Gefährliche Keime

Schlampige Hygiene im Krankenhaus führt zu mehr Toten als im Straßenverkehr

EXKLUSIV: Mehr als jedes vierte Krankenhaus in Deutschland erfüllte 2014 die Hygieneempfehlungen des Robert-Koch-Instituts nicht. Das ergeben Recherchen von CORRECTIV und dem ARD-Magazin „Plusminus“. Eine neue Datenbank zeigt nun erstmals, welche Kliniken betroffen sind. Das Berliner Gesundheitsministerium schiebt die Verantwortung auf die Bundesländer und die einzelnen Kliniken ab. Vorstand der BKK-Krankenkasse kritisiert „gravierende Defizite“.

von Hristio Boytchev , Stefan Wehrmeyer

© imago/Westend61

Gefährliche Keime haben leichtes Spiel in deutschen Kliniken. Wenn OP-Besteck verunreinigt ist, wenn beim Putzen gespart wird, wenn sich Mitarbeiter nicht oft genug die Hände desinfizieren. Vor allem aber: Wenn zu wenig Fachkräfte vor Ort sind, die etwas von Hygiene verstehen. Die all diese Missstände beheben könnten.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung der Krankenhausqualitätsberichte und Daten des BKK Landesverbands Nordwest – durch CORRECTIV und das ARD-Magazin „Plusminus“. Demnach verfügte im Jahr 2014 mehr als jede vierte Klinik in Deutschland nicht über die vom Robert-Koch-Institut empfohlene Zahl an Hygienepersonal. Im Jahr 2011 beschloss die Bundesregierung, dass diese Empfehlungen verpflichtend werden sollen. Die Analyse der Daten aus dem Jahr 2014 zeigt, dass die Empfehlungen des RKI in vielen Kliniken noch nicht umgesetzt wurden. Schlusslicht ist demnach Bremen, wo 43 Prozent aller Kliniken die Empfehlungen nicht erfüllen, auf dem vorletzten Platz liegt Thüringen mit 42 Prozent, danach folgt Berlin mit 37 Prozent. Am besten schneidet dagegen Hamburg ab, wo nur 10 Prozent der Kliniken die Hygienevorgaben verfehlen.

Hygienepersonal

Dirk Janssen, Vizechef des BKK-Landesverbands Nordwest, hält die Ergebnisse für alarmierend. Sie zeigen „gravierende Mängel“ vieler Kliniken im Umgang mit Hygiene. Wenn sich nichts ändere, „kostet das jedes Jahr tausenden Patienten das Leben“.   

Basis der Auswertung sind die Qualitätsberichte. Jede Klinik muss darin einmal im Jahr Rechenschaft geben über Ausstattung, Standards und medizinische Eingriffe. Doch die Berichte sind Selbstauskünfte – gut möglich, dass sie geschönt sind und die Realität noch schlimmer ist.

Wir haben alle Angaben über das Hygienepersonal in Krankenhäusern nun in einer frei zugänglichen Datenbank zusammengeführt. Es ist die erste Übersicht über das Hygienepersonal in 2059 Kliniken in Deutschland. Jede Bürgerin, jeder Bürger kann hier selbst kostenlos nachschauen, wie sein Krankenhaus abgeschnitten hat.

Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts sind klar: Jede Klinik ab 400 Betten soll mindestens eine Person aus jeder dieser vier Berufsgruppen beschäftigen:

  1. Krankenhaushygieniker – Ärzte, die eine gesonderte Ausbildung durchlaufen haben. Sie sind verantwortlich für die Hygiene im Krankenhaus. Sie müssen auf dem neuesten Stand der Forschung sein, einen Blick für den Alltag haben, Mitarbeiter schulen und bei Problemen die Geschäftsführung des Krankenhauses informieren und bestenfalls Lösungen durchsetzen.
  2. Hygienefachkräfte – Pfleger oder Krankenhelfer, die die Vorgaben der Hygieniker umsetzen und in enger Bindung zum Krankenhauspersonal stehen.
  3. Hygienebeauftragte Ärzte – Sie setzen die Vorgaben in der Ärzteschaft der jeweiligen Station durch, fungieren als Ansprechpartner und Schnittstelle.
  4. Hygienebeauftragte Pflegekräfte – Jede Station im Krankenhaus soll einem Mitarbeiter die Gelegenheit geben, sich zum Hygienebeauftragten in der Pflege zu qualifizieren. Sie setzt dann die Vorgaben unter den Pflegern der Station um.

Hat eine Klinik weniger als 400 Betten, entfällt die Vorgabe des Krankenhaushygienikers, lediglich die drei anderen Berufsgruppen sollen vorhanden sein.

