Corona CrowdProjekt

»NICHT FAIR!!!«: Ihre Geschichten aus dem Corona-Lockdown

Über den Fall ins Bodenlose, über Angst und eine vage Hoffnung. Rund 1500 Menschen schrieben uns seit März über den CrowdNewsroom, wie sich die Corona-Krise konkret auf sie auswirkt. Einige haben wir mehrere Wochen begleitet.

von Justus von Daniels , Miriam Lenz

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Die Geschichten von fünf Frauen haben wir mehrere Wochen begleitet.

Ihre Aufträge sind fast alle storniert worden. „Meine Kunden sind Gastronomen, Einzelhändler, Veranstalter, Yogalehrer, Masseurin… alle weg…“, schreibt Svenja Blum (Name von der Redaktion geändert) Anfang April. Sie arbeitet als Grafikerin in einem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz, entwirft Flyer, Webseiten und Broschüren. Als die Beschränkungen im März verkündet werden, ziehen etliche Betriebe Bestellungen zurück. Ein paar Wochen später wird uns Svenja Blum eine ernüchternde E-Mail schreiben. 

Es ist Ende März. Die Krise ist jetzt real geworden. Die Schulen und Kitas zu, Restaurants geschlossen, das gesamte öffentliche Leben kommt zum Erliegen. In den Kliniken ist nicht klar, ob ein Chaos bevorstehen wird. 

Wir starten einen CrowdNewsroom und bitten Menschen uns ihre Geschichten der  Corona-Krise zu erzählen. Der CrowdNewsroom ist eine Plattform, auf der wir nicht nur Berichte sammeln, sondern mit der wir gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern strukturiert Informationen über ein Thema zusammen tragen. Es sind viele bis dahin ungehörte Stimmen, auch etliche Hinweise über Missstände erreichen uns. Ein Pfleger schreibt: „Jeden Tag neue Infos. Jeden Tag neues Chaos. Und keine Schutzausrüstungen vorhanden. Führungskräfte sind abgetaucht in Urlaub und krank.“

Der Leitende Oberarzt Gregg Frost aus Saarbrücken beschreibt, wie ihm die Gespräche mit Patientinnen und Patienten Angst machen: „Ich merke, wie ich innerlich unruhig werde, wenn ein Patient in meiner Sprechstunde, der zu einer Routinekontrolle kommt, noch tausend Fragen zu allen möglichen Dingen hat – natürlich auch Corona – für die ich fachlich nicht zuständig bin. Normalerweise nehme ich mir die Zeit, im Moment tickt eine innere Uhr, die mir sagt, dass mein Infektionsrisiko nach 15 Minuten steigt.“

Es ist eine Zeit der Schockstarre. Einige spüren die Folgen der Krise direkt, sie leiden psychisch unter dem Alleinsein oder verlieren ihren Job. Andere ahnen, dass sie den Krisenmodus nicht lange durchhalten werden. Fast 1500 Menschen schreiben uns, welche Wirkungen die Corona-Krise konkret auf ihr Leben hat. Darunter sind Ärztinnen, Lehrer, Pfleger und Beamte. Es sind Momentaufnahmen in einer Zeit, in der nicht absehbar ist, ob und wie schnell die Zahl der Toten in Deutschland steigen wird und welche Folgen die Beschränkungen haben werden. 

Einige von ihnen begleiten wir. Sie werden uns ein paar Wochen später erneut über ihre Situation berichten, etwa warum sich ihre Lage dramatisch verschlechtert, was eine Lehrerin bei ihren Schülern beobachtet oder warum eine Pflegerin keine Aufwertung ihres Berufes erwartet. 

Es sind fünf Frauen, die wir portraitieren. Zufall? Besonders viele Frauen arbeiten in Berufen, die jetzt als „systemrelevant“ gelten, sonst aber in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu unsichtbar sind. Es sind Berufe, die schlecht bezahlt werden. In der Altenpflege. In der Kinderbetreuung. Im Einzelhandel. Um ein paar Zahlen zu nennen: 2018 waren knapp 95 Prozent des pädagogischen Personals in Kitas Frauen und knapp 85 Prozent der Altenpflegekräfte.

