Hintergrund

Narrativ der Desinformation: „Klimawandel? Früher sagte man einfach Sommer!“

Ist die Klimadebatte hysterisch und das Wetter war früher gar nicht anders als heute? Um dieses Narrativ zu untermauern, suchen Webseiten, Blogger und Politiker fleißig in alten Quellen und Archiven. Wir erklären, weshalb manche Menschen lieber einem fast 130 Jahre alten Lexikon-Eintrag Glauben schenken, als der aktuellen Klimaforschung. 

von Alice Echtermann

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Menschen, die die Debatte um den Klimawandel für hysterisch oder künstlich konstruiert halten, lassen sich leicht von dem Narrativ überzeugen, dass sich das Wetter oder das Klima gar nicht verändert hätten. (Bildcollage: Ivo Mayr / CORRECTIV)

Die Farbe Rot steht für Hitze, Warnung, Gefahr. Sie schreckt auf und fällt ins Auge – das galt auch für eine Wetterkarte der Tagesschau im Sommer 2019. Ganz Deutschland war darauf tiefrot gefärbt, die Zahlen zeigten Temperaturen von bis zu 33 Grad an. Wurde hier mit den Gefühlen der Zuschauer gespielt; eine Manipulation durch die Art, wie die Informationen dargestellt wurden?

Viele Menschen scheinen das zu glauben. Sie teilten im Juni eine Collage auf Facebook, die die rote Wetterkarte der Tagesschau neben eine andere Karte aus der Sendung von 2009 stellt. Diese zeigt augenscheinlich dieselben Temperaturen, aber auf einem harmlos wirkenden grünen Hintergrund. Eine Facebook-Seite namens „Einzelfall“ interpretiert das so: „Framing auch mit Farben im Wetterbericht: wo bei gleichen Temperaturen (!) vor 10 Jahren noch alles ‘im grünen Bereich’ war, wird heute aktiv Panik mit roter Warnfarbe betrieben – so wird in öffentlich rechtlichen Medien manipuliert!“

Diese Collage soll angeblich zeigen, dass früher Wetterkarten in der Tagesschau anders dargestellt wurden als heute. Das ist falsch. (Screenshot: CORRECTIV)

Also alles Lug und Trug, um die Debatte um den Klimawandel weiter aufzuputschen? Unsere Recherche zeigte: Der Facebook-Beitrag führt in die Irre. Er bedient ein populäres Narrativ: Dass die Warnungen von Aktivisten, Politikern und Medien völlig übertrieben seien. Dass der Mensch oder das CO2 keinen Einfluss auf das Klima hätten.

Oder, mit anderen Worten: 

„Früher war es auch schon warm!“ 

   Immer wieder begegnen wir Beiträgen in Sozialen Netzwerken, die diese Botschaft transportieren sollen. Sie stellen sich oft als Irreführungen oder Falschmeldungen heraus. So waren die Vorwürfe gegen die Tagesschau haltlos; die zwei Wetterkarten zeigten unterschiedliche Prognosen. Die rote Karte war die Wettervorhersage für den kommenden Tag, die grüne eine Drei-Tages-Vorschau. Diese Farbgestaltung der Sendung hat sich seit vielen Jahren nicht verändert. 

Doch manche Menschen haben offenbar den Eindruck, dass die Debatte über den Klimawandel hysterisch oder künstlich konstruiert sei. In den Kommentarspalten bei Facebook liest man Reaktionen wie: „Gibt doch jedes Jahr Rekord- und Jahrhundert-Temperaturen. Irgendwie muss man ja den Glauben an den Klimawandel aufrecht erhalten.“ Oder: „Jeder macht ein Drama wegen eines normalen Sommers, nur weil die Medien immer so ein Drama veranstalten.“ Viele vermischen die Missbilligung der Debatte mit ihren eigenen Erfahrungen: Ja, als man selbst Kind war, da gab es auch schon sehr heiße Sommer. 

„1975 waren es schon mal 40 Grad“

Für dieses Narrativ suchen Menschen im Netz fleißig nach Argumenten – zum Beispiel in alten Quellen und Archiven. Diese Informationen wirken überzeugend, weil sie an sich echt sind. Durch ihre Interpretation werden sie zur Desinformation.

Im Juli 2019 verbreitete sich auf Facebook auch ein Foto eines Artikels aus der Bild-Zeitung von 1975 mit dem Titel „40 Grad Hitze. Jetzt wird das Wetter lebensgefährlich!“. Darunter kommentierte ein Nutzer, in den 70ern sei er selbst ein Kind gewesen: „Wir hatten immer einen heißen Sommer! Ob es jetzt 40 Grad waren, kann ich nicht mehr sagen! Aber 35/36 waren es täglich immer! Und? Ich bin noch am Leben (welch Wunder). Ich kann diesen ganzen Mist von wegen Klimawandel etc. nicht mehr hören!“

Ein alter Artikel der Bild-Zeitung vom 8. August 1975 wurde im Sommer 2019 auf Facebook verbreitet. (Screenshot: CORRECTIV)

