Was die Kirche zu Ratzinger und dem Missbrauchsskandal in Garching nicht erwähnt
Die katholische Kirche sieht Joseph Ratzinger und weitere Bischöfe für das Vertuschen des sexuellen Missbrauchs in der Verantwortung. Allerdings für Handlungen, die weit zurück liegen. Interne Unterlagen, die CORRECTIV einsehen konnte, zeigen, dass die Kirche in einem Urteil gegen den Priester H. entscheidende Details wegließ.
Im Skandal um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche rückt die Verantwortung des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. und der Kirchenvorgesetzten immer weiter in den Mittelpunkt der Debatte. Neue Erkenntnisse dazu werden auch in dem Gutachten über den Missbrauch erwartet, das eine Münchner Kanzlei im Auftrag des Erzbistum München und Freising am Donnerstag veröffentlicht.
Im Vorfeld des Gutachtens hatte die Zeit über ein bisher geheimes kirchenrechtliches Dekret aus dem Jahr 2016 zu den pädokriminellen Taten des Priesters H. berichtet, das dem ehemaligen Papst Pflichtverletzungen anlastet. Bei dem Dekret handelt es sich um die kirchenrechtliche Aufarbeitung eines der schwersten Missbrauchsfälle in Deutschland. Der ehemalige Papst ließ ausdrücklich dementieren, dass er von den Taten des Priesters Kenntnis hatte.
Dokumente, die CORRECTIV einsehen konnte, und interne Briefe zeigen nun, dass das geheime Dekret weitere Hinweise zu späteren Verbindungen zwischen Kardinal Ratzinger und dem Priester H. nicht erwähnt, obwohl sie den Kirchenrechtlern vorlagen. Zudem zeigen Unterlagen, dass H. der Kirche sein Schweigen anbot. Anfragen von CORRECTIV und dem BR wollte H. nicht beantworten.
Unter Erzbischof Kardinal Ratzinger wurde der Priester H. nach Missbrauchstaten in Essen ab 1980 nahtlos in der Gemeindearbeit des Erzbistums von München und Freising eingesetzt. Es folgten erneute Übergriffe und eine Verurteilung wegen mehrfachen Kindesmissbrauch 1986 durch ein weltliches Gericht.
Selbst danach ging der Missbrauch weiter, wie jüngste Recherchen von CORRECTIV und BR zeigen.
„Das Dekret gibt vor, dass die Missbrauchstaten von H. und die Verantwortlichkeiten der Kirchenoberern 1996 geendet seien“, sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster. Es verkenne damit das Täterprofil von H. als notorischen Pädokriminellen.
Die Mitverantwortung des späteren Papstes
Der Fall des Priesters H. ist für die katholische Kirche der bisher brisanteste Missbrauchsfall, da er eine direkte Verbindung zu dem ehemaligen deutschen Papst Benedikt aufzeigt. 2010 hatte die New York Times veröffentlicht, dass Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising 1980 bei einer Sitzung dabei war, bei der beschlossen wurde, dass H. den Gemeindedienst in Bayern fortsetzen könne. Zuvor war der Priester nach mehrfachem Missbrauch aus dem Bistum Essen nach München geschickt worden.
Berichte über massenhaften Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche weltweit begannen mit der Recherche des Boston Globe in den USA 2002. Der systematische Missbrauch in Irland, Frankreich und Australien wurde öffentlich, 2010 erreichte die Missbrauchsdebatte auch Deutschland. Immer war die zentrale Frage: Was wussten der Vatikan und der Papst über den Missbrauch?
Die New York Times-Recherche legte damals die direkte Mitverantwortung des deutschen Papstes für die Wiedereinsetzung des Priesters H. offen, der vorher Kinder missbraucht hatte, was der Kirche bekannt war. In Studien und Untersuchungen versuchen die Bistümer und die deutsche Bischofskonferenz seither das Ausmaß und die Gründe für den Missbrauch aufzuklären.
Am 20. Januar veröffentlicht die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl eine Untersuchung zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising, die die Kirche in Auftrag gegeben hatte. Der Fall H. wird in dieser Studie eine zentrale Rolle einnehmen. Bis heute ist nicht über Entschädigungszahlungen für die tausenden Opfer des Missbrauchs in Deutschland entschieden.
Nach der Veröffentlichung durch die New York Times im Jahr 2010 sah sich die katholische Kirche in Deutschland gezwungen zu handeln, „da der Fall weltweit Aufsehen in den Medien erregt“, und „von Medienvertretern leider auch mit unserem heiligen Vater, Papst Benedikt XVI. in Verbindung gebracht wird“, heißt es in Kirchenakten, die CORRECTIV vorlegen.
