Kind im Brunnen: Flüchtlinge im Jugendamt
Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Flüchtlinge im Jugendamt (IX)
Zwei dunkelhäutige Männer in schwarzen Anzügen stehen vor der Tür und versuchen Ordnung ins Gedränge zu bringen. Im Konferenzraum 002 ist es stickig am ersten sommerwarmen Tag des Jahres. Alle Sitzplätze sind belegt. Zuhörer lehnen und hocken an den Wänden. Weil sich einige noch in den Raum zwängen wollen, bleibt die Tür offen und die Klimaanlage ohne Wirkung, was den Saal weiter aufheizt. Aber das Publikum auf dem deutschen Jugendhilfetag murrt nicht, sie sind ja vom Fach.
Und der Anlass ist zu interessant: Die Ergebnisse einer großen Studie zur Situation von Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen (UMF) in Deutschland werden vorgestellt. Es ist die erste qualitative Evaluation zur Lage der so genannten UMF unter der Betreuung von Jugendämtern. Die Forscher hatten ihre Nase früh im Wind. Als sie 2012 ihr Vorhaben entwickelten, um von 2014 an bis 2017 Daten zu sammeln, ahnten sie nicht, welche Rolle das Thema in der Jugendhilfe bald spielen wird.
Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“
Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.
Zur Zeit werden von den Jugendämtern in Deutschland rund 62.000 junge Flüchtlinge betreut. Das sind mehr als ein Viertel aller nicht bei ihren Familien untergebrachten Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Die hohe Zahl ist ein Ergebnis der starken Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015. Im Eilverfahren beschloss der Bundestag in den bewegten Wochen noch ein Gesetz: Der staatliche Schutz des Kindeswohls gilt seither genauso für zugewanderte Minderjährige.
Die Jugendlichen können auf das gesamte Bundesgebiet verteilt werden. Vor Ort ist das jeweilige Jugendamt für Betreuung und Unterbringung zuständig, aber auch in Aufenthaltsfragen eingebunden. Häufig übernimmt das Jugendamt die Amtsvormundschaft. Es ist viel neue und zusätzliche Arbeit für die Ämter, Mitarbeiter und freien Träger. Und es sind viele neue Fälle in den Hilfen zur Erziehung. Wieder mal. Der Wachstumskurs in der Jugendhilfe geht weiter. Aber liegt das jetzt wirklich an den Flüchtlingen?
Kosten steigen seit Anfang der 90er
Ob in Duisburg, in Mettmann oder auch in Würselen, die Betreuung der UMF wurde von den Städten als „große Herausforderung“ für die kommunalen Haushalte und den Kostenpunkt „Hilfen zur Erziehung“ (HzE) beschrieben. Der bis in die erste Jahreshälfte 2016 „unverminderte Zuzug“ von UMF habe die stationären Erziehungshilfen in die Höhe schießen lassen. Und wenn die Beratungen der Kommunalhaushalte anstehen, verweisen Kämmerer und Bürgermeister oft auf die geflüchteten Jugendlichen als Grund für steigende Kostentitel.
Doch die Sache hat einen Haken.
Für die Begleitforscher und Datensammler der Jugendhilfe ist die Lage gar nicht so eindeutig: „Es ist allerdings darauf hinzuweisen“, schreibt die führende bundesdeutsche Arbeitsstelle für Jugendhilfestatistik von der TU Dortmund in ihrer aktuellen Auswertung, „dass die erneute ungebrochene Zunahme der Ausgaben im Bereich der Hilfen zur Erziehung und sonstigen Einzelfallhilfen nicht ausschließlich auf die neuen Herausforderungen durch unbegleitet eingereiste ausländische Minderjährige zurückzuführen sind.“
Tatsächlich steigen die Aufwendungen für Erziehungshilfen seit Anfang der 1990er Jahre und der Einführung des Jugendhilfegesetzbuchs stetig. Und zwar in den verschiedensten Hilfebereichen von Inobhutnahmen mit Heimunterbringung über die „Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche“ bis zu den sozialpädagogischen Familienhilfen.
Es ist eine Linie mit nur einer Richtung, lange vor der „Herausforderung“ minderjähriger Flüchtlinge. 2006 gab es bundesweit gerade einmal 900 von ihnen in Obhut der Ämter. Trotzdem war 2006 ein Rekordjahr der Jugend- und Erziehungshilfe. Gefolgt von einem Rekordjahr, von einem Rekordjahr und noch einem Rekordjahr. Bis heute. Die Ausgaben für Erziehungshilfen steigen so sicher wie die Preise für Bahnfahrkarten oder das Bier auf dem Oktoberfest.
