Flug MH17

Das Versagen der Flugsicherheit

Vor anderthalb Jahren wurde Malaysia Airlines Flug MH17 über der Ost-Ukraine abgeschossen. Jetzt haben die niederländischen Behörden ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Die wichtigste Schlussfolgerung: Die Welt braucht dringend eine Lösung, um verlässlich zu entscheiden, wann Krisengebiete überflogen werden dürfen und wann nicht

von David Crawford , Marcus Bensmann

© Symbolbild von stratman² unter CC BY-NC-ND 2.0

Diese Analyse erscheint parallel auf Zeit Online

Im Lauf des Jahres 2014 schlitterte die Ukraine immer tiefer in einen Bürgerkrieg. Spätestens im Sommer griffen Kampfflugzeuge und Panzer in die Kriegshandlungen ein – und wurden feindliche Kampfflugzeuge mit Luftabwehrraketen abgeschossen. Derweil gut 10 Kilometer hoch die internationalen Passagiermaschinen ihre stetige Bahn zogen. Bis zum 17. Juli 2014, als Flug MH17 vom Himmel geschossen wurde und 298 Menschen auf tragische Weise starben. 

Nun, rund anderthalb Jahre später, hat die niederländische Flugsicherheitsbehörde OVV ihren Abschlussbericht (pdf, Download startet automatisch) zu dem Unglück veröffentlicht. Darin steht nicht nur, dass es eine BUK-Flugabwehrrakete russischer Bauart war, die die Maschine vom Himmel holte. Sondern auch, dass die Mechanismen der internationalen Flugsicherheit auf ganzer Linie versagt haben, als es darum ging, die Gefährdungslage über einem Krisengebiet einzuschätzen.

Bislang gibt es drei Instanzen, die unkoordiniert entscheiden,  wie sicher der Luftraum über einem Krisengebiet ist.

Erstens die Luftfahrtbehörde des jeweiligen Krisenlandes. Ja, sagte die Flugsicherheit der Ukraine bis zuletzt, unser Luftraum in einer Höhe ab rund 10.000 Metern ist sicher. Man muss fragen: War diese Behörde geeignet, um das zu entscheiden? Womöglich nicht. Ein Land im Kriegszustand hat viele Sorgen – die Sicherheit der zivilen Luftfahrt steht vielleicht nicht an erster Stelle.  

Anwälte der Hinterbliebenen von Flug MH 17 haben behauptet, die Ukraine habe ihren Luftraum offen gelassen, um weiter die Überfluggebühren von den Airlines zu kassieren.

Im Abschlussbericht der Niederländer steht dazu nun ausdrücklich: Selbst wenn ein Krisenland seinen Luftraum nicht schließt, heißt es nicht, dass er sicher ist.

Die zweite Instanz, die bislang Flugkorridore bewertet, sind die Airlines selbst. Im Fall der Ukraine entschieden einige wenige, dass der Überflug im Sommer 2014 nicht sicher war. Auch große Airlines hielten an der alten Route fest. Ein Umweg hätte zusätzliche Kosten und längere Flugzeiten bedeutet. Auch eine Maschine der Lufthansa überflog kurz vor dem Abschuss von MH17 das Kampfgebiet – und entging vielleicht nur knapp einer Katastrophe.

Die dritte Risikoabschätzung stammt von den Staaten, in denen eine Airline beheimatet ist. Im Fall von MH17 hätte die Regierung Malaysias ihrer Airline also raten müssen, die Ost-Ukraine zu meiden. Natürlich fehlten den dortigen Behörden die Mittel für eine solche Einschätzung.

Europas Nachrichtendienste, Diplomaten und Politiker waren besser aufgestellt für eine Risikoabschätzung in Sachen Ukraine. Ausführlich beobachteten sie die Eskalation der Kämpfe. Doch sie unterließen es, daraus Schlüsse zu ziehen für die Sicherheit der Flugpassagiere. Weil, so der Abschlussbericht der Niederländer, der Fokus der Dienste „hauptsächlich auf die militärischen Aktivitäten und geopolitischen Konsequenzen des Konflikts ausgerichtet war“.

Mit anderen Worten: Europas Regierungen waren auf einem Auge blind, dem Auge der Flugsicherheit – aus politischen und diplomatischen Gründen.