H. wurde noch im selben Jahr in den Ruhestand versetzt und im April 2010 ins Bistum Essen zu einem Gespräch geladen. Das Protokoll liegt CORRECTIV vor.
Eine umstrittene Begegnung und der Besuch des späteren Papstes
In diesem Gespräch, in dem es auch um die Verfahren gegen H. geht, erwähnt er überraschend eine angebliche Begegnung mit Ratzinger, der zur Zeit des protokollierten Gesprächs noch Papst war. Im Protokoll steht: „Während der Zeit als Kardinal Ratzinger Erzbischof von München und Freising war, hat Herr H. diesen einmal mehr zufällig getroffen, da Kardinal Ratzinger zu Besuch in Garching war, um einen kranken im Ruhestand befindlichen Weihbischof zu besuchen“. Das Treffen soll sich im Jahr 2000 ereignet haben, Jahre nachdem H. für weitere Taten 1986 verurteilt worden war.
Bisher ging es bei der Verantwortung von Ratzinger immer um ein Protokoll einer Sitzung aus dem Jahr 1980, unter dem auch sein Kürzel als damaliger Erzbischof von München und Freising steht. Seitdem versuchten der Vatikan und die Würdenträger der katholischen Kirche in Deutschland mit Dementis und Pressemeldungen, diese Verantwortung zu minimieren. Von einer persönlichen Begegnung mit dem Priester H. war nie die Rede.
Die Aussage enthält eine zeitliche Ungenauigkeit. Als H. in Garching Pfarrer war, war Ratzinger nicht mehr Erzbischof von München und Freising, sondern Chef der Glaubenskongregation.
Der „kranke und im Ruhestand befindliche Weihbischof“ war Heinrich von Soden- Fraunhofen. Das ist insofern brisant, als dass dieser von 1993 bis zu seinem Tod im Januar 2000 zusammen mit H. die oberbayerischen Gemeinden Garching und Engelsberg geleitet hat. Der Bischof wusste über die Gefährlichkeit von H. Bescheid und berichtete an das Erzbistum München und das Bistum Essen über das Verhalten von H., das er durchweg als positiv beschrieb. Dabei gab es mindestens seit 1994 offene Gerüchte in Garching über einen möglichen Missbrauch von Jugendlichen.
Der Besuch Ratzingers stand offenbar im Zeichen der Freundschaft zu dem Bischof, beide haben zusammen die Priesterweihe erhalten und waren auch später in freundschaftlichem Kontakt geblieben. Der Besuch von Ratzinger bei Soden-Fraunhofen im Januar 2000 ist bestätigt, eine Begegnung zwischen Ratzinger und H., wie von diesem behauptet, ließ der Ex-Papst auf Anfrage von CORRECTIV und ZDF frontal im Jahr 2020 allerdings dementieren.
Nach neuen Recherchen von CORRECTIV und BR setzte H. auch in Garching unter den Augen des Weihbischofs von Soden-Fraunhofen den Missbrauch bis weit in die 1990er Jahre fort.
H. wollte das Verfahren, um Priester bleiben zu können
Das Gesprächsprotokoll von 2010 aus dem Bistum Essen wurde Teil einer Voruntersuchung der Glaubenskongregation in Rom, die entscheiden musste, ob H. direkt aus dem Priestertum entlassen werden oder ob ein Kirchengericht darüber entscheiden sollte.
