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30.000 demonstrieren für Erdogan und die Demokratie. Und der nimmt gleichzeitig Journalisten fest.

Mehr als 30.000 Menschen haben am Sonntag für Erdogan demonstriert. Auf der Bühne hetzten Sprecher gegen die Bundesregierung und gegen Journalisten. Die Gegendemos waren vergleichsweise klein. Insgesamt gingen weniger als 2000 Leute gegen Erdogan auf die Straße. Die Polizei vermeldete keine Zwischenfälle. Trotzdem provoziert Erdogan weiter.

von Daniel Drepper

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Am Tag nach den Demonstrationen könnte der türkische Präsident Erdogan eigentlich zufrieden sein. Doch er ist es nicht. Stattdessen provoziert er weiter. 30.000 Anhänger hatten gestern an der Deutzer Werft demonstriert, für Erdogan und gegen die Putschisten. Sie beschworen die Demokratie und die Meinungsfreiheit in der Türkei unter Erdogan. Die Medien würden Erdogan falsch darstellen. Zwischendurch forderte die Menschenmenge lautstark die Todesstrafe. Wir hatten live berichtet.

Die Demo verlief ruhig, es gab keine Krawalle. Auch die Polizei war zufrieden, lobte ihre Arbeit in einer Pressemitteilung. Polizeipräsident Jürgen Mathies zeigte sich in einem Interview mit dem WDR erleichtert. Trotz Angst um mögliche Zusammenstöße war es den 30.000 Menschen möglich, für Erdogan zu demonstrieren. Lediglich eine Live-Schalte in die Türkei untersagten die Gerichte vor der Veranstaltung, drei Instanzen im Eilverfahren – aus Angst vor zu emotionaler Stimmung, vor einer Überforderung der Polizei.

Erdogan bestellt Gesandten ein

Trotzdem hatten die Veranstalter zu Beginn Livebilder aus der Türkei gezeigt. Das hatte die Polizei Köln jedoch direkt unterbunden. Das regt nun Präsident Erdogan so auf, dass er für den heutigen Montag den Gesandten der deutschen Botschaft einbestellte.

Erdogan hatte wegen der abgesagten Liveschalte schon vor der Demonstration kritisiert, dass Deutschland Probleme mit der Meinungsfreiheit habe. Gleichzeitig nimmt er in der Heimat reihenweise Journalisten fest, verfolgt sogar deren Familienangehörige – und tritt damit demokratische Grundwerte mit Füßen. Nun geht Erdogan den nächsten Schritt, eskaliert die Situation weiter. Er droht, den Flüchtlingspakt mit der EU zu kündigen, wenn den Türken nicht ganz bald – bis Oktober – die Visafreiheit genehmigt würde.

Warum demonstrierten die Türken?

Warum demonstrierten Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, für Erdogan, für seine Türkei? Es scheint eine Mischung aus Vaterlandsliebe, aus Stolz, aus Trotz zu sein. Selbst aus Belgien und Berlin waren die Türken am Sonntag angereist. Ebru Tasdemir hat für Zeit Online einige interessante Stimmen zusammengetragen. Erdogan dankte seinen Fans in einer Grußbotschaft. „Heute ist die Türkei stärker, als sie je vor dem 15. Juli gewesen ist“, sagte Erdogan.

Spannend sind die verschiedenen Einschätzungen der deutschen und internationalen Presse. Die Süddeutsche Zeitung nennt die Demo „Pegida auf türkisch“, die Stuttgarter Zeitung schreibt vom Import des innertürkischen Konfliktes nach Deutschland und der holländische De Standaard lobt die Stadt Köln, die Stärke bewiesen habe. 

Einschätzungen der Reporter

Für correctiv.ruhr waren gestern drei Reporter in Köln auf den Straßen unterwegs: Stefan Laurin, Sebastian Weiermann und Hüdaverdi Güngör. Wir haben alle drei um eine Einschätzung des Tages gebeten.

„Eine Menge, bereit ihrem Führer zu folgen, unkritisch, erfasst von einer Mischung aus religiöser Inbrunst und nationalem Fanatismus“, beschreibt unser Reporter Stefan Laurin seine Eindrücke der gestrigen Demo, die ihn nachdenken lässt. „Es stellt sich die Frage, wie weit ein Zusammenleben mit Menschen möglich ist, die diese Gesellschaft ablehnen und dies bewusst und mit großem Selbstvertrauen tun“, sagt Laurin. „Viele in der Türkei kämpfen für Demokratie und Freiheit. Der Westen ist mehr ihre Heimat als er es für diejenigen ist, die gestern in Köln auf die Straße gingen.“

„Man darf nicht vergessen, dass das Zusammenkommen so vieler junger, in Deutschland geborener Menschen das Armutszeugnis unserer gescheiterten Integrationspolitik ist“, sagt unser Reporter Hüdaverdi Güngör. „Erdogan gibt diesen Menschen vor allem das Gefühl, dass sie immer noch ein Teil der Türkei sind. Ein Gefühl, welches wir hier bis heute nicht endgültig aufbauen konnten.“ Güngör plädiert dafür, diese Menschen nicht aufzugeben, sondern einen Dialog aufzubauen, „um berechtigte Kritik an Erdogan ausüben zu können, ohne dass es heißt, dass der Westen keine starke Türkei sehen will.“ Geichzeitig sollten sich die Medien nicht nur Erdogan, sondern auch dessen Feindbild Fetullah Gülen genauer ansehen. „Was treibt dieser Mann? Ist er wirklich so mächtig wie behauptet?“

„Die Pro-Erdogan-Kundgebung war bis ins letzte Detail perfekt organisiert. Und auch durch die räumliche Trennung zu den restlichen Veranstaltungen in der Stadt bestand nie die Gefahr einer Eskalation“, sagt unser Reporter Sebastian Weiermann. „Dass die Polizei mehrere Wasserwerfer direkt an der Erdogan-Demo aufstellte und die Liveübertragung des türkischen Präsidenten verbot, war ein schlechtes Zeichen für die demonstrierenden Menschen. Hier hätte sicherlich mehr Gelassenheit gut getan. Von einer Ansprache Erdogans wäre keine direkte Gefahr ausgegangen und Wasserwerfer lassen sich auch unauffällig im Hintergrund postieren“, sagt Weiermann. „Der Protest gegen Erdogan fiel zahlenmäßig enttäuschend aus. Dabei wäre eine laute, bunte und große Demonstration ein gutes Zeichen gegen den autoritären Umbau in der Türkei gewesen.“ 

Auch den Umgang mit der rechtsextremen Demo kritisiert Weiermann. „Die Rechten hatten einen Demonstrationszug vor dem Oberverwaltungsgericht durchgeklagt. Der Polizeiführung vor Ort schien dies allerdings egal zu sein. Wegen geringer Vergehen wurde den Rechtsextremen verboten zu laufen. Zum Beispiel wegen einigen alkoholisierten Teilnehmern und sogenannter Schutzbewaffnung wie mit Quarzsand gepolsterte Handschuhe. Darüber kann man sich freuen, denn kein Mensch braucht solche Aufmärsche, aber es zeigt auch, dass die Polizei bei Versammlungen missliebiger Gruppen willkürlich vorgehen kann. Auch das ist kein Zeichen demokratischer Gelassenheit“, sagt Weiermann.

Aus Köln haben für uns berichtet: Stefan Laurin, Sebastian Weiermann und Hüdaverdi Güngör. Redaktionell betreut haben den Liveblog Bastian Schlange und Daniel Drepper.