Ein Spiel auf Zeit, auf Schulzeit
Das schnelle Abitur in acht Jahren ist extrem unbeliebt. Statt es abzuschaffen, setzt die NRW-Landesregierung lieber auf flexible Lösungen. Aber nicht nur die Landesregierung.
Die Umfrage vom Frühjahr war eigentlich sehr eindeutig: Rund vier Fünftel der Eltern mit Kindern auf einem Gymnasium sind für eine Rückkehr zum neunjährigen Abitur. Trotzdem mahnten Landespolitiker, Lehrerverbände aber auch Elternvertreter erst noch auf die ergänzenden Erläuterungen zur Umfrage des Bielefelder Psychologieprofessors Rainer Dollase im Auftrag der Landeselternschaft NRW zu warten. Im Landtag vermieden alle Parteien außer den Piraten eine eingehende Beratungen übers verkürzte Abitur mit Hinweis auf die fehlende Endfassung der Umfrage. Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) erwähnte noch zum Schulauftakt Mitte August die immer noch nicht vorliegende Auswertung der Umfrage. Doch als Dollase dann endlich seinen Kommentarband zur Umfrage Ende August vorlegte, nahm kaum noch jemand Notiz davon. Das ganze war nur ein Spiel auf Zeit gewesen, auf Schulzeit.
Ein halbes Jahr vor den Landtagswahlen haben sich die meisten Parteien festgelegt. Schulfragen gehören zu den wenigen politischen Themen, die wirklich in NRW entschieden werden. Anmerkungen eines Professors aus Bielefeld zu seinen Zahlenkohorten scheinen da nicht mehr so wichtig.
Abitur wie früher?
Schulfragen sind Machtfragen. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten oder Konfliktlinien zwischen den Parteien. SPD und Grüne könnten ihre Regierung in Düsseldorf in Sachen Schule jedenfalls recht einmütig fortsetzen. Obwohl die allermeisten Gymnasiums-Eltern laut Dollases Ergebnissen unbedingt zum neunjährigen Rhythmus zurück wollen, am liebsten zum „Abitur wie früher“, setzen Grüne und SPD auf individuelle Lösungen. Die Debatten um die Schulzeit soll sich „endlich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren“, schreiben die Grünen: „Jedes Kind braucht seine eigene Zeit (…) Es ist nicht wichtig, ob Kinder 12, 13, oder 14 Jahre in die Schule gehen.“
Ähnlich klingt es bei der SPD, die sich auf ihrem Landesparteitag am Wochenende in Bochum für eine flexible „Zehn“ aussprach: Die 10. Klasse könne die einen direkt auf die 11 und 12 vorbereiten und von den anderen doppelt besucht werden, um den Stoff aus der Mittelstufe aufzufrischen und sich auf die Abschlussklassen vorzubereiten. Die Opposition, vor allem die FDP, die eher hinter dem „Turboabi“ steht, will nicht die einzelnen Schüler, wohl aber die Schulen über die Länge des Weges zum Abitur entscheiden lassen. In eine ähnliche Richtung denken CDU-Vertreter. Und die Landeselternschaft plant zwar einerseits ein Volksbegehren für eine Rückkehr zu einem flächendeckenden G9 mit wiederum umgestrickten Lehrplänen. Andererseits soll aber auch der schnelle Weg zum Abschluss weiter möglich bleiben.
Flexibilität an allen Fronten
Die Umfrage der Elternschaft brachte Bewegung in die Schuldebatte. Bis zu den Septemberbeschlüssen von SPD und Grünen hatten die Regierungsparteien an „G 8“ als Regelschulzeit festgehalten. Schulministerin Löhrmann hatte sich noch Anfang September und trotz massiver Ablehnung in Elternschaft und Bevölkerung erfreut darüber gezeigt, dass „endlich Ruhe eingekehrt“ sei in die Abiturstruktur. In den rot-grünen Koalitionsverträgen hatte man es ohnehin beim Schnellabi gelassen und nur auf „Entschärfungen“ für die gestressten Schüler gesetzt durch Entlastungen im Lehrplan und mehr Ganztag.
Auch CDU und FDP, die das achtjährige Abitur dereinst auf den Weg gebracht hatten, hielten der Schulzeitverkürzung bislang fest die Treue. Doch die Landes-FDP hat nicht nur die Umfrage der Landeseltern zum Umdenken bewogen. Auch eine Mitgliederbefragung stützt die neue Linie: 70 Prozent der FDP-ler wollen, das die Schulen selbst entschieden können, ein Landesparteitag im November wird darüber beschließen. Die CDU zögerte am längsten, doch nun wird von der Landtagsfraktion ein Reformvorschlag zu „G8“ bis Ende Oktober vorbereitet. Das Motto: Wahlfreiheit für die Schulen. Rückblickend sei die Einführung des verkürzten Abiturs ein Fehler gewesen, sagte der CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet am Donnerstag, 29.9.2016 – und zwar ein parteiübergreifender: Die Einführung des achtjährigen Abiturs sei 2005 die „allgemein vorherrschende Meinung gewesen“, über Partei- und Ländergrenzen hinweg.
Und mit dem Kurswechel der CDU ist nun die Ablehnung von G8 zu einem politischen Gemeinplatz geworden.
Hält der Schulkonsens? Wirklich?
Abiturdiskussionen werden die kommende Wahl wohl kaum entscheiden; eher schon Lehrerknapppheit an den Grundschulen. Außer der AfD fordert niemand ein kategorisches Zurück zum Abitur von früher. Die schulischen Kulturkämpfe der vergangenen Jahrzehnte – ob um die Konfessionsschulen oder den Ewigkeitskonflikt zwischen dem mehrgliedrigen Schulsystem mit Gymnasium an der Spitze und den Befürwortern der Gesamtschule – scheinen ausgekämpft. Der 2011 erzielte Schulkonsens, der längeres gemeinsames Lernen ermöglicht, aber gleichzeitig die Vielfalt der Schulformen bewahrt, er hält. Dabei sind die alten Diskussionen nicht wirklich obsolet, dass zeigt zumindest der Kommentarband von Professor Dollase.
Für den Bielefelder Forscher haben sich Eltern auch deshalb so klar für die Rückkehr zum neunjährigen Abitur ausgesprochen, um den Gesamtschulen diesen Vorteil wieder zu nehmen: „Die Alternative ‘Gesamtschule mit 9 Jahren’ scheint zu einer Trotzreaktion zu führen, weil Eltern nicht einsehen, dass sie diese Schulform wählen müssen, wenn ihr Kind zum Lernen länger brauchen sollte.“