Priester H. wollte unbedingt ein kirchenrechtliches Verfahren. In einem Brief an die Glaubenskongregation vom 27. Mai 2013 schreibt H. an den damaligen Leiter der Kirchenbehörde, er „bitte daher – wenn wirklich meine Entlassung aus dem Klerikerstand angedacht ist – darum, ein solches reguläres Strafverfahren durchzuführen.“
Die beiden Bischöfe Franz-Josef Overbeck und Reinhard Marx, die für H. zuständig waren, hatten bei der Glaubenskongregation indes dafür plädiert, dass der Papst den Priester H. ohne Verfahren direkt aus dem Priesteramt entfernen solle. H. will Priester bleiben und gibt der Kirche eine Mitschuld an seinen Taten. In dem Brief an die Glaubenskongregation von 2013 schreibt er: „Nach meiner strafrechtlichen Verurteilung im Juni 1986, von welcher die Erzdiözese auch Kenntnis hatte, wurde ich bereits ein Vierteljahr später wieder in der Seelsorge eingesetzt“. Und weiter: „Hätte mich die Kirche zu diesem Zeitpunkt von meinen priesterlichen Tätigkeiten entbunden, so hätte mir die Möglichkeit offen gestanden, mich anderweitig beruflich zu orientieren.“
H. bittet um die Durchführung eines „regulären Strafverfahrens“. Dann folgt ein Angebot, nicht mit der Presse zu reden: „Ich habe in der Vergangenheit von jeglicher öffentlichen Stellungnahme in dieser Sache abgesehen, ich sichere zu, dass ich auch in Zukunft keine öffentlichen Äußerungen z.B. gegenüber der Presse in dieser Sache tätigen werde, unabhängig davon, wie die Glaubenskongregation entscheiden wird.“ Zu diesem Zeitpunkt lag das Protokoll aus Essen mit der Behauptung von H. über ein angebliches Treffen mit Ratzinger vor und blieb offenbar unwidersprochen.
Ein halbes Jahr nach der Bitte von H. gibt die Glaubenskongregation unter ihrem Chef Kardinal Müller, der ein enger Begleiter Ratzingers war, bekannt, dass „nach intensiver Beratung und Abwägung“ über H. ein kirchenrechtliches Verfahren zu entscheiden habe. Es kommt also nicht, wie von den Bischöfen Marx und Overbeck vorgeschlagen, zum direkten Rauswurf. H. bekommt das Verfahren, um das er gebeten hatte. Aber es soll auch kein echtes Strafverfahren sein, sondern nur ein „außergerichtliches Strafverfahren auf dem Verwaltungsweg“. Hier entscheiden die Richter nach Aktenlage und können keine weiteren Ermittlungen anstellen.
Ratzinger und Bischöfe mitverantwortlich – außer für die Zeit in Garching
Das außergerichtliche Strafverfahren kommt 2016 in dem Dekret zu dem Schluss, dass die Verantwortlichen bis hinauf zum Erzbischof von München, Kardinal Ratzinger, spätestens nach dem staatlichen Gerichtsverfahren 1986 gegen den Priester ein kirchenrechtliches Verfahren hätten einleiten und den Fall an die Glaubenskongregation senden müssen. Da dies nicht geschehen sei, hätten die Verantwortlichen eine „Pflichtverletzung“ begangen.
Das Dekret spricht der Kirchenleitung damit eine Verantwortung für die Zeit zu, bis H. in die Gemeinde Garching kam. Ein schwerer Missbrauchsvorwurf in Garching in den 1990er Jahren wird H. nicht angelastet. Auch die weiteren Verbindungen in der Garchinger Zeit zu Ratzinger, über die H. 2010 berichtet, bleiben im Dekret unerwähnt. Das betrifft die Rolle des Weihbischofs von Soden-Fraunhofen als Aufpasser von H. vor Ort sowie den Besuch Ratzingers im Jahr 2000.
„Für die Sachverhaltsbeschreibung hätte das Dekret die tatsächliche Rolle des Weihbischofs von Soden klar benennen müssen“, schreibt der Kirchenrechtler Schüller. Er sieht die Rolle des Bischofs kritisch, sie sollte „Gegenstand einer innerkirchlichen Untersuchung werden“.
Obwohl das Dekret in dem Zeitraum von 1973 bis 1996 insgesamt 23 Missbrauchsfälle aufzählt, wird H. nur wegen fünf mittelschwerer und zwei geringer Fälle für schuldig befunden. Die Missbrauchsvorwürfe in Garching reduziert das Dekret auf zwei geringe Fälle, bei denen es um das „Vorführen eines Films mit sexuellen Inhalts vor zwei Minderjährigen“ gegangen sei. Im Dekret lesen sich diese zwei Fälle wie Ausrutscher eines Mannes, der sich nach seiner Verurteilung 1986 geändert habe. Das Gegenteil war der Fall, wie die Recherche von CORRECTIV und BR zum Missbrauch in Garching gezeigt hat.
Die Verantwortung der Kirchenoberen wird damit zwar festgestellt, aber für Entscheidungen, die schon weit zurückliegen. Für H. wiederum ging das Verfahren glimpflich aus, auch weil die Richter keine eigenen Untersuchungen anstellen konnten. Nach dem Verfahren behielt H. seine Pensionsansprüche als Priester im Ruhestand.
Seitdem hält er sein Versprechen, das er der Glaubenskongregation gegeben hat: Er schweigt weiter.