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Kräftiger Preisanstieg bei Medikamenten

So einen hohen Anstieg gab es seit Jahren nicht mehr: Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel stiegen laut „Arzneiverordnungs-Report“ im vergangenen Jahr um knapp 10 Prozent (3,3 Milliarden Euro). Nach Berechnungen von CORRECT!V könnte allein mit dem Preisanstieg für Arzneimittel die komplette Gesundheitsversorgung von 1 Million Flüchtlinge in Deutschland finanziert werden.

von Markus Grill

Bittere Pillen - kräftiger Anstieg bei Medikamentenpreisen© Ivo Mayr

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel stiegen im vergangenen Jahr um 9,6 Prozent auf nunmehr 35,4 Milliarden Euro. Zu diesem Ergebnis kommt der neue „Arzneiverordnungsreport 2015“, der heute in Berlin vorgestellt wurde. Das ist der höchste Anstieg der Arzneimittelkosten seit dem Jahr 2005.

Der 1318 Seiten starke „Arzneiverordnungs-Report“ (AVR) ist das Standardwerk für den Medikamentenverbrauch in Deutschland. Er wird jährlich herausgegeben von dem Heidelberger Pharmakologen Ulrich Schwabe in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Institut der AOK und wertet mehr als 800 Millionen Rezepte aus, die gesetzlich Krankenversicherte im vergangenen Jahr in der Apotheke eingelöst hatten.

Der Grund für den drastischen Anstieg im Jahr 2014 liegt nur zum kleinen Teil in dem höheren Verbrauch von Medikamenten, dieser stieg lediglich um 3,3 Prozent. Viel entscheidender sind gesetzliche Änderungen und die Höchstpreise, die die Pharmaindustrie für neue Tabletten verlangt.

So senkte die Bundesregierung den generellen Rabatt, den Pharmaunternehmen an Krankenkassen leisten müssen, von 16 Prozent auf 7 Prozent. Allein diese Massnahme verursachte Mehrkosten von 1 Milliarde Euro, wie der Herausgeber des AVR, Ulrich Schwabe, sagt.

Mehrere hundert Millionen Euro kostet laut Schwabe auch der Verzicht des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), den medizinischen Nutzen von älteren Arzneimitteln zu untersuchen. Von dieser Nutzenbewertung des Bestandsmarkts, die nach Einschätzung von Schwabe „auf Druck der Pharmaindustrie“ gestoppt wurde, hatten sich Experten Einspareffekte von 800 Millionen Euro versprochen. Beide Regelungen zeigen laut Schwabe „das pharmafreundliche Klima der Großen Koalition“. Schwabe appelliert an die Politik, zur Bestandmarktbewertung zurückzukehren. „Das wäre sicher gerechter als Zusatzbeiträge, die allein die Versicherten mit den Mehrkosten des boomenden Pharmamarktes belasten.“

Die Pharmaindustrie profitiert vor allem von einer Besonderheit am Standort Deutschland: Sie darf im ersten Jahr nach der Zulassung eines neuen Medikaments den Preis frei festlegen, den die Krankenkassen zahlen müssen. Erst danach wird der medizinische Nutzen eines Präparats bewertet und dann über den Preis verhandelt.

So kostete zum Beispiel Gilenya, ein Medikament bei Multiple-Sklerose (MS), bei Markteinführung 2324,- Euro, ein Jahr später wurde der Preis nach Verhandlungen mit den Krankenkassen auf 1747,- Euro gesenkt. Ein anderes MS-Präparat, Tecfidera, kostete bei Markteinführung 2172 Euro. Weil das Präparat aber keinen Zusatznutzen in der frühen Nutzenbewertung hatte, musste der Hersteller Biogen den Preis nach einem Jahr um 42 Prozent auf 1252 Euro senken. Allein bei Tecfidera hätten die Krankenkassen aufs Jahr gerechnet 104 Millionen Euro sparen können, wenn es den Pharmaunternehmen untersagt wäre, im ersten Jahr weiterhin Mondpreise für neue Präparate zu verlangen.

