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Sexueller Missbrauch: Anzeige gegen die Bischöfe

Der Missbrauch von Jugendlichen durch einen Pfarrer wurde lange gedeckt – jetzt brechen mehrere Beteiligte ihr Schweigen. Ein Anwalt will aufgrund neuer Recherchen von CORRECTIV und BR nun die vorgesetzten Bischöfe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzeigen.

von Justus von Daniels , Gabriela Keller , Marcus Bensmann

Was wusste Joseph Ratzinger? Ein Anwalt sieht Mitschuld bei allen Vorgesetzten im Fall H.
Was wusste Joseph Ratzinger? Auch als Kardinal und Chef der Glaubenskongregation in Rom kam er gern nach Bayern. Bildnachweis: picture-alliance/ dpa/dpaweb | epa ansa Handout

Ob sein Vorstoß durchkommt, kann der Rechtsanwalt des Opfers noch nicht absehen. So ein Verfahren gegen die Kirche gab es bisher nicht: Der Berliner Jurist Andreas Schulz will den emeritierten Papst Joseph Ratzinger und mehrere andere Kirchenväter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzeigen. „Die Verantwortlichkeit der Bischöfe zeigt sich in diesem Fall so deutlich wie nie zuvor“, sagt er. 

Auslöser sind Aussagen eines Betroffenen gegenüber CORRECTIV und dem Bayerischen Rundfunk (BR), der dem katholischen Pfarrer Peter H. jahrelangen sexuellen Missbrauch vorwirft. Zusätzlich kommen Schilderungen von Mitgliedern einer bayerischen Gemeinde und brisante interne Kirchenakten hinzu, die die Vorwürfe gegen die Vorgesetzten des Pfarrers stützen.

Immer wieder Verbindungen zum ehemaligen Papst

Die moralische Verantwortung der Kirche für die Missbrauchstaten in ihren Reihen ist längst ein breit diskutiertes Thema. Die vorgesetzten Bischöfe jetzt auf Grundlage des Völkerstrafrechts anzuzeigen, ist ein juristisches Wagnis, könnte aber Signalwirkung haben.

Der Fall Peter H. bringt die katholische Kirche seit Jahren in Bedrängnis. Nun  kommen immer neue Details zu dem Kindesmissbrauchs-Skandal ans Licht. Selbst die New York Times berichtete 2010 über den Pfarrer, seither auch Spiegel, Süddeutsche Zeitung oder Zeit, denn es gibt Verbindungen zu Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI.

Neue Recherchen von CORRECTIV und dem BR zeigen, dass mehrere Bischöfe und andere hochrangige Kirchenfunktionäre die Taten H.s bewusst verschwiegen, gedeckt und Hinweise unterdrückt haben. 

Erstmals macht nun ein Geschädigter aus dem bayerischen Garching an der Alz einen Fall aus den 1990er Jahren öffentlich: Der Betroffene ist nach eigenen Angaben als Jugendlicher vier Jahre lang regelmäßig von dem damaligen Gemeindepfarrer H. missbraucht worden. 

Kirchenführung wusste von der Gefährlichkeit des Pfarrer H.

In dieser Zeit wusste die Kirchenführung von der Gefährlichkeit des pädokriminellen Pfarrers aufgrund seiner Taten aus früheren Jahren. Ein pensionierter Bischof, der sich in der Gemeinde von H. ansiedelte, berichtete als Aufpasser regelmäßig an die Kirchenführung. Dieser Bischof, ein mit Ratzinger befreundeter Kirchenmann, hat nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Gemeindemitglieder Hinweise auf den Missbrauch bewusst unterdrückt. Auch gegenüber der Kirchenleitung stellte der Bischof den Pfarrer H. als harmlos da.

Der Anwalt des Opfers will jetzt mit dem Völkerstrafrecht gegen die Kirchenverantwortlichen zu Felde ziehen: „Der sexuelle Missbrauch ist in der Kirche über Jahre systematisch geschehen, und wie dieser Fall nun offenlegt, unter den Augen der Kirchenvorgesetzten bewusst geduldet worden.“ 

Missbrauch sei System in der katholischen Kirche

Der Missbrauch sei im System der katholischen Kirche zwischen Zölibat, Jugendbetreuung und priesterlicher Machtausübung angelegt. Die Kirche wisse aus den vergangenen Jahrzehnten und aus den internen Verfahren, wie leicht Jugendliche in diesem Umfeld Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Geändert hat sie an den Strukturen, insbesondere am Zölibat, nichts. Anwalt Schulz will nun den Druck erhöhen, einen systemischen Missstand auch juristisch aufzuarbeiten und Verantwortung klar zu benennen. 