Die Empfehlungen stammen aus dem Jahr 2009 und wurden anschließend mit dem Infektionsschutzgesetz des Bundes und den Hygieneverordnungen der einzelnen Bundesländer festgeschrieben. Anfang 2015 stellte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe zudem mit viel Tam-Tam einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Krankenhausinfektionen und resistenten Erregern vor. Einer der wenigen konkreten Punkte darin: ein Förderprogramm, mit dem bis Ende 2016 zusätzliches Hygienepersonal eingestellt werden sollte. Zu dem Zeitpunkt, als die Hygieneempfehlungen nach einer Übergangsfrist endlich verbindlich werden sollten.

Doch der Plan ist nicht nach Plan gelaufen. Die Frist, bis zu der das Ziel erreicht werden sollte, wurde verlängert: Aus Ende 2016 wurde Ende 2019. Das Aufstocken des Personals kommt nur schleppend voran. Warum? Das Gesundheitsministerium sieht die Verantwortung bei den Kliniken und den Bundesländern. „Verantwortlich für die Umsetzung sind die jeweiligen Träger beziehungsweise Leiter der Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen“, schreibt Pressereferent Sebastian Gülde per E-Mail. Die Umsetzungsfrist sei auf Bitten der Länder zwischenzeitlich bis Ende 2019 verlängert worden, um ausreichend qualifiziertes Personal gewinnen zu können.

So lange gelten noch die alten Vorschriften der Bundesländer, die so genannten Landeshygieneverordnungen, die sich bisher zum Teil mit weniger Hygienepersonal zufrieden geben. So sind zum Beispiel in Hessen, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Thüringen, Bremen und Berlin bis heute keine hygienebeauftragten Pflegekräfte vorgeschrieben.

„Die Krankenhäuser haben die Initiative ausgesessen“, kritisiert dagegen Walter Popp, Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. Wenn ohnehin nicht mit Sanktionen zu rechnen sei, würden die Kliniken einfach weitermachen wie bisher – und das Geld für Krankenhaushygieniker sparen. Außerdem seien die Häuser nicht bereit, angemessene Gehälter für Krankenhaushygieniker zu zahlen, sagt Popp. Zudem gebe es zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten. Nur an einzelnen großen Krankenhäusern kann man die Facharztausbildung zum Krankenhaushygieniker machen.

„Die Krankenhaushygiene ist in Deutschland über Jahrzehnte vernachlässigt worden“, sagt Popp. Deshalb fehlten hierzulande jetzt Krankenhaushygieniker. Nach Schätzungen gibt es in Deutschland insgesamt höchstens 300 Hygiene-Ärzte – allerdings schon mehr als 350 Krankenhäuser, die mindestens einen Hygieniker haben müssten. Viele Kliniken geben in ihren Qualitätsberichten an, einen Krankenhaushygieniker zu beschäftigen – aber oft sind das nicht die geforderten Vollzeitstellen, sondern externe Berater, die nur gelegentlich vorbeischauen. Laut unseren Daten beschäftigen mindestens 16 Prozent der Kliniken ab 400 Betten einen solchen Berater.

In den Daten, die wir ausgewertet haben, sind teilweise die Namen der externen Hygieniker angegeben. Dadurch lässt sich errechnen, wie viele Kliniken ein einzelner Hygieniker berät. Spitzenreiter dieser fliegenden Ärzte ist demnach Andreas Schwarzkopf, er kommt auf mindestens zehn Kliniken im Süden Deutschlands, Walter Popp auf sieben. Und das sind nur die freiwilligen Angaben in den Qualitätsberichten. Tatsächlich betreuen die Hygieneärzte noch mehr Kliniken als in Daten sichtbar wird: Walter Popp zum Beispiel etwa hat nach eigenen Angaben im Jahr 2014 zwölf Kliniken extern beraten. Spitzenreiter Schwarzkopf kommt gar auf 37.

Wie ist das zu schaffen? Schwarzkopf fährt mit einem Chauffeur von Klinik zu Klinik, rund 2000 Kilometer pro Woche, verfasst Begehungsprotokolle und Hygienepläne im Auto. Er versucht jede Klinik mindestens zweimal im Jahr zu besuchen, je größer ein Haus, desto öfter, sagt er. Um Qualität sicher zu stellen, verlasse er sich auf das Personal vor Ort, sei ansonsten per Handy zu erreichen. Der Klinikleitung mache er klar, dass sie verantwortlich sei, wenn etwas schief läuft. Sein Geschäft laufe gut, sagt er. Schwarzkopf würde gern zusätzliche Hygieniker einstellen, finde aber zur Zeit schlicht kein Personal. „Der Job ist nicht jedem gegeben“, sagt er.