Und auch finanziell dürfte die Corona-Krise Frauen härter treffen: Noch immer verdienen Frauen weniger als Männer. Im vergangenen Jahr durchschnittlich 20 Prozent weniger, wie eine Untersuchung des Bundesamts für Statistik zeigt. Mehr Frauen als Männer müssen in Deutschland vom Mindestlohn leben. Und deutlich mehr Frauen sind alleinerziehend, was in Deutschland noch immer mit einem höheren Armutsrisiko verbunden ist. 

Die Berichte einer Pflegerin, einer Alleinerziehenden, einer Grafikerin, einer Lehrerin und einer Hebamme von Ende März, Anfang April und später im Mai sind persönliche Geschichten. Und doch erzählen sie viel über unser Gesundheitssystem und unsere Schulen. Über soziale Ungleichheit und darüber, wer in dieser Krise gehört und wer vergessen wird.

 

MÄRZ


 

Die Pflegerin

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Die Pflegerin © Belén Ríos Falcón / CORRECTIV

Brigitte Jung (Name von der Redaktion geändert) ist angespannt, als sie Ende März ihre Geschichte in unseren CrowdNewsroom einträgt. Die Situation auf der Intensivstation, auf der sie arbeitet, ist chaotisch. Die Gesundheits- und Krankenpflegerin fühlt sich von ihrer Pflegedienstleitung allein gelassen. Noch bis zum 20. März habe die Leitung der Klinik in Baden-Württemberg verboten, auf Station Mundschutz zu tragen. Damit mache man den Patientinnen und Patienten nur Angst, habe es geheißen.

Einen ähnlichen Hinweis bekommen wir Ende März aus einem Altenheim in Düsseldorf. Auf einem internen Aushang, der uns geschickt wird, schreibt die Hausleitung, dass „Mundschutz nur nach vorheriger Absprache mit uns getragen werden dürfe“. Weiter heißt es, wenn Corona-Fälle in der Familie vorkämen, „können und sollen Sie trotzdem zur Arbeit kommen“. Die Pflegeheime sind überfordert. 

Uns fällt auf, dass sich viele melden, die sich vergessen fühlen. In der Presse geht es um Schutzausrüstungen für Krankenhäuser, aber nicht um ambulante Pflegekräfte, die Menschen zu Hause versorgen und sich praktisch kaum schützen können. Oder um Psychiatrien, in denen Panik aufkommt, wenn das Pflegepersonal plötzlich mit Masken auftaucht. Oder, warum es keinen Schutz in den Krankenhaus-Wäschereien gibt: „Schon mal Gedanken darüber gemacht, wer die infizierte Wäsche aus dem Krankenhaus wäscht und wieder zur Verfügung stellt?“, schreibt einer, der in einer Wäscherei arbeitet, die auch Krankenhäuser versorgt.

Es gebe Ende März immer noch keine genauen Vorgaben, wie mit Covid-19-Patienten umgegangen werden solle, berichtet uns die Krankenpflegerin Jung von der Intensivstation. Wichtige Informationen müssten sich die Pflegerinnen und Pfleger selbst im Internet zusammensuchen. OP-Narkose-Geräte sollten plötzlich zur Beatmung eingesetzt werden. „Ohne genaue Einweisung und Sammlung von Erfahrungen“, schreibt Jung. „Da sehe ich ein großes Gefahrenpotential.“

In den Krankenhäusern und den Pflegeeinrichtungen herrscht Unsicherheit. Uns erreichen Hinweise, dass Masken, die nicht zertifiziert sind, in einigen Krankenhäusern benutzt wurden. In einem Fall wurden knapp 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Krankenhauses auf eine Corona-Infektion getestet, weil es den Verdacht auf gefälschte Masken gab. Pflegekräfte wurden aus Angst, dass sie sich angesteckt haben könnten, vorsorglich nach Hause geschickt. Im Nachhinein war der Verdacht falsch. Hier zeigt sich, welche gefährlichen Folgen der Betrug rund um die Masken haben kann, wenn Pflegepersonal nicht arbeiten kann.

