunden Vollzeit in der Woche notierte Ott jede Woche zehn bis 15 Überstunden. Ihr Sohn war gerade eingeschult, die Tochter im letzten Kindergartenjahr. Zu Hause pflegte sie noch die Schwiegermutter. Und zweimal in der Woche ließ sie sich abends zur Pflegedienstleitung weiterbilden. Irgendwann wurde Ott klar: So geht es nicht.

Sie wechselte als stellvertretende Pflegedienstleitung in ein Heim der Johanniter, von der mobilen in die stationäre Pflege, um einen Schritt zurückzutreten. Das war 2009. Das erste Jahr, in dem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Pflegenoten an Heime vergab. Davor schrieb die Pflegedienstleitung die Dienstpläne, organisierte die Arbeit und die Weiterbildungen der Mitarbeiter und sprach mit Angehörigen und Bewohnern. „Auf einmal sollte auch ich das alles nicht mehr machen, sondern nur noch Papiere wälzen.“ Für manche der älteren Kollegen war die Bürokratie, die für die Pflegenoten verlangt wurde, nicht nur ungewohnt, sondern ein Grund, das Handtuch zu schmeißen, erinnert sich Ott. Sie wurde gebraucht.

In Otts neuem Johanniter-Heim wurden für die erste MDK-Prüfung Formulare angeschafft. Das Heim ließ eine externe Beraterin kommen. Ein halbes Jahr Stress für das gesamte Haus. Die Note fiel gut aus, doch die Pflege verbesserte sich dadurch kaum. „Bei einer Prüfung schaut sich der MDK 45 Minuten lang die Papiere und zehn Minuten lang den Bewohner an“, sagt Ott. Es ging um die Dokumentation von Pflege und das Einhalten von Regeln.

Solange die Dokumente stimmten, stimmte auch die Note. Das ist bis heute so. „Der Prüfer fragt, ob wir im Handbuch auch ein Konzept zum Ernährungsmanagement haben“, erzählt Ott. „Dann suche ich im Inhaltsverzeichnis, öffne die entsprechende Seite. Worauf der Prüfer sagt: ‚Zeigen Sie mir den Satz, dass der Bewohner sich seine Portionsgröße individuell aussuchen darf. Ah ja, da ist ja der Satz. In Ordnung, steht drin.‘ Haken dran. Die anderen sechs Seiten will er gar nicht sehen.“

„Auf rohen Eiern das Gleichgewicht halten“

Die Bürokratie meisterte Ott zunächst mit Fleiß und Ordnung. Was ihr nicht gefiel, war das Hamsterrad, der fehlende Kontakt zu den Menschen. 112 Bewohner hatte das Johanniter-Heim. „Wenn da jemand auf Sie zukommt und sagt: ‚Meiner Mama geht’s nicht gut‘, und Sie dann erst mal fragen müssen: ‚Wie heißt denn Ihre Mama und in welchem Wohnbereich wohnt sie?‘ Dann kann ich das, was Pflege ausmacht, gar nicht mehr erfüllen.“

Wenn Pflege nicht Pflege am Menschen ist, dachte Ott, dann wolle sie etwas anderes. Sie bewarb sich in der Fliedner Residenz in Bad Neuenahr. Ein ruhiges Haus, sehr persönlich, nur 56 Bewohner. Ott kannte jeden, fühlte sich wohl. Wenn nur die Formulare nicht gewesen wären, die Bürokratie. Alles war so kompliziert, und viele Mitarbeiter hatten keine Lust, sich durch den Papierwust zu kämpfen.

Wenn die Wissenschaftler hätten werden wollen, wären die studieren gegangen. – Monika Ott, Krankenpflegerin

Von Dienstleistern ließ Ott sich Probeformulare kommen, von der Dan Produkte Pflegedokumentation GmbH oder von Standard Systeme – Intelligente Pflegeprodukte. Firmen, die zum Teil nichts anderes machen, als Formulare für die Pflege herzustellen. Doch Monika Ott waren die Vorlagen zu wissenschaftlich. Deshalb gestaltete sie abends am Wohnzimmertisch eigene Tabellen und Anleitungen. Sie investierte die zusätzliche Arbeit, weil die Pfleger überfordert waren. „Wenn die Wissenschaftler hätten werden wollen, wären die studieren gegangen“, sagt Ott.

