Narrativ der Desinformation: Migration verdrängt deutsche Traditionen
„Zipfelmützenmann“ statt Nikolaus und „Traditionshasen“ statt Osterhasen: Gehen Traditionen verloren, weil Menschen mit anderen Religionen in Deutschland leben? Das Narrativ nutzen Rechte rund ums Jahr zu verschiedenen Anlässen – oft dienen Falschmeldungen als vermeintliche Belege.
Die Schokoladen-Weihnachtsmänner im Supermarktregal sehen aus wie jedes Jahr, nur das Preisschild nicht: „Jahresendfigur“ steht dort. Ein Foto davon veröffentlichte ein Nutzer Mitte November auf Facebook, zusammen mit der Behauptung, es zeige das neue Sortiment einer großen Supermarktkette in Deutschland. Eine Falschmeldung, wie unsere Recherche ergab. Doch die Empörung lies im Netz nicht lange auf sich warten und die Wenigsten hinterfragten das Foto.
Unter dem Beitrag kommentierten Nutzer: „Unfassbar… warum darf man uns im eigenen Land den Glauben wegnehmen???“, „Aber eine Islamisierung findet nicht statt..“, „Unfassbar wie wir auf Muslime Rücksicht nehmen Sie aber auf uns überhaupt nicht“, „Bitte lasst die Jahresendfigur in den Regalen, genauso wie den Winterstern“ und „Wer sowas kauft sollte einen Stempel in den Ausweis bekommen als Deutschlandhasser“.
Obwohl im Originalbeitrag nichts von Muslimen stand, war das Foto für viele Kommentatoren der vermeintliche Beweis für einen drohenden Untergang der deutschen Kultur. Und das hat einen Grund: Rechte Webseiten, Blogger und Politiker wiederholen diese Erzählung seit Jahren. Die Botschaft ist immer dieselbe: Traditionelle deutsche Produkte und christliche Traditionen werden angeblich aus Rücksicht auf Andersgläubige neutral umbenannt.
Diese Taktik steckt hinter den Falschmeldungen
Durch immer wiederkehrende Falschmeldungen soll im Kopf der Leser ein bestimmtes Narrativ dauerhaft verfestigt werden: Andersgläubige bedrohten unsere Kultur. Toleranz führe zur Aufgabe deutscher Traditionen. Neben einer angeblichen Kulturverdrängung durch Andersgläubige gibt es zahlreiche andere Erzählmuster der Desinformation: Erzählungen über eine angebliche Manipulation und Zensur der Presse und Sozialen Netwerken, die Ankündigung eines „Bevölkerungsaustauschs“, der Deutsche gegenüber Geflüchteten und Migranten zur Minderheit mache, und Behauptungen über eine drohende Islamisierung.
Vor Weihnachten wird von all diesen Narrativen besonders gerne das der drohenden Kulturverdrängung ausgespielt – so wie im Fall der Weihnachtsmänner. Aber auch rund um das Jahr gilt: Wo eine deutsche Tradition ansteht, sind auch Desinformanten nicht weit.
Auch Ostern und Pfingsten sind angeblich bedroht
Pfingstrosen, Schoko-Osterhasen und Weihnachtsmärkte – zu all diesen Produkten kursierten schon Falschmeldungen, sie seien im Sinne der Toleranz umbenannt worden.
Mindestens seit 2015 teilen Faceboook-Nutzer die falsche Behauptung, aus „Respekt vor der islamischen Kultur“ würden die Grünen den Namen des Nikolauses in „Zipfelmützenmann” ändern wollen, wir veröffentlichten dazu einen Faktencheck. Den Untergang des Abendlandes befürchteten viele Menschen auch im November 2017, als eine Weihnachtsstern-Pflanze angeblich in „Liebesstern“ umbenannt wurde. Damals stellte der vertreibende Baumarkt klar, dass es sich um zwei unterschiedliche Pflanzen handelte, wie die Faktenchecker von Mimikama recherchierten. Trotzdem griffen rechte Internetseiten das Thema dieses Jahr wieder auf, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigen.
Die österreichische Zeitung Wochenblick behauptete im Mai 2018, „wegen Muslimen“ würden Blumenläden die christliche Bezeichnung „Pfingstrose“ in „Traditionsrose“ ändern. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Blumenläden gab es gar nicht, wie unser Faktencheck zeigte. Auch Schoko-Osterhasen gerieten schon in das Visier der Verteidiger des Abendlandes, weil sie auf Kassenbons als Traditionshasen gelistet wurden. Was dahinter steckt, haben wir in diesem Faktencheck im März 2018 aufgeschrieben.