Eine Pflegerin, die in einem Krankenhaus arbeitet, berichtet: „Manchmal frage ich mich, was die Patienten mit Demenz oder im Delirium von mir denken, wenn ich in Schutzausrüstung zu ihnen komme, mit gedämpfter Stimme rede und ihnen Tabletten geben will oder eine Infusion intravenös verabreiche. Wahrscheinlich, dass ich ein Alien bin.“

 

Die Hebamme

Für Christina Böhm sind die Masken nur eines von vielen Problemen. Die freiberufliche Hebamme aus Frankfurt am Main kann kaum noch Hausbesuche machen. Damit steht ihre wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel. Sie fällt wie viele andere auch durchs Raster der Soforthilfen.

Ihre Einnahmen seien während der Corona-Krise stark gesunken. Die finanzielle Soforthilfe für Soloselbstständige greife bei den meisten selbständigen Hebammen nicht, weil sie beispielsweise keine Ausgaben für eigene Praxisräume hätten, sagt Böhm. Finanzielle Verpflichtungen wie Beiträge für Kranken- und Rentenversicherung liefen aber natürlich weiter, auch wenn sie weniger Geld verdiene. „Von welchen Rücklagen soll eine Hebamme, die nach der Gebührenordnung bezahlt wird, leben?“, fragt sie.

Als Selbstständige muss sie durchhalten, die Frage ist nur, wie lange ist das zu schaffen? Hebammen haben vorher schon gefehlt, Kinder werden aber auch in Corona-Zeiten geboren. Für Böhm ist es eine existentielle Frage, wie sie weiterarbeiten kann.

Wie Böhm ergeht es vielen in Berufen, die direkte Dienstleistungen erbringen. Steffi Hägele, Physiotherapeutin aus Sachsen-Anhalt, schreibt uns: „Mein Geschäft ist von 100% auf 0%. Das macht mich sehr traurig.“

 

Die Grundschullehrerin

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Die Grundschullehrerin © Belén Ríos Falcón / CORRECTIV

Als Ingrid Hüchtker Ende März an unserer Umfrage teilnimmt, unterrichtet sie ihre zweite Klasse bereits seit knapp zwei Wochen von zuhause aus. Wie zahlreiche andere Lehrerinnen und Lehrer berichtet sie uns von den Schwierigkeiten, den Unterricht digital zu organisieren. „Es gibt keine technischen Standards, keine schuleigene Software, keinen schuleigenen Server“, schreibt die Berliner Grundschullehrerin. Letztendlich müsse sie kommerzielle Anbieter nutzen und sei auf die Unterstützung technikaffiner Elternteile angewiesen. 

Homeschooling ist ein hübscher Begriff, auf die Realität trifft er nicht zu. Dabei hatte die Bundesregierung vor einem Jahr fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung der Schulen frei gegeben. Passiert ist kaum etwas. „Das müsste anders gehen“, sagt Hüchtker. Sorgen macht ihr auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer durch die Schulschließungen im Moment das Kindeswohl kaum überprüfen könnten. Viele Lehrer gehören zur Risikogruppe, aber was passiert mit den Schülern, die wochenlang zuhause sitzen? Ingrid Hüchtker wird einige Wochen später ziemlich ernüchtert sein.

 

Die Alleinerziehende

„Ich kann quasi nicht arbeiten, obwohl ich Aufträge habe“, so fasst Myriam K. ihre Situation Anfang April zusammen. Sie ist selbständige Produktmanagerin und hilft Unternehmen dabei, ihre Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Und sie ist alleinerziehende Mutter zweier Kinder im Alter von zwei und vier Jahren, die normalerweise in die Kita gehen. Trotzdem hat sie zu diesem Zeitpunkt keinen Anspruch auf einen Platz in der Kita-Notbetreuung, weil sie nicht in einem systemrelevanten Beruf arbeitet. Das wird erst Wochen später etwas besser.

Alleinerziehende werden zu Beginn der Beschränkungen nicht weiter beachtet. Während die Autoindustrie Pläne für eine Abwrackprämie erarbeitet, müssen Eltern sehen, wie sie zwischen Beruf und Kinderbetreuung zu Hause klarkommen. Der erste spürbare Effekt: Familien fallen wieder in alte Rollenbilder. Zumeist sind es die Frauen, die auf den Beruf verzichten, um auf die Kinder zuhause aufzupassen. Für Alleinerziehende stellt sich die Frage einer Aufteilung gar nicht erst. 