Den alten Zeitungsartikel vom 8. August 1975 hat jemand abfotografiert und ins Netz gestellt. Der Verfasser des Facebook-Beitrags schrieb dazu: „Für diejenigen die meinen das [sic] die aktuellen Temperaturen etwas ungewöhnliches wären. Das war vor 44 Jahren!“ Sein Kommentar zielt klar auf die Klima-Debatte ab, dabei sind Wetter und Klima zwei verschiedene Dinge

Wer genau hinschaute, konnte dem Zeitungsartikel entnehmen, dass es sich bei den 40 Grad um eine Wettervorhersage für das bevorstehende Wochenende in Essen handelte. Wir recherchierten, dass diese Prognose nicht zutraf: Am 10. August 1975 waren es in Essen tatsächlich 30,8 Grad. Auch eine weitere Angabe in dem Bild-Artikel, der bisherige Hitzerekord von 39,9 Grad sei am 23. Juli 1911 in Jena gemessen worden, stimmte laut Deutschem Wetterdienst nicht: Wie uns ein Sprecher mitteilte, waren es an dem Tag in Jena 37,2 Grad. Viele Menschen nehmen auf Facebook jedoch nur die Schlagzeile wahr. 

„Seit 1890 ist die CO2-Menge in der Luft gar nicht gestiegen“

Der Bild-Artikel ist 44 Jahre alt. Das lässt sich sogar noch übertreffen: Im Sommer kursierte auf Facebook auch ein Foto einer alten Buchseite mit Frakturschrift. Es ist ein Eintrag in der Enzyklopädie „Meyers Konversations-Lexikon“ aus der Auflage von 1885 bis 1892. Dort steht, der Anteil von CO2 in der Atmosphäre betrage „etwa 0,04 Prozent“. 400 ppm (parts per million) – das wäre etwa genauso viel wie heute. „Recherche bedeutet Mühe, wird aber immer wieder belohnt“, schreibt ein Nutzer auf Facebook dazu triumphierend. 

Hat er hier wirklich den Beweis gefunden, dass es keinen Klimawandel gibt – oder dass er von allein geschieht und CO2 keinen Einfluss hat? 

Ein Facebook-Beitrag mit den Auszügen aus Meyers Konversations-Lexikon. (Screenshot: CORRECTIV)

Unsere Recherche hat gezeigt: Die alten Messmethoden waren ungenau, nach neueren Erkenntnissen kann der Wert von 400 ppm im Jahr 1890 nicht stimmen. Kontinuierliche Messungen der CO2-Konzentration gibt es erst seit den 1950er-Jahren, historische Werte können durch Lufteinschlüsse in Eiskernbohrungen belegt werden. Der Wert von 400 ppm CO2 in der Atmosphäre (global) wurde erstmals 2015 überschritten

Menschen bevorzugen das Narrativ gegenüber Fakten und aktueller Forschung

Alle drei Beispiele waren auf Facebook sehr erfolgreich. Sie wurden viele tausend Mal geteilt: Der Bild-Artikel erreichte bisher mehr als 27.000 Shares, der Beitrag über die historische CO2-Konzentration lag zum Zeitpunkt unseres Faktenchecks bei mehr als 9.000 Shares. Die Botschaft verbreitet sich, weil sie sich – scheinbar – auf valide Quellen stützt und ein komplexes Thema stark vereinfacht. Sie greift das Unbehagen der Menschen auf, die glauben, ihnen solle das Geld aus der Tasche gezogen werden mit dem Vorwand, die Klimaschutzziele zu erreichen. Ihnen wird suggeriert, dass dies alles ein großer Betrug sei. 

Das Auslassen von Informationen spielt hierbei eine große Rolle: Beim Bild-Artikel traf die Wetterprognose nicht zu. Wie sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre wirklich entwickelt hat, haben Wissenschaftler mit neuesten Methoden gemessen. Und was das Wetter angeht: Experten betonen schon lange, dass einzelne Wetterereignisse keine Belege für den Klimawandel sind. Erst in der Betrachtung über einen längeren Zeitraum ergeben sich Muster – und die zeigen eine klare Zunahme der heißen Jahre in Deutschland seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1881. 

Auch der Klimatologe Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erklärte im Juni 2019, als alle über das Wetter sprachen: „Wetterdaten zeigen, dass Hitzewellen und andere Wetterextreme in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen haben. Die heißesten Sommer in Europa seit dem Jahr 1500 unserer Zeitrechnung ereigneten sich alle seit der letzten Jahrhundertwende: 2018, 2010, 2003, 2016, 2002. Monatliche Hitzerekorde auf der ganzen Welt treten heute fünfmal häufiger auf, als es bei einem stabilen Klima der Fall wäre.“ 

Dennoch glauben manche Menschen lieber einem fast 130 Jahre alten Eintrag in Meyers Konversations-Lexikon als der modernen Wissenschaft mit ihren technischen Möglichkeiten. Denn er bestätigt ihre Überzeugung.

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Narrative der Desinformation“. Außerdem ist erschienen: „Narrativ der Desinformation: Migration verdrängt deutsche Traditionen“.