Ein noch drastischeres Beispiel ist die Preispolitik beim Wirkstoff Alemtuzumab. Er war zunächst für Leukämie zugelassen und kostete 21 Euro pro Milligramm. Später entdeckte der Hersteller Genzyme aber, dass Alemtuzumab auch bei Multipler Sklerose hilft. Deshalb nahm Genzyme den Wirkstoff vom Markt und brachte ihn unter dem Markennamen Lemtrada erneut heraus, diesmal für MS-Patienten und mit dem Unterschied, dass ein Milligramm nun nicht mehr 21 Euro sondern 887,79 Euro kostete. Die Bruttotherapiekosten betragen nach Berechnungen des AVR für Alemtuzumab pro Patient und Jahr nun 42.614 Euro.

Der AVR nimmt sich jedes Jahr auch ein anderes europäisches Land vor, mit dem er die Arzneimittelpreise vergleicht. Bisher kam bei allen diesen Vergleichen heraus, dass die Preise hierzulande am höchsten sind. Dieses Jahr hatten die Autoren die Niederlande ausgewählt. Nimmt man allein die 250 umsatzstärksten Präparate sind die Nettopreis in Deutschland 32 Prozent höher als die entsprechenden Apothekenverkaufspreise in den Niederlanden. Würden in Deutschland die niedrigeren niederländischen Preise gelten, müssten die Krankenkassen allein für die 30 umsatzstärksten Präparate 1,2 Milliarden Euro im Jahr weniger bezahlen. Erweitert man die Liste aus die 250 umsatzstärksten Präparate ergeben sich Einspareffekte von 1,9 Milliarden Euro pro Jahr.

Name Anwendung Deutschland: Nettokosten der Krankenkassen Apotheken­preis Deutschland (minus Rabatte und ohne MWSt) Apothekenpreis Niederlande: (ohne MWSt) Preis­unterschied in Prozent Einsparpotential für Deutschland
Summe 1.184,3 Mio. €
Humira Rheumapräparat 803,8 Mio. € 4.098,84 € 3.216,65 € 27,4% 173,0 Mio. €
Enbrel Rheumapräparat 477,5 Mio. € 4.098,84 € 3.270,86 € 25,3% 96,5 Mio. €
Xarelto Blutverdünner 457,8 Mio. € 250,61 € 210,54 € 19,0% 73,2 Mio. €
Sovaldi Hepatitis-C 423,6 Mio. € 13.986,40 € 13.665,86 € 2,4% 9,7 Mio. €
Spiriva Atemnot / COPD 274,3 Mio. € 132,22 € 130,26 € 1,5% 4,1 Mio. €
Copaxone Multiple Sklerose 267,5 Mio. € 1.219,74 € 926,42 € 31,7% 64,3 Mio. €
Rebif Multiple Sklerose 264,6 Mio. € 4.125,11 € 3.412,42 € 20,9% 45,7 Mio. €
Glivec Leukämie 259,3 Mio. € 7.769,76 € 7.227,11 € 7,5% 18,1 Mio. €
Avonex Multiple Sklerose 257,5 Mio. € 3.826,07 € 3.063,81 € 24,9% 51,3 Mio. €
Tecfidera Multiple Sklerose 254,0 Mio. € 1.702,40 € 948,86 € 79,4% 112,4 Mio. €
Lantus Diabetes 245,3 Mio. € 114,28 € 107,88 € 5,9% 13,7 Mio. €
Zytiga Prostatakarzinom 238,6 Mio. € 3.445,40 € 3.305,66 € 4,2% 9,7 Mio. €
Remicade Rheumapräparat 238,5 Mio. € 2.898,30 € 2.415,38 € 20,0% 39,7 Mio. €
Cymbalta Depression 197,4 Mio. € 212,82 € 103,37 € 105,9% 101,5 Mio. €
Truvada HIV-Infektion 186,7 Mio. € 1.871,23 € 1.699,24 € 10,1% 17,2 Mio. €
Revlimid Multiples Myelom 184,6 Mio. € 6.195,86 € 5.832,42 € 6,2% 10,8 Mio. €
NovoRapid Diabetes 172,8 Mio. € 96,16 € 75,19 € 27,9% 37,7 Mio. €
Gilenya Multiple Sklerose 162,3 Mio. € 1.370,30 € 1.723,86 € -20,5% -41,9 Mio. €
Targin1 Schmerzmittel 161,6 Mio. € 215,05 € 10,97 € 1.860,3% 153,4 Mio. €
Tysabri Multiple Sklerose 139,2 Mio. € 1.870,40 € 1.655,66 € 13,0% 16,0 Mio. €
Betaferon Multiple Sklerose 135,6 Mio. € 3.539,86 € 2.326,00 € 52,2% 46,5 Mio. €
Simponi Rheumapräparat 133,1 Mio. € 4.159,63 € 2.868,11 € 45,0% 41,3 Mio. €
Foster Asthma / COPD 132,8 Mio. € 89,19 € 74,87 € 19,1% 21,3 Mio. €
Lucentis Makuladegeneration 130,4 Mio. € 990,22 € 907,82 € 9,1% 10,9 Mio. €
Neulasta Krebsmedikament 122,0 Mio. € 1.364,52 € 1.079,96 € 26,4% 25,4 Mio. €
Humalog Diabetes 121,6 Mio. € 88,14 € 68,93 € 27,9% 26,5 Mio. €
Levemir Diabetes 119,2 Mio. € 115,11 € 112,06 € 2,7% 3,2 Mio. €
Inegy Cholesterinmittel 115,2 Mio. € 175,18 € 177,92 € -1,5% -1,8 Mio. €
Pradaxa Blutverdünner 109,3 Mio. € 230,76 € 205,86 € 12,1% 11,8 Mio. €
Velmetia Diabetes 105,5 Mio. € 130,07 € 138,55 € -6,1% -6,9 Mio. €