Das Kontaktverbot habe gleichzeitig jede andere Möglichkeit der Kinderbetreuung ausgehebelt, so Myriam K. „Im ländlichen Raum überlegt man sich jetzt sehr genau, wen man noch fragen kann und wie man das organisiert“, schreibt sie, die auf dem Land in Brandenburg lebt. „Man steht immer unter Beobachtung und jetzt gibt es Patrouillen und Bußgelder. Da verändert sich die Stimmung auf der Straße. Beängstigend.” Das führe dazu, dass sie mit der Kinderbetreuung nahezu auf sich allein gestellt sei. In ihr angemietetes Büro könne sie wegen der Kinder nicht mehr fahren, zum Arbeiten komme sie höchstens abends für zwei bis drei Stunden. 

Jetzt wird sichtbar, in welchen Teilen der Gesellschaft keine Reserven da sind. Wer sonst schon an seine oder ihre Belastungsgrenze gehen muss. Wer kaum genug Kraft, Geld, Zeit für die Bewältigung des Alltags hat. Und wie schnell ein eigenes Lebenssystem zusammenbrechen kann, sobald es Einschränkungen gibt. Etwa, weil es seit Jahren zu wenige Pflegerinnen und Pfleger in Deutschland gibt. Oder, weil das Kurzarbeitergeld nicht zum Leben reicht. Oder der Alltag von Alleinerziehenden auch sonst schon ein zeitlicher Balanceakt ist.

Andere gewinnen durch die Corona-Krise mehr Lebensqualität. Ein Software-Entwickler berichtet uns, wie sehr er die Zeit im Homeoffice genießt. Endlich könne er konzentrierter und effizienter arbeiten und sich seine Zeit freier einteilen: „Die Haus- und Gartenarbeit ist genauso viel wie sonst auch, nur eben zu geeigneteren Zeiten möglich, dito einkaufen. Das macht das Leben an sich sehr viel entspannter.“

 

Die Grafikerin

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Die Grafikerin © Belén Ríos Falcón / CORRECTIV

Als uns Svenja Blum (Name von der Redaktion geändert), die selbständige Grafikerin aus Rheinland-Pfalz, Anfang April schreibt, wirkt sie verzweifelt: „Mir droht die Insolvenz bei längerem Anhalten der Krise.“ Anspruch auf eine Corona-Soforthilfe für Soloselbstständige habe sie in Rheinland-Pfalz trotzdem nicht. Dafür müsste sie Miete zahlen oder Leasingraten bedienen. Da beides nicht auf sie zutreffe, bekomme sie auch kein Geld. Das sei in Nordrhein-Westfalen ganz anders. Dort bekomme man als Soloselbständige schon Geld, wenn die Einkünfte durch die Corona-Krise sinken würden. Blum findet das „NICHT FAIR !!!“ und schreibt von Wettbewerbsverzerrung. Ein paar Wochen später wird sie die Krise mit voller Härte treffen.

Viele Selbstständige schreiben uns im Lauf des April. Sie wissen nicht, wie lange sie durchhalten können. „Da dieser Zustand ja voraussichtlich noch viele Monate anhalten wird, überlege ich ernsthaft, ob ich diesen Job weiterhin ausüben kann,“ schreibt uns ein Logopäde aus Mönchengladbach. Wie soll er Kindern die richtige Aussprache beibringen, wenn schon kleinste Spucke-Tröpfchen eine Infektion auslösen können?

 

MAI


 

Die folgenden Wochen werden zu Epochen der Corona-Krise. Jede Woche gewöhnen wir uns an neue Selbstverständlichkeiten.

Im Mai sind Masken aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Benutzte Einmal-Masken liegen achtlos auf Gehwegen. Im Supermarkt werden Menschen zurechtgewiesen, wenn sie keinen Mund-Nasen-Schutz tragen. 

Shopping Malls sind im Mai wieder geöffnet. Die Schulen bleiben für die meisten Kinder noch geschlossen. Die Politik geht davon aus, dass Kinder bis zu den Sommerferien nur wenige Tage in die Schulen gehen können. Kitas erweitern nur langsam ihre Notbetreuung. 