Die bisher von der Kirche gezahlten Entschädigungen in Höhe von 5.000 Euro „sind für die Opfer beschämend, wenn nicht sogar erniedrigend“, sagt Schulz. Die Kirche habe nie die Opfer, immer nur die Täter im Blick, die aber auch „nur zurück auf den Pfad der Tugend zurückgebracht werden sollten.“

Mit dem Völkerstrafrecht gegen die Kirche?

Bislang stehen Juristinnen und Juristen in solchen Fällen stets vor demselben Problem: Die Verjährungsfrist des deutschen Strafrechts macht es oft unmöglich, die direkten Missbrauchstaten gegen Kinder und Jugendliche zu ahnden. Eine Strafbarkeit von Vorgesetzten der Täter kennt das deutsche Strafrecht nicht. 

Die gibt es im Völkerstrafrecht, das allerdings eher auf Kriegsverbrechen und Gewalttaten von Regimen ausgelegt ist. Ob die Strafbarkeit von Vorgesetzten auch beim Missbrauch innerhalb der Kirche greift, ist umstritten. 

Jugendliche wurden als unglaubwürdig eingestuft

Pfarrer H. soll seit den 1970er Jahren bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 2010 weitere Straftaten begangen haben. Der Fall, auf den sich die Argumentation des Juristen stützt, ereignete sich zwischen 1989 und 1994. Weitere Fälle soll es noch bis 2010 gegeben haben. In der Gemeinde Garching an der Alz kam es 1994 zu einem öffentlichen Eklat, als Wandgraffitis in dem Ort auf das Verhältnis des Pfarrers mit dem Jungen anspielten. 

Nun äußern sich erstmals ehemalige Augenzeugen darüber, wie der Bischof alle Hinweise aktiv unterdrückt habe. Dabei war die Gefährlichkeit von H. in der Kirche bekannt. Mehrere kirchliche Befragungen und Verfahren gegen den Pfarrer sind dokumentiert. 

Auch ein abschließendes internes Prüfverfahren aus dem Jahr 2016, dessen Protokoll CORRECTIV vorliegt, zeigt, wie Vorwürfe des Missbrauchs in Garching weiter heruntergespielt wurden. Der Fall des Mandanten von Anwalt Schulz, der unter seinem Vornamen Stefan auch mit CORRECTIV und BR gesprochen hat, wird von den Kirchenrichtern erwähnt, aber nicht weiter geprüft. Andere sehr detaillierte Vorwürfe von damals Jugendlichen, die das Verhalten des Pfarrers ihnen gegenüber beschreiben, stuften sie laut dem Dokument als unglaubwürdig ein. Wirkliche Konsequenzen hatten die Taten über Jahre für den Pfarrer nicht. Er blieb bis 2010 in der Jugendarbeit, wurde erst 2020 unter psychologische Aufsicht gestellt, nun lebt er in Essen. 

Ist Ratzinger durch mögliches Wegschauen ein Mittäter?

Brisant ist bei dem Skandal auch die Nähe von Joseph Ratzinger. Er war Erzbischof in München und Freising, als H. 1980 von Essen nach Bayern zog. Hintergrund für die Versetzung waren damals bereits Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs. Später war Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan direkt für die Aufklärung von Missbrauchsvorwürfen zuständig, unternahm aber nichts im Fall H. 

Die Kirche wird selbst in einigen Tagen ein unabhängiges Gutachten vorlegen, das sie bei der Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl in Auftrag gegeben hat. H.s Taten in Garching werden darin an zentraler Stelle untersucht. Die Aussagen des bisher unbekannten Betroffenen Stefan spielen dabei ein wichtige Rolle.

Die Mitverantwortung der Kirchenoberen ist damit belegt. Aber reicht das auch für den Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit? Reicht es, um die vorgesetzten Bischöfe als Mittäter anzuzeigen?