Im November 2018 lehnten sich Betreiber einer Facebook-Seite besonders weit aus dem Fenster und behaupteten, Weihnachten werde abgeschafft, weil auf einem Plakat ein Weihnachtsmarkt als Lichtermarkt angekündigt wurde und das Kind auf dem Plakat nicht weiß war. Die Geschäftsführerin des betroffenen Weihnachtsmarktes in Elmshorn erklärte uns damals: „Der Markt hat auf jeden Fall einen christlichen Hintergrund.“ Er sei ein traditioneller, klassischer Weihnachtsmarkt. Den Namen Lichtermarkt gebe es seit 2007. Der Grund: 120.000 Lichtpunkte in der Weihnachtsbeleuchtung seien ein Alleinstellungsmerkmal. Der Name war demnach nicht gewählt, um sich zu distanzieren. Und Weihnachten wurde 2018 auch gefeiert.
Nicht immer waren Meldungen über Umbenennungen, die wir geprüft haben, also frei erfunden. Manchmal waren sie aus dem Kontext gerissen oder es gab bestimmte Gründe für die Begriffe.
Narrativ der Kulturverdrängung durch Toleranz
Die Amadeu-Antonio Stiftung veröffentlichte 2017 den Bericht „Toxische Narrative – Monitoring rechts-alternativer Akteure“. Die Stiftung ist laut einem Sachstands-Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem Jahr 2018 „eine als gemeinnützig anerkannte Stiftung bürgerlichen Rechts mit Sitz in Heidelberg, die sich für eine demokratische Zivilgesellschaft einsetzt und sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet.“
In dem Bericht der Stiftung werden Narrative beschrieben, die zehn untersuchte „rechts-alternativen“ Webseiten, darunter PI-News und Compact Magazin, am häufigsten nutzten. Dazu gehörte auch das Narrativ „Bedrohung von außen“, also Erzählungen darüber, dass Deutschen Gefahr durch Nicht-Deutsche drohe.
Gezeichnet werde damit das Bild eines angeblichen Angriffs auf deutsche Identität und Kultur, die durch „Volksaustausch“ und „Islamisierung“ bedroht seien. „Konkret sind dies zum Beispiel Erzählungen darüber, dass in Kindergärten kein Weihnachten mehr gefeiert werden dürfe oder der Weihnachtsmarkt in Wintermarkt umbenannt werden müsse. Durch solche Erzählungen wird Toleranz negativ überspitzt und als nachteilig für die eigene Identität inszeniert“, schreibt die Amadeu-Antonio Stiftung.
Aber nicht nur von Andersgläubigen und Zugezogenen wird die deutsche Tradition in dieser Logik bedroht. Es gebe auch Varianten, in denen für diese Angriffe nicht „Fremde“, sondern der politische Gegner verantwortlich gemacht würden, schreibt die Stiftung. „Häufig sind es Erzählungen darüber, dass zum Beispiel die Grünen etwas fordern würden, das konträr zur deutschen Kultur stünde.“ Womit wir wieder beim „Zipfelmützenmann“ wären.
Die AfD und der Osterhase
In ihrem Bericht untersuchte die Stiftung auch die Facebook-Seite der Bundes-AfD. Die „Bedrohung von außen und innen“ waren dort die zwei am häufigsten genutzten Narrative. In 15 Beiträgen im Untersuchungszeitraum thematisierte die AfD angebliche Angriffe auf deutsche Kultur und Identität.
Auch auf die weiter oben erwähnte Meldung zum umbenannten Schoko-Osterhasen war die Partei damals aufgesprungen. Der damalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen schrieb in einem Facebook-Beitrag: „Unser Land ist christlich geprägt, nicht islamisch; deshalb heißt es bei uns Osterhase, Osterei und Osterfest – nicht dagegen Traditionshase, Traditionsei und Traditionsfest.“
Unglücklich nur, dass die AfD selbst ihre parteieigenen Schoko-Osterhasen 2017 als „Schokohasen“, statt „Osterhasen“ bezeichnet hatte. Erst nach der öffentlichen Diskussion benannte die AfD sie im März 2018 in ihrem Facebook-Beitrag um: in „Schokoosterhasen“. Die Umbenennung ist im Bearbeitungsverlauf des Facebook-Beitrags weiter sichtbar.
Wenn Sie das nächste Mal von umbenannten Pfingstrosen, Schoko-Osterhasen und Weihnachtsmärkten lesen, handelt es sich also mit großer Wahrscheinlichkeit um eine neue deutsche Tradition: Falschmeldungen, die vorgeben, das Abendland zu verteidigen.