Arzneiverordnungs-Report 2015, Tabelle 1.3
1: Targin 20mg/10mg in den Niederlanden nicht erstattungsfähig, Alternativpräparat: Oxycodon 20mg

Der Anstieg der Arzneimittelkosten im vergangenen Jahr ist der höchste seit 2005. Damals stiegen die Ausgaben von 21,1 Milliarden auf 24,7 Milliarden. Die Große Koalition reagierte damals prompt mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftslichkeitsgesetz (AVWG), das am 1. Mai 2006 in Kraft trat und unter anderem einen zweijährigen Preisstopp für Medikamente verhängte. Vergleichbare gesetzgeberische Initiativen gibt es derzeit nicht.

Insgesamt stiegen die Ausgaben allein für Arzneimittel im vergangenen Jahr um 3,3 Milliarden Euro. Wie viel Geld das ist, zeigt sich in einer einfachen Rechnung: Für jeden Versicherten gaben die Gesetzlichen Krankenkassen nach Angaben des Gesundheitsministeriums im vergangenen Jahr 2924 Euro aus. Mit den 3,3 Milliarden Euro Mehrkosten für Arzneimittel könnte man also locker die Gesundheitsversorgung von 1 Million Flüchtlinge komplett finanzieren (2924 Euro mal 1 Million ergibt 2,924 Milliarden Euro). Tatsächlich liegen die realen Kosten sogar noch niedriger, da es sich bei den Flüchtlingen überwiegend um jüngere Männer handelt, die im Schnitt die geringsten Ausgaben für Krankenkassen verursachen. So hat die Stadt Hamburg auf Anfrage von CORRECTIV mitgeteilt, dass sich die Gesundheitsausgaben für Asylbewerber im Jahr 2014 auf 2250 Euro pro Person belaufen hätten. Für Flüchtlinge in der Zentralen Erstaufnahme fallen nach Angaben des Sprechers der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Marcel Schweizer, pro Jahr sogar nur 248 Euro für die hausärztliche Versorgung an. 

Datenaufbereitung: Stefan Wehrmeyer