Zwischen den Zahlen
Im Rekordjahr 2015, dem jüngsten statistisch ausgewerteten Kalenderjahr, wurden erstmals mehr als 10 Milliarden Euro für die Jugendsozialarbeit ausgegeben für mehr als eine Million Kinder und Jugendliche. Pro Person sind das durchschnittlich 10.000 Euro, eine einfache Rechnung. Schwerer ist es, Jugendhilfestatistiken zu erklären.
Denn natürlich gibt es keine einheitliche Jugendhilfe in Deutschland, die ja vor allem von Kommunen organisiert wird; allein in NRW agieren 163 Jugendämter. Die erhobenen Zahlen sind eher als eine Konstruktion zu verstehen. Sie beschreiben Trends, belegen die Ausgabenspirale. Sie sind aber nur aufsummierte Einzelergebnisse aus Städten und Kreisen, zwischen denen es überdeutliche Abweichungen gibt. Die HzE-Statistik fürs ganze Land und ebenso für ganz NRW zeigt zwar, wie sich die Ausgaben generell entwickeln. Die Wirklichkeit der Erziehungshilfe versteckt sich zwischen den Zahlen.
Die offiziellen Jugendhilfestatistiker der Technischen Universität Dortmund hatten für die Disparität zuletzt harsche Worte übrig. Die Unterschiede in der Bilanz von Hilfen und Kosten zwischen den einzelnen Jugendämtern, könnten auch darauf hinweisen, dass „unterschiedlich professionell und effizient“ gearbeitet werde, schreiben sie in ihren jüngsten Anmerkungen zur Jugendhilfe aus dem März 2017. Es gebe „gravierende und erklärungsbedürftige Unterschiede“ zwischen den Ämtern und vermutlich in jeder Stadt ein „unterschiedliches konzeptionelles Verständnis der Hilfearten“. Sprich: Es werden Äpfel und Birnen verglichen, jeder macht etwas anderes und bei den Hilfen zur Erziehung fehlt ein gemeinsames Konzept in den Jugendämtern. Ein miserables Zeugnis für die Branche.
Beispiele für die Uneinheitlichkeit sind nicht schwer zu finden. Etwa bei Inobhutnahmen, dem schärfsten Mittel des Jugendamtes. Eltern wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen, die Kinder werden „rausgenommen“ und in einer stationären Einrichtung oder bei Pflegeeltern untergebracht. Die Zahlen der Inobhutnahmen differieren nicht nur zwischen den Jugendämtern im Land, sie klaffen meilenweit auseinander.
Mittelwert aus Extremen
In Deutschland verharrt die Globalzahl der Inobhutnahmen seit Jahren auf einem hohen Niveau. Rechnet man die unbegleiteten Flüchtlinge heraus, liegt die Gesamtzahl derzeit bei etwa 35.000 in Deutschland, 2006 waren es 26.000, am Ende der 1990er Jahre aber auch schon mal mehr als 31.000. In Nordrhein-Westfalen wurden für 2015 mehr als 16.000 Inobhutnahmen angezeigt, ohne die jungen Flüchtlinge fällt die landesweite Zahl der Inobhutnahmen sogar leicht gegenüber den Vorjahren. Schaut man sich allerdings die Entwicklung in einzelnen Kommunen an, wird klar: Ein Gesamtbild gibt es nicht.
Zum einen bleiben es natürlich Einzelfälle, individuelle Schicksale, die sich nur schlecht in eine Normalverteilung einzwängen lassen. Andererseits setzt sich der Mittelwert aus lauter Extremwerten zusammen. Und wird damit ungefähr so aussagekräftig wie ein Wetterbericht für ganz Europa: Im kontinentalen Mittel wird es morgen zehn Grad, von Island bis zu den griechischen Inseln.
Die Städte Düsseldorf, Dortmund und Wuppertal haben in den letzten Jahren relativ viermal so viele Kinder in Obhut und aus den Familien genommen wie die Stadt Duisburg, und doppelt so viele wie die Stadt Essen. Die Stadt Bottrop zählt ungefähr doppelt so viele Inobhutnahmen wie Mülheim an der Ruhr. Es sind regional, sozial und wirtschaftlich oft vergleichbare Städte mit den gravierendsten Unterschieden; verwirrende Ergebnisse in einer Hoheitsaufgabe von Jugendämtern.
Erstaunliche Ergebnisse werden auch im überfüllten Raum 002 präsentiert, aus der brandneuen Flüchtlingsstudie. Zu mehr als 1.300 der unbegleiteteten minderjährigen Flüchtlinge haben Sozialpädagogen in Heimen und Wohngemeinschaften vor allem im Süden und Westen Deutschlands regelmäßig detaillierte Erhebungsbogen ausgefüllt. Die „Begeisterung für wissenschaftliche Begleitforschung“ sei in hektischen Zeiten ja bekanntlich besonders ausgeprägt, flachst Michael Macsenaere, einer der ariviertesten Jugendhilfeforscher des Landes zur Freude des Fachpublikums.