Die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen ist im Vergleich zu Ende März, Anfang April stark gesunken. Die Lage in den Krankenhäusern ist einigermaßen entspannt. 

Wir fragen sechs Wochen nach den ersten Einträgen im CrowdNewsroom bei einigen der fast 1500 Menschen nach, wie es ihnen mittlerweile geht. 

Wir wollen wissen: Kommt die staatliche Hilfe auch bei den Menschen an, die sie benötigen? Immerhin sind seit März Milliarden locker gemacht worden. Gibt es inzwischen genügend Schutzausrüstung in Kliniken? Werden Alleinerziehende genügend unterstützt? Erreichen die Förderprogramme inzwischen mehr Soloselbstständige? Und was fordern Christina Böhm und die anderen für die Zeit nach Corona?

 

Die Pflegerin

Die vergangenen Wochen waren anstrengend für Brigitte Jung. Ihre Station hat Covid-19-Patienten und -Patientinnen mit einem sehr schweren Verlauf versorgt. Von ihrer Pflegedienstleitung fühlt sie sich dabei größtenteils immer noch allein gelassen.

In vielen Punkten hat sich die Situation Jung zufolge in den letzten Wochen allerdings verbessert: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik müssten einen Mundschutz tragen. Man könne sich einmal die Woche auf eine Corona-Infektion testen lassen. Aber die Hygiene war teils chaotisch: „Schon an Tag drei des ersten Covid-Patienten gingen die Kittel aus.“ Sie mussten sich schließlich von anderen Stationen welche leihen, erzählt Jung. FFP2-Masken, die eigentlich nur für wenige Stunden genutzt werden sollen, hätten sie den ganzen Tag tragen müssen. Kittel ebenfalls, im Notfall sollten sie einfach abwischen, so Jung. Getragene FFP2-Masken habe die Klinik sterilisiert und erneut eingesetzt. „Unser Unbehagen war natürlich groß“, beschreibt Jung ihr Gefühl dabei.

Jetzt sorgt sich Jung um die Lockerungsmaßnahmen und dass die Menschen im öffentlichen Raum immer unvorsichtiger seien. „Die vielen Falschmeldungen und teilweise aggressiven Demos machen mich wütend“, schreibt sie. Und sie hat wenig Hoffnung, dass die „systemrelevanten Berufe“ wie ihrer künftig aufgewertet werden. Anerkennung im Beruf zeigt sich nicht durch eine Welle der Dankbarkeit, sondern ganz trivial in der Höhe der Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen. Jung ist da eher pessimistisch: „Ist die Krise überstanden, schaut keiner mehr hin.“ 

 

Die Hebamme

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Die Hebamme © Belén Ríos Falcón / CORRECTIV

Mitte Mai hat Christina Böhm immer noch nicht genügend Schutzausrüstung für ihre Arbeit als freiberufliche Hebamme. Ausgerechnet Masken fehlen ihr immer noch. „Tragisch ist, dass ich mit an das Gesundheitsamt gespendeten Masken arbeiten soll. Wo bleibt die Verantwortung der Landespolitik und des Bundes?“, schreibt Böhm. Zweimal konnte sie sich in der Zeit zwischen Ende März und Mitte Mai ein paar Dutzend FFP1- und OP-Masken beim örtlichen Gesundheitsamt abholen. Das reiche jedoch nicht. Was fehlt, muss sie sich selbst kaufen. 

Christina Böhm macht immer noch nur Hausbesuche, die absolut notwendig seien, etwa wenn eine Wunde versorgt werden müsse. Alles andere funktioniere über telefonische Beratung und Videocalls. „Das bedeutet für mich einen Umsatzverlust von circa 70 Prozent allein dadurch, dass ich eine niedrigere Gesamtsumme an Hausbesuchen pro Haushalt habe“, erläutert Böhm. Denn die Leistungen, die sie per Telemedizin anbieten dürfe, würden von der gesetzlichen Krankenversicherung schlechter bezahlt. Nach wie vor kann sie nicht die Soforthilfe für Soloselbstständige beantragen. Seit Anfang April übernimmt sie etwa einmal pro Woche einen Zusatzdienst in einem Vorwehenkreißsaal einer Klinik, um die dortigen Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen.

