Corona-Krise: Weniger Hausbesuche durch Jugendämter in NRW
Seit Beginn der Pandemie leidet die soziale Kontrolle der Jugendämter in Nordrhein-Westfalen (NRW) erheblich. In den Ämtern arbeiten viele im Homeoffice, Hausbesuche werden nur in dringenden Fällen gemacht. Das zeigen Antworten von 46 Jugendämtern in NRW und zahlreiche Gespräche mit Akteuren im Hilfesystem. Fachleute befürchten, dass die Gewalt zu Hause zunimmt.
Ein Herbsttag in einem Mutter-Kind-Heim in Nordrhein-Westfalen: Normalerweise wäre es sehr voll, heute kommen kaum Mütter mit ihren Kleinkindern. Das Telefon würde mehrmals am Tag klingeln und das Jugendamt wäre dran, um über neue Familien zu besprechen, heute bleibt es stumm. So beschreibt Heimleiter Peter Klausmeier einen typischen Tag seit Beginn der Corona-Pandemie. Der Name wurde geändert, er möchte lieber anonym bleiben, da er Angst hat, dass er die Zulassung für das Heim verliert. Als Klausmeier merkte, dass ihn immer weniger Anfragen von den umliegenden Jugendämtern erreichten, begann er zu telefonieren. Er erfuhr, dass viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter seit der Corona-Krise im Homeoffice arbeiten und schwer zu erreichen sind.
„Die Jugendämter bekommen vieles nicht mit“, sagt er CORRECTIV. Mit dem Beginn der Corona-Krise habe er nur noch wenige Anfragen von Jugendämtern für mögliche freie Plätze bekommen. Seit August herrsche komplette Funkstille. Peter befürchtet: „Nach der Pandemie wird erst klar, was mit den Kindern passiert ist. Ich halte das für ein Verbrechen, dass jetzt nicht reagiert wird.“
Tatsächlich zeigt eine Recherche von CORRECTIV, dass mehrere Jugendämter in Nordrhein-Westfalen seit Beginn der Pandemie weniger Hausbesuche als 2019 gemacht haben und nur noch in dringenden Fällen die Familien besuchen. Stattdessen haben viele im März und April Gespräche mit den Familien und den Fachkräften verschoben und über das gesamte Corona-Jahr Gespräche telefonisch, digital oder bei einem Spaziergang geführt. Für schutzbedürftige Kinder sind aber Hausbesuche und Gespräche wichtig. Doch mit der Corona-Krise wurden genau diese wichtigen Maßnahmen in den Jugendämtern reduziert. Und das während einer Pandemie, in der Fachleute immer wieder von steigender häuslicher Gewalt warnen.
Für die Recherche hat CORRECTIV 70 der 186 Jugendämter in NRW kontaktiert und sie gefragt, wie viele Hausbesuche die Jugendämter seit der Pandemie und im Jahr zuvor gemacht haben. Zudem haben wir gefragt, wie die Jugendämter seit der Pandemie arbeiten, worauf die Mitarbeitenden sich fokussieren und worauf sie aktuell verzichten. Von den 70 Jugendämtern beantworteten 46 die Fragen – unsere Auswertung basiert auf einem Viertel der Jugendämter in NRW.
Weniger Hausbesuche während der Pandemie
Die meisten Jugendämter, von denen CORRECTIV eine Antwort bekam, gaben an, dass ihr Fokus während der Pandemie auf dem Kinderschutz liegt und dass sie bei Gefährdung des Kinderschutzes handeln. Doch ein Großteil der Jugendämter besuchte die Familien nur in dringenden und wichtigen Fällen. Viele gaben an, weniger Hausbesuche als im Jahr zuvor gemacht zu haben. Einige schickten uns Statistiken, in denen der Rückgang der Hausbesuche deutlich wird. So zum Beispiel in Bad Salzuflen, wo es im Jahr 2020 knapp ein Drittel weniger Hausbesuche gab als im Jahr zuvor (Stand 16. Dezember 2020). Auch andere Städte verzeichnen einen Rückgang der Hausbesuche. So schätzt die Stadt Unna, dass im Corona-Jahr nur halb so viele Hausbesuche wie im Jahr zuvor gemacht worden sind.