Bleiberecht entscheidend für Entwicklung
Dann ist Schluss mit lustig, es geht ans Eingemachte: Drei Viertel der UMF aus der Studie leben in Wohngruppen mit anderen Flüchtlingen, drei Viertel sind zwischen 16 und 17 Jahre alt, sie stammen aus 45 Ländern, jeder Fünfte mit einem ungeklärten Aufenthaltsstatus, 80 Prozent sind zumindest geduldet. Für die Ergebnisse und die Effektivität der Hilfen spiele das Bleiberecht die alles entscheidende Rolle, sagt Macsenaere – und eben „nicht das Alter, nicht das Geschlecht und nicht das Herkunftsland“. Für die Entwicklung der Jugendlichen sei nicht ihr „kultureller Hintergrund“, sondern die Bleibeperspektive entscheidend. Sei die unsicher, machten die Flüchtlinge nicht mit, hätten die Hilfen wenig Sinn, würden die jungen Menschen von den Sozialpädagogen nicht erreicht. Aber das funktioniert auch umgekehrt.
Ist nämlich eine Bleibeperspektive vorhanden, sind die Pädagogen kompetent in Asylverfahren, bleibt der Flüchtling mehr als sechs Monate in der betreuten Wohngruppe, am besten 18 Monate und länger, sind die Ergebnisse der Flüchtlinge „außerordentlich gut“. Mehr als 40 Prozent der UMF sprechen danach fließend deutsch. Die Chancen auf ein gutes Leben in Deutschland werden von den Hauptamtlichen überwiegend als „sehr gut“ beurteilt, obwohl die Jungen und wenigen Mädchen schwer traumatisiert seien: Achtzig Prozent von ihnen geben an, Gewalt erlebt zu haben, vor allem im Krieg und auf der Flucht. Trotzdem fielen die Bewertungen der sozialen Kompetenzen der UMF nach 18 Monaten dreimal, noch einmal: DREIMAL so gut aus wie bei den einheimischen Jugendlichen in den Hilfen.
Die Studie belegt zwei Dinge: Sie zeigt den Nutzen von Jugendhilfe bei jugendlichen Flüchtlingen, bei offenbar motivierten jungen Menschen trotz Traumaerfahrungen. Und sie zeigt den Nicht-Nutzen von Jugendhilfe bei einer großen Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die nicht erst kürzlich zugewandert ist.
Und das ist leider nichts Neues: Die Abbruchquoten in Heimen und Wohngruppen, auch in Pflegefamilien sind auch im Mittelwert irrwitzig hoch. 2015 gab es in Deutschland 54,8 Prozent gescheiterte Heimunterbringungen. Und nur 45,2 Prozent verliefen, wie es der aufgestellte „Hilfeplan“ vorsah; in Nordrhein-Westfalen sogar nur 41 Prozent. Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen bei Pflegefamilien gelang etwas besser. Aber auch hier werden 46 Prozent, also fast die Hälfte, vorzeitig und ungeplant abgebrochen. Der Grund für die schlechten Ergebnisse? Vermutlich ist es ein ganzes Bündel.
Als ich Werner Fiedler das erste mal getroffen habe, sprudelte es gleich im Kaufhaus-Café aus dem ehemaligen Jugendamtler heraus: Jede gescheiterte Hilfe, erst recht jede gescheiterte stationäre Hilfe sei ein neuer „Beziehungsabbruch“, eine tiefe Erschütterung für die Jugendlichen, eine Erfahrung von Fremdbestimmung und dem Gefühl: „Ich kann mein Leben nicht selbst in die Hand nehmen, ich werde gelebt.“
Das will ihm nicht in den Kopf. Es sind für ihn keine Zahlen, keine Fälle, sondern Biografien, Prägungen. Und mit den Gefühlen von schrecklichen Erfahrungen, von Ohnmacht ist es wie beim Energieerhaltungssatz, wie in der Chemie. Nichts verschwindet, Wasser verdunstet in Wolken aus denen Regen fällt, der ins Grundwasser sickert, Bäche füllt, Flüsse, das Meer, Wasser verdunstet … Es gibt auch Kreisläufe des Unglücks.
Im stickigen Raum 002 rätselten die Fachleute noch lange miteinander: Warum ist es mit so vielen einheimischen Kindern und Jugendlichen in den Heimen, in den Erziehungshilfen eigentlich genauso wie mit den jungen Flüchtlingen ohne Bleibeperspektive?