Böhm fragt sich, wie soziale Berufe wie der Hebamme langfristig besser vergütet werden können: „Denn klatschen auf den Balkonen ist ja eine nette Geste, sichert den Berufsständen aber kein Einkommen.“

 

Die Grundschullehrerin

Im ersten Moment war sie etwas erschrocken. Als Ingrid Hüchtker ihre zweite Klasse Mitte Mai zum ersten Mal wiedersieht, sind „manche Kinder blass und waren wohl nicht viel draußen gewesen“, schreibt uns die Grundschullehrerin. Bis zu den Sommerferien wird ihre Klasse noch sechs Schultage haben. Einen Plan, was nach den Sommerferien passiert, gibt es in Berlin noch nicht. Der Rest des Unterrichts findet zuhause statt. 

Den digitalen Unterricht gestaltet Ingrid Hüchtker inzwischen vor allem mit kleinen selbstgemachten Lernvideos und Podcasts. Arbeitsblätter verschicke sie nicht mehr, denn nicht alle Haushalte hätten einen Drucker. „Eine Mutter hat die Blätter, die wir anfangs noch geschickt haben, per Hand abgeschrieben. Ich finde, das darf nicht sein.“ Da müsse sie als Lehrerin sich auf die Gegebenheiten in den Elternhäusern einstellen.

Viele Eltern seien überfordert. „Die Situationen sind zum Teil schlimm: Wochenlang mit drei kleinen Kindern in einer kleinen Mietwohnung“, berichtet Hüchtker. Nicht nur eine Mutter habe am Telefon mit den Tränen gekämpft, als sie angerufen habe.

Die Grundschullehrerin macht sich große Sorgen um die Kinder, die gerade erst Deutsch gelernt hätten oder denen das Lesen und Rechnen schwerer falle. „Was mir noch deutlicher ins Auge springt als vor Corona – Schule, wie wir sie organisieren, ist nicht zeitgemäß“, meint sie. Es gebe keinen Platz, um genügend Abstand zu halten, und nicht genügend Personal für kleine Gruppen. „Und deshalb gibt es nun auch keine Möglichkeit, unsere Kinder so zu beschulen, wie sie es verdient haben.“ 

 

Die Alleinerziehende 

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Die Alleinerziehende © Belén Ríos Falcón / CORRECTIV

Seit dem 27. April 2020 dürfen in Brandenburg Kinder von berufstätigen Alleinerziehenden in die Notbetreuung gehen. Knapp sechs Wochen waren sie vollkommen allein gelassen. Allerdings gilt eine Arbeit im Homeoffice im Regelfall weiterhin als Betreuungsmöglichkeit für Kinder. Myriam K. würde deshalb in ihrer bisherigen Situation wahrscheinlich ihre Kinder immer noch nicht in die Kita geben können. Doch sie hat Glück: Seit Anfang März hat sie neben ihrer selbständigen Tätigkeit eine kleine Anstellung, die sie seit der Kita-Schließung im Home-Office ausübt. Seit Ende April muss sie aber in der Firma anwesend sein. Deshalb können ihre Kinder seit dem 27. April in die Kita.

Die Wochen davor beschreibt Myriam K. als unglaublich anstrengend. Der Vater der Kinder habe sie kurzzeitig unterstützt. Eine Bekannte habe ihre kleine Tochter mal für ein paar Stunden betreut. Ihre Eltern seien einmal heimlich aus Berlin gekommen. Ansonsten sei Myriam K. mit ihren Kindern allein gewesen. Sie hätte in diesen Wochen eigentlich gar nicht produktiv arbeiten können. „Man genügt niemandem richtig“, sagt K. über diese Zeit. Weder den Kindern. Noch der Arbeit. Noch sich selbst. Das sei auch psychisch ein unheimlich anstrengender Zustand.

Die Auswirkungen dieser Zeit spüre sie noch immer. „Ich gebe gerade bei der Arbeit das Beste, was ich kann“, sagt sie Mitte Mai am Telefon. Aber ihr Kopf fühle sich nach der Belastung der vergangenen Wochen so unglaublich leer an. Sie könne sich nur schwer konzentrieren.