Sie hatte schon immer den Traum, etwas zu verändern in der Pflege. Plötzlich konnte sie mitbestimmen. „Ich habe wirklich gedacht: Jetzt fängt Klein-Moni an, die Welt zu bewegen.“ Sie gab alles. Aber sie erkannte, dass es nicht reicht, dass sie vor die Hunde gehen würde. Abends kam Ott um halb sechs nach Hause, kümmerte sich um die Kinder und setzte sich dann an den Laptop, um Formulare zu entwerfen oder Dienstpläne zu schreiben. „Und irgendwann sagte mein Mann dann: Guck mal, wir sitzen jetzt schon drei Stunden nebeneinander. Kannst Du mir auch mal Guten Tag sagen?“

Immer mehr fühlte sich Ott wie der verlängerte Arm der Behörden. Hunderte Dokumente hatte sie auf ihrem Laptop, Expertenstandards, Qualitätsrichtlinien, Gesetze und Verordnungen. Bei all dem hatte sie immer ihre Mitarbeiter im Auge. Die wollte sie vor der Bürokratie schützen, damit überhaupt noch Zeit für die Bewohner blieb. „Auf rohen Eiern das Gleichgewicht halten. Das ist die Arbeit als Pflegedienstleitung.“

Pfleger stehen unter Generalverdacht

Verbiegungen waren für Ott Alltag. Medikamente zum Beispiel. In Pflegeheimen mussten angebrochene Packungen innerhalb von 24 Stunden entsorgt werden, sobald ein Bewohner die Medikamente nicht länger nahm. Wenn in der 100er Packung noch 90 Tabletten übrig blieben, durften sie nicht für andere Bewohner mit gleichen Verordnungen verwendet werden. „Wir warfen dann alle Packungen weg“, sagt Ott. „Dabei war unser Lager genauso gut kontrolliert wie eine Apotheke.“

Und alles musste dokumentiert werden. Sonst ist das Heim dran. – Monika Ott, Altenpflegerin

Auch die Abhängigkeit von den Ärzten nervte Ott. Wenn Fiebermedikamente verschrieben wurden, musste der Arzt dazuschreiben, ab welcher Temperatur die Arzneien gegeben werden durften. Vergaß er das, musste er neu kontaktiert werden. „Dabei ist das Basiswissen für jeden Pfleger“, sagt Ott. Das Gleiche passierte bei Behandlungen mit Bepanthen, einer einfachen Wundheilsalbe. „Wenn meine Pfleger Bepanthen ohne ärztliche Anordnung und ohne Dokumentation benutzten, galt das als medizinisches Fehlverhalten. Wenn so etwas der MDK sieht, gibt es ‚mangelhaft‘ in der Pflegenote.“ Pflegern wird nichts zugetraut. Sie stehen unter Generalverdacht.

An warmen Tagen mussten Ott und ihre Kollegen bei jedem Bewohner Fieber messen, auch wenn der Bewohner sich wohlfühlte. „Fenster morgens auf, mittags zu, Vorhänge davor, Oberlicht aus wegen der Wärmeentwicklung, Ventilatoren an“, sagt Ott. Aus Angst vor Klagen durch die Pflegekassen hielten sich Ott und ihre Kolleginnen genau an die vorgeschriebenen Hitze-Regeln. „Und alles musste dokumentiert werden. Sonst ist das Heim dran, wenn einer bei Hitze stirbt.“

Für Pflege bleibt kaum Zeit

Ott und ihre Mitarbeiter sprangen von Regel zu Regel. Allein das Inhaltsverzeichnis ihres Handbuches Qualitätsmanagement ist 37 Seiten lang und hat mehrere Hundert Unterpunkte. Für Pflege blieb immer weniger Zeit.