Dass die Jugendämter weniger Hausbesuche machen, bemerkt nicht nur der Heimleiter, sondern auch die Familienhelferin Lisa Schmidt, die in NRW für einen freien Träger arbeitet. Auch ihren Namen haben wir geändert, weil sie Angst hat, ihren Job zu verlieren. Als Familienhelferin schaut sie, wie es den Familien geht. Ihre Arbeit mit den Jugendämtern hat sich verändert: „Als die Corona-Krise im März 2020 anfing, haben es sich die Mitarbeiter der Jugendämter einfach gemacht. Sie riefen uns an und sagten, dass sie jetzt im Homeoffice arbeiteten, aber dass wir Familienhelfer gewohnt weiterarbeiten sollen.“
Ab März letzten Jahres konnte sich die Familienhelferin telefonische und digitale Gespräche anrechnen lassen, was vorher nicht im gleichen Umfang möglich war. Sie erzählt, dass sie das Gefühl hatte, dass viele ihrer Arbeitskollegen diese Möglichkeit genutzt hätten. Statt die Familien zuhause zu besuchen, hätten sie lieber telefonische und digitale Gespräche geführt. Das reiche in vielen Fällen nicht aus. „Die Jugendämter sind einfach davon ausgegangen, dass alles in Ordnung sei“, sagt Schmidt. Heimleiter Klausmeier geht es ähnlich: „Natürlich sagt man am Telefon, dass alles in Ordnung sei. Wenn die Mitarbeiter nicht zu den Familien gehen, können sie nicht sehen, was schiefläuft.“
Dort können Sie sich melden:
Sie leiden unter häuslicher Gewalt oder machen sich Sorgen um ein Kind? Sie fühlen sich als Elternteil überfordert oder neigen selbst zu Gewaltausbrüchen? An diese Anlaufstationen können Sie sich wenden:
- Übersicht aller Frauenhäuser auf den Webseiten des Vereins Frauenhauskoordinierung und der Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser
- Hilfetelefon: „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116016
- „Nummer gegen Kummer“: Elterntelefon: 0800 111 0 550 und Kinder und- Jugendtelefon: 116 111
- Werdende Eltern und Eltern mit Kindern unter drei Jahren: Nationales Zentrum Frühe Hilfen
- Hilfe und Beratung für Tatbegehende
- Hinweise der Polizei für Betroffene mit Migrationshintergrund und Bezeugende von Gewalt im sozialen Nahbereich
Kaum Kontrollinstanzen, kaum Meldungen
Es geht auch anders. In der Stadt Bottrop werden die Hausbesuche zwar nicht statistisch erfasst. Aber die Stadt schreibt, dass mindestens ein Hausbesuch pro Meldung bei Kindeswohlgefährdung stattfinde. Während der Pandemie und im Jahr zuvor gab es durchschnittlich 41 Meldungen pro Monat. Auch die Stadt Arnsberg hat keine Statistik. Aber sie schreiben: „Inzwischen wird in Bezug auf die Hausbesuche von der Häufigkeit her so gearbeitet wie vor der Pandemie.“ Sind die beiden Städte eine positive Ausnahme? Viele der Jugendämter ließen diese Frage unbeantwortet.
„Hausbesuche sind ein wichtiges Instrument, um die Situation des Kindes einzuschätzen und das Kind im eigenen Umfeld zu sehen“, sagt Andreas Mairhofer vom Deutschen Jugendinstitut. Er hat die Situation in den Jugendämtern während der Pandemie untersucht. Die Studie zeigt, dass auch während der Pandemie der Fokus auf dem Kinderschutz liegt. Allerdings ist die Kommunikation mit den Familien erschwert und Hausbesuche sind mit zusätzlichen Herausforderungen verbunden.
In Nicht-Lockdown-Zeiten sind Erzieher und Lehrerinnen eine wichtige Kontrollinstanz. Sie können Verdachtsfälle für Kindeswohlgefährdung bei den Jugendämtern melden. Im Lockdown sind die meisten Kinder und Jugendlichen nur noch für die eigenen Familienmitglieder sichtbar. Mit Gelsenkirchen, Aachen und Hennef berichten CORRECTIV drei Städte von einem Rückgang an Meldungen von Kindeswohlgefährdungen. Die anderen Städte machten dazu keine Angaben.
Familienhelferin Schmidt hat während der ganzen Corona-Krise ihre Hausbesuche weitergeführt. Ihr war es wichtig, die Kinder nicht alleine zu lassen, wie sie es woanders erlebt hat. „Einmal musste ich ein Kind nach nur wenigen Tagen von der Kinderpsychiatrie wieder abholen, weil dort wegen der Corona-Krise kein Betreuer da sei“, sagt Schmidt. Eigentlich sollte das Kind dort sechs Monate bleiben. „Das sind Momente, in denen ich fassungslos bin, weil ich weiß, dass ich das Kind wieder zurück nach Hause bringen muss, wo es geschlagen wird.“
Schwere Erreichbarkeit und frustrierte Familien
Das ganze Jahr über habe sie solche Fälle erlebt, erzählt Schmidt. Immer wieder sei gesagt worden, dass es aufgrund der Corona-Krise keine Kapazitäten gebe.