„Es gibt in der Gesellschaft eine unglaublich hohe Erwartung an die Funktionalität von Familien und Kindern“, sagt Myriam K. in unserem Gespräch. Das müsse sich ändern. „Die Belastung von Eltern darf nicht mehr stigmatisiert werden.“ Es müsse endlich gesellschaftlich anerkannt werden, dass Kinderbetreuung Arbeit sei. Sie fordert, dass Eltern, die während der Corona-Krise Kinder betreuen, von ihrer Erwerbsarbeit freigestellt werden, während der Lohn weitergezahlt wird.

Finanziell sei ihre Situation im Moment noch relativ komfortabel, die Anstellung helfe ihr. Aber ihre Selbständigkeit liege auf nicht absehbare Zeit mehr oder weniger auf Eis. Finanzielle Sicherheit habe jetzt einfach Priorität, mit der beruflichen Umstellung müsse sie trotzdem erst einmal klarkommen. „Wieder hinten anstellen, so fühlt sich das an“, schreibt Myriam K. in ihrer ersten Mail dazu.

Im Moment ist ihre größte Sorge, dass ihre Kinder aufgrund von politischen Entscheidungen plötzlich wieder nicht mehr in die Kita gehen könnten. „Das würde mir den Boden unter den Füßen wegziehen“, sagt sie. Ein zweites Mal würde sie diese Situation weder nervlich noch finanziell durchstehen. „Dann müsste ich Hartz IV beantragen.“

 

Die Grafikerin

Svenja Blums finanzielle Situation ist Mitte Mai immer noch dramatisch. „Ich kann nicht ausschließen, dass es in einem halben Jahr eine Soloselbstständige-Grafik-Firma weniger gibt“, schreibt sie. Die Auftragslage sei weiterhin schlecht, sie verdiene 96 Prozent weniger. Anspruch auf die Corona-Soforthilfe hat sie in Rheinland-Pfalz nach wie vor nicht. Und auch in Nordrhein-Westfalen wurden die Förderregeln für Soloselbstständige inzwischen nachträglich verschärft.

Vom Staat wünscht sich Blum als Unterstützung in der Corona-Krise, dass Soloselbstständige wie sie 800 bis 1000 Euro im Monat bekämen, ähnlich einem bedingungslosen Grundeinkommen. Das sei sowieso sinnvoll: „Wenn das mit der Künstlichen Intelligenz so richtig losgeht, wird die Regierung darum oder um etwas Ähnliches nicht herumkommen, wenn sie keine massiven Verteilungskämpfe haben will.“

Blum hofft immer noch darauf, dass die Politikerinnen und Politiker in Rheinland-Pfalz Soloselbständigen wie ihr helfen werden. Aber eigentlich glaubt sie nicht mehr daran: „Die Regierenden haben das mit den versprochenen Hartz-IV-Zahlungen für uns einfach abgeschlossen.“ Damit meint sie den im Zuge der Corona-Krise erleichterten Zugang zu Hartz-IV-Leistungen, wenn man einen Antrag zwischen März und Juni dieses Jahres stellt. In dieser Zeit wird Vermögen unter 60.000 Euro bei der Prüfung nicht berücksichtigt. Die Hartz-IV-Leistungen zu diesen Bedingungen sind zunächst auf ein halbes Jahr beschränkt.

„Ich habe also die Wahl zwischen Hartz IV beantragen und den eventuellen eigenen Verdienst und eventuelle Zuschüsse wieder davon abgezogen bekommen“, schreibt sie. „Oder ich warte noch etwas, ob ich eventuelle Zuschüsse bekomme und riskiere, dass die Hartz IV-Antragsfrist abgelaufen ist.“

Eine Woche später kommt die Mail von ihr: „Kann nicht mehr abwarten. Habe kapituliert und gestern meinen allerersten Hartz-IV-Antrag abgesendet…“

Wir werden die fünf und andere weiterhin begleiten. Die fünf stehen für sich, und doch auch für die Zeit, in der es vielen ähnlich geht. Auch Sie können uns in unserem CrowdNewsroom von Ihren Erfahrungen in der Corona-Krise erzählen oder auf Missstände hinweisen.

Wenn Sie dieses Projekt wichtig finden, bei dem wir den ungehörten Geschichten eine Stimme geben, freuen wir uns, wenn Sie unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen.

Mitarbeit: Michel Penke, Max Söllner