Eine Studie im Auftrag der Bundesregierung stellte 2013 fest, dass allein die Pflegedokumentation jedes Jahr Arbeitszeit im Wert von 2,7 Milliarden Euro kostet. Die Politik will seither die Bürokratie verringern. Ein bundesweites Projekt soll die verschwendete Arbeitszeit reduzieren. Schon 40 Prozent aller Pflegeheime und Pflegedienste machen mit. Dass es was hilft, bezweifeln viele Pfleger. Seit Jahren steckt ihnen die Bürokratie in den Knochen.

Für jeden Bewohner in einem Heim müssen Pflegekräfte zum Beispiel aufschreiben, was er kann, was er können soll – und was sie dafür zu tun gedenken. „Teilweise sind diese Planungen bis zu 80 Seiten lang. Davon sind vielleicht zehn Seiten wirklich wichtig“, sagt Ott. Für jeden Bewohner müssen die Pfleger auch notieren, was sie mit ihm machen, wenn das Pflegeheim brennt. Als ob irgendjemand in die Pflegeplanung guckt, wenn das Sofa in Flammen steht.

„Pflegekräfte schauen in diese Planungen ohnehin nie rein“, sagt Ott. Eigentlich gibt es das Prinzip der Bezugspflege. Jeder Bewohner hat einen Pfleger, der für ihn zuständig ist. Der sollte auch die Pflegeplanung schreiben. In der Realität beschäftigen Heime jemanden, der nichts anderes macht, als die Pflegeplanungen für alle Bewohner zu schreiben. Damit die Dokumentationspflicht erfüllt ist.

„Ich habe gekündigt“ – „Endlich“

Monika Ott fing aus diesen Gründen irgendwann damit an, als „Oberschwester Hildegard“ ein Blog zu schreiben. Um sich Luft zu machen. Aber das reichte nicht. Eine externe Prüfung brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Eine von Otts Mitarbeiterinnen hatte das Buch, in dem die Betäubungsmittel dokumentiert werden, mit an ihren Arbeitsplatz genommen, statt es im Betäubungsmittelschrank zu verstauen. Keine große Sache, aber ihre direkte Chefin machte Ott dafür verantwortlich. Ott hatte genug.

„Ich hatte so vielen Königen zu dienen, dem MDK, der Heimaufsicht, der Bauaufsicht, dem Gesundheitsamt, da brauchte ich nicht auch noch diesen internen Kampf auf Leitungsebene.“ Ott setzte sich an ihren Dienst-PC und fragte sich: Was spricht eigentlich noch dafür, dass du dir das weiter antust?

Das war am 23. Juni 2015. Der Streit war keine halbe Stunde her. Monika Ott schrieb ihre Kündigung, druckte sie aus, legte sie ihrer Chefin auf den Tisch. Und rief ihren Mann an. „Ich habe gekündigt.“ Der sagte nur: „Endlich.“

Der Abschied fiel Ott schwer, aber sie brauchte eine Pause. Sie bewarb sich bei einem Landarzt, kündigte nach ein paar Monaten wieder und wechselte Anfang 2016 als Gutachterin zum Prüfdienst MDK, ausgerechnet. Ott fühlte sich ausgebrannt. „Ich habe einfach keine Kraft mehr, in diesem unsinnigen System als Leitungskraft zu arbeiten.“ Beim MDK bleibt sie nun weiter in der Pflege, hat aber einen klar definierten Aufgabenbereich, ohne Verantwortung für andere übernehmen zu müssen. Und abends wieder Zeit für ihre Kinder.


Unser Reporter Daniel Drepper hat ein Buch über den Kampf um gute Pflege geschrieben. „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ ist im Sommer 2016 erschienen. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Informationen über alle 13.000 deutschen Pflegeheime und weitere Recherchen zum Thema gibt es auf unserer Themenseite unter correctiv.org/pflege.

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