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Nein, Mediapart schützt keine übergriffigen Islamologen

Die französische Onlineseite „Mediapart“ steht unter Beschuss: Sie soll von den möglichen sexuellen Übergriffen des Islamologen Tariq Ramadan gewusst und dies verschwiegen haben. Unser Faktencheck zeigt: Für diese Behauptung gibt es keine Hinweise oder gar Belege. Stattdessen scheint es um alte Rechnungen zu gehen.

von Annika Joeres

Der Schweizer Islamologe Tariq Ramadan. Frühere Anhängerinnen werfen ihm sexuelle Übergriffe vor.© MEHDI FEDOUACH / AFP

CORRECTIV recherchiert und veröffentlicht häufig mit dem französischen „Mediapart“ zusammen. Das investigative Online-Magazin hat zahlreiche politische Skandale aufgedeckt, etwa das Schweizer Bankkonto eines sozialistischen Finanzministers, der daraufhin zurücktreten musste, oder die wahrscheinlichen finanziellen Hilfen von Libyens Diktator Muammar Gaddafi an Ex-Präsident Nicolas Sarkozy. Auch deckte „Mediapart“ die sexuellen Übergriffe des grünen Parteivorsitzenden Denis Baupin auf. Das zwang Baupin zum Rücktritt von der Vizepräsidentschaft der Nationalversammlung.

Das Online-Magazin setzt sich auch dafür ein, dass Muslime und ihre Geistlichen dieselben Rechte genießen wie andere Religionsanhänger. An der Spitze steht Edwy Plenel, der für seine liberale Haltung zuletzt immer wieder kritisiert wurde. So diskutierte Plenel zwei Mal mit dem umstrittenen Islamologen Tariq Ramadan auf Veranstaltungen. Verschiedene Frauen werfen Ramadan sexuelle Belästigung und Ausbeutung vor. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn. Nahezu zeitgleich kaum auch „Mediapart“ und in aller erster Front Chefredakteur Plenel in die Kritik:

Ex-Premierminister Manuel Valls will, dass „Mediapart“ in die „Knie geht“ und von der „öffentlichen Debatte ausgeschlossen wird“. Auch Kollegen greifen das Investigativ-Medium an: Der konservative Fernsehjournalist Franz-Olivier Giesbert sagte über Plenel, er sei „die Schande Frankreichs“. Ihren Höhepunkt erreichte die Debatte, als „Charlie Hebdo“, das Satiremagazin, dessen Redaktion vor zwei Jahren von islamistischen Terroristen nahezu ausgelöscht wurde, vier Karikaturen von Plenel auf eine rote Titelseite setzte. Sein Schnurrbart verdeckte abwechselnd die Augen, den Mund und die Ohren. Ihr Tenor: Plenel habe die sexuellen Übergriffe von Ramadan absichtlich in seinen öffentlichen Diskussionen verschwiegen.

Was ist dran an den Vorwürfen? Kommen wir zu den Fakten.

Wer ist Tariq Ramadan?

An dem Schweizer Islamologen scheiden sich in Frankreich die Geister wie an keinem zweiten. Bis zu den Anklagen von zwei Frauen im Oktober war Ramadan Professor an der britischen Oxford-Universität und außerdem an einer Universität in Doha, er trat in zahlreichen französischen Talkshows und arabischen Sendern auf, wie etwa bei „Al-Jazeera“.

Ramadan hat eine große muslimische Fangemeinde und wurde 2004 vom „Time Magazin“ zu den einflussreichsten Köpfen der Welt gezählt. Und er ist der Enkel der Gründer der Muslimbrüderschaft. Ramadan ist konservativer Islamologe, der den Schleier für Frauen als „Pflicht“ bezeichnet hat. Seitdem der amerikanische Filmmogul Harvey Weinstein öffentlich der sexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen bezichtigt wurde, fühlten sich auch Ramadans vermutliche Opfer ermutigt, gegen den geistigen Führer auszusagen.

Was hat Mediapart mit Ramadan zu tun?

Edwy Plenel saß 2015 bei zwei Veranstaltungen mit Ramadan auf dem Podium. Dafür wurde er schon damals scharf kritisiert. Plenel erwiderte damals, „Ramadan sei ein respektabler Intellektueller“.

Der Mediapart-Journalist Mathieu Magnaudeix hat 2016 vor Bekanntwerden der Vorwürfe ein fünfteiliges Porträt über Ramadan geschrieben, das wenig schmeichelhaft war. Darin beschreibt er ihn als „Rattenfänger“, als jemanden, der Menschen um sich schart, eloquent ist und Macht ausübt. Er bezeichnet seine Analysen über den arabischen Frühling als „wenig überzeugend“. Ramadan selbst reagierte mit einem Video auf diese Recherche, in dem er sich über die Methodik des Journalisten beschwert, der immer wieder die ihm öffentlich vorgeworfene zweideutigen Aussagen, gegenüber Terroristen beispielsweise, auf ihre Wahrhaftigkeit überprüft.