Mehr Kooperation. Oder eine neue Behörde

Die wichtigste Forderung des niederländischen Abschlussberichtes lautet darum: Dass alle beteiligten Parteien — Staaten, Airlines und Luftsicherheitsbehörden — künftig besser zusammen arbeiten und gemeinsam ihr Risikomanagement verbessern.

Markus Wahl, Sprecher der deutschen Pilotenvereinigung Cockpit, geht noch weiter. Er — und viele andere Experten — fordern, die Staatengemeinschaft müsse „so schnell wie möglich“ eine unabhängige, internationale Behörde einrichten, die weltweit regelt, welche Krisengebiete überflogen werden dürfen und welche nicht. Diese Behörde müsse Zugang zu allen wesentlichen militärischen Erkenntnissen erhalten und Flugkorridore verbindlich schließen dürfen. Wahl: „Wenn es für alle Airlines verboten ist, hat keiner einen Wettbewerbsnachteil.“

Auch er führt die nicht unbeträchtlichen Überfluggebühren ins Feld – die es für ein Krisenland interessant machen, seinen Luftraum möglichst lange offen zu halten.

Erste Ansätze einer solchen Behörde sind sichtbar. Die Internationale Flugsicherungsbehörde ICAO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, hat nach dem Abschuss von Flug MH17 begonnen, eine Datenbank zu errichten, in der alle Einschätzungen zu aktuellen Krisengebieten zusammengefasst sind.

Ein Blick in diese Datenbank zeigt jedoch, wie widersprüchlich diese Einschätzungen bislang sind. Etwa im Fall Libyens, wo seit Jahren gekämpft wird:

– die USA verbieten es, das Land zu überfliegen.

– Frankreich empfiehlt nur, das Land nicht zu überfliegen.

– Deutschland gestattet seinen Airlines den Überflug – über 8400 Metern.

– derweil die libysche Luftfahrtbehörde ihren Luftraum für wenigstens zum Teil sicher hält und gegen die deutsche Einschätzung sogar offiziell protestiert hat.

Klage gegen die Bundesregierung

Immerhin: Für Libyen gibt es eine Überflugwarnung der Bundesregierung – warum unterblieb sie im Sommer 2014 für die Ost-Ukraine? Diese Frage hat das Recherchezentrum CORRECTIV im Dezember 2014 der Bundesregierung offiziell gestellt. Denn nach CORRECTIV-Recherchen muss den Militärexperten der NATO-Staaten – und damit auch der Bundesregierung – damals klar gewesen sein, dass dort, wo russische Panzer operieren, auch weit reichende, den zivilen Luftverkehr gefährdende Boden-Luft-Raketen mitgeführt werden. Und es war seit Anfang Juni 2014 bekannt, dass russische Panzer ohne Hoheitszeichen in der Ost-Ukraine unterwegs sind – über einen Monat vor dem Abschuss von Flug MH17.

Die Antwort der Bundesregierung bestand zunächst darin, ein bereits häufig geäußertes Mantra zu wiederholen: Nein, es sei keine Gefahr für die zivile Luftfahrt über 10.000 Metern Flughöhe erkennbar gewesen.

Damit gab sich CORRECTIV nicht zufrieden. Denn inzwischen war bekannt: Drei Tage vor dem Abschuss von Flug MH17 war auch der deutsche Botschafter in Kiew, Christof Weil, von der ukrainischen Regierung über die Eskalation des Luftkampfes über der Ost-Ukraine gebrieft worden.

CORRECV!V hakte nach – und fragte, welche Konsequenzen das Auswärtige Amt aus der Unterrichtung des Botschafters gezogen habe. Das Auswärtige Amt schwieg. Erst nach einer Auskunftsklage mussten die Beamten zugeben, dass man den Bericht des Botschafters am 14. Juli 2014 erhalten und noch am gleichen Tag das Kanzleramt, am Tag darauf das Verteidigungsministerium informiert hatte.

Warum die Fluggesellschaften daraufhin nicht gewarnt wurden, ist bislang unklar. Weshalb CORRECTIV derzeit in zweiter Instanz gegen das Außenministerium klagt. Es müssen alle Details zu den Inhalten dieser Unterrichtung bekannt werden.