Der Aufwand für externe Beratung sei hoch, wenn man es gut machen wolle, sagt Popp. Der Preis sei Verhandlungssache und könne stark schwanken. Was er damit verdient, will Popp nicht sagen. Nur so viel: Wenn man auf Qualität achten wolle, seien keine großen Gewinnmargen drin. Für manche andere Kollegen könne das aber durchaus ein lukratives Geschäft sein. Zu viele Kliniken könne man als Hygienearzt aber nicht vernünftig betreuen.

Auch Petra Gastmeier, Leiterin des Instituts für Hygiene an der Berliner Großklinik Charité, hat in der Vergangenheit extern Häuser beraten. Doch mittlerweile wendet sie sich davon ab. „Mein Kopf hat nur ein gewisses Speichervermögen“, sagt sie. Wenn ein Anruf aus einem Haus komme, müsse man aber sofort wissen, wie die Lage vor Ort sei, auf wen im Team sie sich verlassen könne. Als externe Beraterin sei das nur bedingt möglich.

Das sieht auch Franz Sitzmann so, der lange Jahre als Hygienefachkraft tätig war und mehrere Fachbücher zum Thema geschrieben hat. „Ein Krankenhaushygieniker muss anwesend und erreichbar sein“, sagt Sitzmann. Es reiche nicht aus, jemanden zu haben, der ein paar Mal im Jahr vorbeikomme. „Hygiene lässt sich nicht von oben verordnen“, sagt Sitzmann, sondern müsse im Alltag erkämpft und ausgehandelt werden.

Dazu ist nicht allein genügend Hygienepersonal notwendig, sagt Johanna Knüppel, Sprecherin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe. „Was machen denn Hygienefachkräfte? Sie kontrollieren das Personal, das am Patienten ist. Ist die Hygienefachkraft weg, dann ist der Alltag wieder da.“ Und Alltag heißt allzu oft: ein einziger Pfleger auf einer Intensivstation, der sich um mehrere Patienten gleichzeitig kümmern muss. „Oft kommt eine Pflegekraft auf vier oder fünf Patienten“, sagt Knüppel. Diese hat dann buchstäblich alle Hände voll zu tun – und schafft es vielleicht nicht, sich zwischen den Behandlungen der Patienten die Hände zu desinfizieren.

Dirk Janssen, stellvertretender Vorstand des BKK Landesverbands Nordwest, fordert daher einen verbindlichen Personalschlüssel für Hygiene-, Pflege- und Reinigungspersonal. Dazu strengere Kontrollen der Hygiene, deren Ergebnisse zum Beispiel in Form einer Hygieneampel auch veröffentlicht werden müssten. Schließlich brauche es auch eine umfassende Meldung von antibiotikaresistenten Krankenhauserregern, die es bisher nur für ein paar Erreger gibt.

Gebe es diese Änderungen nicht, kritisiert Janssen, bliebe es dabei, dass in Deutschland jedes Jahr Tausende Menschen sterben, weil sie sich im Krankenhaus mit gefährlichen und zum Teil resistenten Keimen infizieren. Schätzungen gehen von einer halben bis zu einer Million Infektionen im Jahr aus – mit 15.000 bis 30.000 Toten, davon wären ein Drittel bis zur Hälfte mit den heutigen Mitteln der Medizin vermeidbar. Es sind also zwischen 5.000 und 15.000 Menschen, deren Leben jährlich durch bessere Hygiene gerettet werden könnte. Man bedenke, wie viel getan wurde, um die Zahl der Verkehrstoten auf mittlerweile 3500 pro Jahr zu senken. Während die deutschen Krankenhäuser beim Hygienepersonal knausern.

Unsere Recherche hat teils heftige Reaktionen ausgelöst. Hier gehen wir auf die Kritik ein.

Korrektur 11.01.2017: In einer früheren Version des Textes war von „Hygienevorschriften“ des Robert-Koch-Instituts die Rede, die manche Kliniken nicht erfüllen. Tatsächlich handelt es sich um „Empfehlungen“ aus dem Jahr 2009, die zunächst Ende 2016 verbindlich werden sollen, jetzt aber erst bis Ende 2019 bundesweit umgesetzt werden müssen.

Korrektur 18.1.2017: In einer früheren Version des Artikels haben wir eine interaktive Landkarte abgebildet, in der man sehen konnte, welche Kliniken die Hygieneempfehlungen des RKI 2014 umgesetzt hatten und welche nicht. Die Daten zu dieser Karte stammten vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). An dieses oberste Organ der Selbstverwaltung müssen die Kliniken ihre Daten einmal in Jahr liefern. Nach der Veröffentlichung haben nun einzelne Kliniken argumentiert, die beim G-BA veröffentlichten Daten seien falsch. Es habe u.a. technische Übermittlungsfehler gegeben. Da wir dies im Einzelfall nicht nachprüfen können, haben wir uns grundsätzlich entschieden, die Karte aus dem Netz zu nehmen.