Nun wurde Magnaudeix vorgeworfen, von den zahlreichen außerehelichen Affären Ramadans gewusst zu haben. In einem Tweet antwortete der Mediapart-Journalist, eine einzige Frau habe ihm von Ramadans „Unzucht“ erzählt, nicht aber von Übergriffen.

Gibt es Beweise dafür, dass „Mediapart“ Information über Ramadans sexuellen Übergriffe zurück gehalten hat?

Nein. Weder Ex-Premierminister Manuel Valls noch „Charlie Hebdo“ haben je einen Beweis oder auch nur ein Indiz dafür vorgelegt. Die Satirezeitung hat zwar ihre Titelseite damit bestückt, aber im Inneren des Heftes gab es nicht einmal einen Artikel dazu. Als die ersten Vorwürfe gegen Ramadan im Oktober laut wurden, hat „Mediapart“ darüber berichtet. Und erst einige Tage später erschien die Titelseite mit Plenel bei „Charlie Hebdo“.

Die Mediapart-Journalistin Marine Turchi recherchierte anschließend bei den Opfern, es folgte ein vierseitiger, exklusiver Artikel über Ramadan, wie er Frauen mit fiktiven Anwälten bedroht, sie gewaltsam zu sexuellen Akten gezwungen und mit SMS-Lawinen eingeschüchtert haben soll.

Wozu diente die Debatte eigentlich?

Der Konflikt zwischen einigen Politikern und „Mediapart“ rührt von einer tiefen ideologischen Kluft. Der Mediapart-Chef Plenel hat sich in Frankreich, das in den vergangenen Jahren unter drei großen Attentaten litt (der Mord an der Redaktion von Charlie Hebdo, der Waffenüberfall auf das Bataclan in Paris und der Lastwagenfahrer, der in Nizza 86 Menschen überfuhr), mit seiner freundlichen Haltung zu Muslimen viele Feinde gemacht.

Vor dem ersten großen Angriff auf „Charlie Hebdo“ veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Pour les musulmans“ („Für die Muslime“), in dem er die zunehmenden islamophoben Übergriffe in Frankreich verurteilte und zu einer Gemeinschaft aller Religionen aufrief. Schon Anfang Oktober, lange vor den öffentlich gewordenen Anschuldigungen gegen Tariq Ramadan, sagte Ex-Premierminister Valls im konservativen „Figaro“, Plenel sei ein „Agent des Islam“. Denn über den aktuellen Fall hinaus ist es eine Debatte innerhalb der französischen Linken, die es in dieser Form in Deutschland nicht gibt: Die eine Gruppe der Linken wie Charlie Hebdo wirft Plenel vor, zu wohlwollend mit Muslimen umzugehen und die Augen vor ihrer Radikalisierung zu verschließen. Die andere Linke wie „Mediapart“ wirft ihren Gegnern vor, alle Muslime zu stigmatisieren und Muslime und Terroristen gefährlich gleich zu setzen. 

Wie geht es weiter?

Inzwischen erfährt „Mediapart“ auch Unterstützung. „Wir haben es hier mit einer politischen Kampagne zu tun, die absolut nicht für die Rechte der Frauen eintritt, sondern von Hass (…) geprägt ist“, schreiben 130 Intellektuelle, Feministen und Journalisten in einem Aufruf. „Jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern, zu schreiben und zu bebildern, ganz besonders Charlie Hebdo“, heißt es darin. Aber auch sie hätten das Recht zu sagen, dass der Titel von „Charlie Hebdo“ hasserfüllt und beleidigend war. Auch Erik Empatz, Chefredakteur der größten Satirezeitung in Frankreich, der „Canard Enchainé“, bezeichnete die Hetze auf Plenel als „dumm und gemein.“

Am vergangenen Mittwoch hat Mediapart eine Fernsehsendung produziert, in dem sie bekräftigt, grundsätzlich solidarisch mit der Redaktion von „Charlie Hebdo“ zu sein, die noch immer Morddrohungen erhält. Die Journalisten verteidigen aber weiterhin ihre Arbeit über Ramadan und wollen sich zukünftig nicht mehr zu dieser „erfundenen Affäre“ äußern.

Unsere Einschätzung: „Mediapart“ hat Ramadan nicht geschützt. Ganz im Gegenteil: Sie stießen nach Bekanntwerden der Vorwürfe eigene Recherchen an und ließen mutmaßliche Opfer von Ramadan zu Wort kommen.