Das Duisburger Heim Lebenshilfe hat seit Beginn der Pandemie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Auch hier können Mütter mit ihren Kindern in ein betreutes Wohnen von den umliegenden Jugendämtern geschickt werden, um einen besseren Umgang mit ihren Kindern zu lernen. Das größte Problem sei gewesen, dass wichtige Ämter nicht zu erreichen waren, erzählt Claudia Keller, die das betreute Wohnen leitet. Die Folgen: „Es kam immer wieder vor, dass die Frauen mit ihren Kindern länger als üblich hier bleiben mussten. So konnten wir zum Beispiel keine Wohnung für die jungen Familien finden und das war sehr frustrierend.“ Auch andere Akteure aus dem Hilfesystem berichten uns von der schweren Erreichbarkeit der Jugendämter und anderer sozialer Dienste.
Das sollte eigentlich nicht so sein. In einem gemeinsamen Schreiben der NRW-Landesjugendämter vom April 2020 steht: „Zentral in der derzeitigen Corona-Pandemie ist zunächst die telefonische Erreichbarkeit der Sozialen Dienste, die durchgängig während der Geschäftszeiten und über die Rufbereitschaft außerhalb der Dienstzeiten sichergestellt sein sollte.“
Wie genau das geregelt werden soll, steht dort allerdings nicht. Das müssen die Kommunen selber entscheiden.
Vereinsamte und überforderte Kinder
Gerade während der Pandemie brauchen Kinder besondere Unterstützung, denn sie leiden häufig unter der Quarantäne und Isolation. Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche sich oft einsam, verunsichert und überfordert fühlen. Dazu kommt, dass das Konfliktpotential in den Familien steigt.
In den Antworten der Jugendämter wird an vielen Stellen deutlich, dass ihnen die Gefahren für einen Anstieg von häuslicher Gewalt durchaus bewusst sind. „Die Kontaktbeschränkungen sind das größte Problem, weil soziale Arbeit von zwischenmenschlichem Kontakt lebt und Isolation häufig ein Auslöser für Probleme sein kann“, schreibt etwa die Stadt Solingen. Auch andere Jugendämter beklagen, dass der Austausch mit den Kindern und Jugendlichen schwieriger ist und unter der Pandemie erheblich leidet.
Jugendämter arbeiten mit Notlösungen
Und einige der Jugendämter berichten von Notlösungen, um den Regelbetrieb aufrechtzuerhalten: In Bad Oeynhausen finden Gespräche in großen Räumen hinter Plexiglasscheiben und mit großem Abstand statt. Auch in anderen Städten wird versucht, die face-to-face Gespräche nicht ganz wegzulassen. Einige Jugendämter schreiben, dass sie viele Spaziergänge während der Pandemie mit den Klienten geführt haben. Die Stadt Essen schreibt, dass das Jugendamt die telefonische und digitale Beratung ausgebaut hat.
Deutschlandweite Recherche zu Häuslicher Gewalt
Dieser Artikel ist Teil einer Rechercheserie von CORRECTIV.Lokal mit zahlreichen Lokalmedien und BuzzFeed News. Deutschlandweit haben Lokalmedien als Teil des Netzwerkes von CORRECTIV.Lokal eigene Geschichten zum Thema recherchiert und werden in den kommenden Wochen darüber berichten. Auf unserer Themenseite finden Sie die Veröffentlichungen aller Medien und können einen Newsletter abonnieren, um über Neuigkeiten zum Thema informiert zu werden.
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Auf Anfrage von CORRECTIV schreibt das NRW-Ministerium für Kinder: „Kinder und Jugendliche leiden derzeit stark unter den Auswirkungen der Pandemie. Zugleich sind die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendarbeit, sie zu unterstützen und zu begleiten, in Pandemiezeiten stark eingeschränkt.“ Um dem entgegenzuwirken stehe das Ministerium im engen Kontakt mit den Landesjugendämtern und landeszentralen Zusammenschlüssen der freien Träger, die darüber beraten werden, wie sie unter Pandemiebedingungen gute Arbeit leisten können. Die Ergebnisse der Recherche wollte das NRW-Ministerium nicht bewerten. Sie schreiben aber: “Grundsätzlich müssen auch Jugendämter unter Pandemie-Bedingungen arbeiten und die Regeln des Infektionsschutzes beachten.“
Der Heimleiter Klausmeier findet, dass genau jetzt gehandelt werden muss. Er hat selber auch ein Pflegekind. Seit der zweiten Corona-Welle vereinbart das zuständige Jugendamt allerdings keinen Termin mit den leiblichen Eltern des Kindes, weil es keine Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. „Das Jugendamt ist zu. Da kommt keiner mehr einfach so rein. Und statt andere Räumlichkeiten für das Treffen zu finden, verschieben sie den Termin einfach die ganze Zeit.“ Das Treffen müsse aber an einem neutralen Ort stattfinden. Bei ihm Zuhause geht das nicht einfach, denn das Kind ist durch die Vorgeschichte psychisch belastet. „Als wir unseren Kleinen bekommen haben, war er total unterernährt. Vor genau solchen Fällen habe ich am meisten Angst. Ich habe Angst, dass erst nach der Pandemie deutlich wird, was mit den Kindern passiert ist.“
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