Vorwurf: Sie haben das System des Missbrauchs ermöglicht

Für Anwalt Schulz ist der Fall klar, auch wenn er durchaus Risiken sieht: Hier habe eine Hierarchie über Jahre Missbrauchstaten geduldet, die bei den Jugendlichen oft schwere Traumata hervorriefen. Die Vorgesetzten wussten es und taten nichts, um sie zu verhindern. Selbst Strafversetzungen oder kirchliche Verfahren hatten milde Folgen. Peter H. konnte in Bayern trotz der Vorstrafe weiter mit Jugendlichen arbeiten. 

Ob sich die Staatsanwälte von Schulz’ Argumenten überzeugen lassen und eine Anklage gegen Ratzinger und andere Kirchenväter erheben, ist noch unklar. Der Anwalt vergleicht die Kirchenvorgesetzten mit Funktionären, die Folter im Namen eines Regimes dulden, um ihre Macht zu stärken. So geschehen in syrischen Gefängnissen. Dieser Fall wird zur Zeit vor einem Gericht in Koblenz verhandelt. Der Anwalt: Andreas Schulz.

Der Völkerstrafrechtsprofessor Florian Jeßberger von der Humboldt Universität Berlin dagegen bezweifelt, dass die Kirche unter dieses Gesetz fallen kann: Er hält die Einordnung dieser Missbrauchsfälle als Völkerrechtsverbrechen „bei allem Verständnis für die dringende Notwendigkeit der umfassenden Aufklärung der Sachverhalte und der Bestrafung der Verantwortlichen – für schief.“ 

Generell kann die Verantwortung für sexuellen Missbrauch nach dem Völkerstrafrecht geahndet werden. Allerdings muss er sich systematisch gegen eine Gruppe richten. Als solche definiert Schulz die Jugendlichen, die als Messdiener den Priestern unterstanden. Gerade sie wurden besonders oft Opfer von sexueller Gewalt. Die Taten seien nicht nur geduldet, sondern systematisch vertuscht worden, sagt Schulz. Und es habe trotz des breiten Wissens im Vatikan keine wirksame Prävention gegeben. 

Katholische Kirche wird sich zum Fall verhalten müssen

Im Fall des Pfarrers H. zeige die Rolle des aufsichtsführenden Bischofs sowie die breit dokumentierte Kenntnis der Vorgesetzten über Jahre, so Schulz, dass der Missbrauch von Kindern hingenommen worden sei, „um die Macht des kirchlichen Systems aufrecht zu erhalten.“ 

Der Völkerstrafrechtler Jeßberger sieht es als zweifelhaft an, ob hierbei ​​ein „ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen eine Zivilbevölkerung“ vorliege. In der Zusammenschau aller Merkmale, die greifen müssten, hält er eine Anklage für eher fernliegend.

Der Generalbundesanwalt wird bei einer Anzeige zu prüfen haben, ob Ratzinger und weitere Bischöfe angeklagt werden könnten. Im Fall einer Verurteilung drohen Haft- oder Bewährungsstrafen. 

Bisher waren alle Versuche erfolglos, die verantwortlichen Bischöfe bei Kindesmissbrauchsfällen vor Gericht zu ziehen. Die neuen Erkenntnisse in Bezug auf Garching könnten nun neue Verfahren in Gang bringen. Zudem wird sich die Kirchenführung zu dem Gutachten verhalten müssen, dass sie selbst in Auftrag gegeben hat und das in einigen Tagen erwartet wird. 

Möglicherweise wird die Kirche noch Entschädigungszahlungen leisten müssen. Schulz sieht eine weitere Option in einer Zivilklage von deutschen und europäischen Geschädigten vor einem US-amerikanischen Zivilgericht. Eine Jury hätte dann zu entscheiden, ob die Vorgesetzten von H. bis hin zu Ratzinger in der Verantwortung stehen. Eine Perspektive, die für die katholische Kirche äußerst beunruhigend sein dürfte, da dies Entschädigungen in Milliardenhöhe mit sich bringen kann.

Unsere aktuelle große Recherche gemeinsam mit dem BR zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und der Verantwortung der Bischöfe lesen Sie hier: Das unsichtbare Kind