NRW: So profitieren Kommunen von klimaschädlicher Kohle
Mit Aktien und Konzernbeteiligungen hängen viele Kommunen an der Kohleindustrie. Eine Crowd-Recherche von CORRECTIV zeigt, dass jede fünfte Gemeinde und jeder zweite Kreis in NRW vom klimaschädlichsten Energieträger Kohle profitieren. Die ersten stoßen ihre Beteiligungen ab.
Zwischen den letzten Bäumen von Lützerath sitzt eine Frau auf einer Bank und blickt auf die Zerstörung. „Vergangenes Jahr im April haben sie mein Elternhaus im Nachbarort Immerath abgerissen“, sagt Petra Schumann, 52 Jahre alt. Sie war die ganze Woche lang vor Ort und sah zu, wie das Örtchen der Kohle zum Opfer fiel: „Ich hatte jeden morgen das Gefühl: Ich fahre zu einer Beerdigung.“ Wenige hundert Meter entfernt von ihr frisst sich ein Schaufelradbagger durch den Braunkohletagebau Garzweiler II; das Dorf ringsum wirkt auf den ersten Blick menschenleer.
Petra Schumann ist an diesem Tag hier, um gemeinsam mit Klimaschützern, Anwohnenden und Aktivistinnen zu protestieren. Mit einem „RWE-Tribunal“ wollen sie auf sich aufmerksam machen und Betroffenen des Braunkohleabbaus eine Stimme geben.
Aber das, was in Nordrhein-Westfalen (NRW) Landschaften verwüstet und Ortschaften praktisch von der Landkarte wischt, ist für viele Kommunen eine Einnahmequelle: CORRECTIV hat Gemeinden, Kreise und Landschaftsverbände in NRW in einer groß angelegten Crowd-Recherche detailliert nach ihren direkten oder indirekten Beteiligungen an Kohleunternehmen gefragt.
An dem Rechercheprojekt haben sich auch junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beteiligt. Neben Schule und Studium engagieren sich die meisten von ihnen bei der Bewegung „Fridays for Future“.
Jede fünfte Kommune in NRW an Kohleunternehmen beteiligt
Aus den Daten geht hervor, dass eine von fünf Gemeinden Beteiligungen an Kohleunternehmen hat – bei den 53 Gemeinden im Ruhrgebiet ist es sogar jede dritte. Von den Landkreisen in NRW ist jeder zweite an einem Kohlekonzern beteiligt. Das bedeutet: Sie besitzen als Gesellschafter einen bestimmten Prozentsatz eines Unternehmens oder halten Aktien daran. Die Gemeinden, Kreise und Landschaftsverbände profitieren also davon, dass die Unternehmen RWE, Steag und Trianel Gewinne mit fossilen Energien machen.
Den Rohdatensatz mit allen prozentualen Beteiligungen können Sie hier herunterladen: LINK.
Die Investments der Städte und Landkreise in Kohlebeteiligungen stützen die fossile, klimaschädliche Industrie – deswegen fordert bei dem Protest in dem verlassenen Dorf Lützerath der pensionierte Hochschullehrer und Mitorganisator des „RWE-Tribunals“ Rolf Schwermer die Kommunen schon seit Jahren auf, ihre RWE-Beteiligungen zu verkaufen: „Das Allgemeinwohl und das Klima werden geschädigt, wenn man weiter an den kommunalen Beteiligungen festhält“, sagt Schwermer von der Umweltinitiative „Fossil Free Essen“. Die Öffentlichkeit werde seit Jahren über die wahren Auswirkungen des kommunalen Aktienbesitzes „hinters Licht geführt.“
Wie die CORRECTIV-Recherche zeigt, haben in NRW etwa 90 kommunale Akteure Kohlebeteiligungen. 57 von ihnen halten zusammen fast 85 Millionen RWE-Aktien – das entspricht einem Unternehmensanteil von rund 12,5 Prozent. Zugleich schreiben sich viele NRW-Kommunen Klimaschutz auf die Fahnen und haben den Klimanotstand ausgerufen. 14 von ihnen besitzen trotzdem Kohlebeteiligungen. Wie passt das zusammen?
Die Beteiligungen der Kommunen und Kreise sind keineswegs neu, sondern historisch gewachsen. An dem Essener Energieriesen RWE sind Kommunen schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligt. Die kommunale Politik und die fossile Wirtschaft sind personell eng verflochten, was seit Jahren immer wieder kritisiert wird.
Studie: NRW muss bis 2028 raus aus der Kohle
RWE präsentiert sich seit knapp zwei Jahren mit einer neuen, „grünen“ Unternehmensstrategie: So schreibt der Konzern in einer Pressemitteilung von einem „ambitionierten“ CO2-Minderungsplan und dass er „verantwortungsvoll“ aus den fossilen Energieträgern aussteigen will. Eine Studie von Greenpeace bewertet den Schwenk des Konzerns als Greenwashing. Denn nach wie vor sei RWE Europas größter CO2-Emittent. Der Konzern will noch fast zwei Jahrzehnte, bis 2038, Kohle fördern. Von der Bundesregierung bekommt RWE für den Ausstieg 2,6 Milliarden Euro Steuergelder – laut CORRECTIV-Recherchen eine viel zu hohe Summe.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im Auftrag des Bündnisses „Alle Dörfer Bleiben“ im Juni 2021 eine Studie zur Tagebauplanung im Rheinischen Braunkohlerevier veröffentlicht. Claudia Kemfert, Co-Autorin der Studie, sagt: „Um die Klimaschutzziele einzuhalten, muss in NRW ein schnellerer Kohleausstieg bis spätestens 2028 anvisiert werden.“ Laut der Studie sei es weder energiepolitisch notwendig, noch klimapolitisch zu rechtfertigen, weitere Tagebaufelder am Tagebau Garzweiler II zu erschließen – Lützerath könne also erhalten bleiben.
Wir konfrontieren RWE mit den Empfehlungen der Studie. Ein Pressesprecher schreibt, dass im Kohleausstiegsgesetz die „energiepolitische Notwendigkeit des Tagebaus Garzweiler festgestellt worden ist“ und verweist auf die Leitentscheidung des Landes NRW, die das im März bestätigte. Jene Leitentscheidung, die laut DIW-Studie „zwingend“ neu getroffen werden müsse.
Kommunen widersprechen sich
Die Stadt Essen ist mit 20,3 Millionen Aktien einer der größten kommunalen RWE-Aktionäre – und gleichzeitig Sitz der Firmenzentrale. Die Stadt begründet ihre Beteiligung an RWE so: „Die Erträge aus den Dividenden der Aktienanteile sichern den kommunalen Haushalt der Stadt Essen.“ Das bedeutet, mit den Erträgen aus den Aktien finanziert die Stadt öffentliche Aufgaben wie Abfallentsorgung oder den Öffentlichen Personennahverkehr. Die Stadt finde es außerdem sinnvoller, „den Prozess der Energiewende gemeinsam zu gestalten“ und über die Unternehmensanteile Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen, teilt eine Pressesprecherin mit.
Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende, schätzt die Mitspracherechte einer einzelnen Kommune als eher gering ein. Der promovierte Volkswirt war bis 2018 Finanzexperte der Grünen im Bundestag. „Nur wenn sich die Kommunen einig sind über ein gemeinsames Vorgehen, könnten sie eventuell etwas beeinflussen.“ Seiner Erfahrung nach ist die öffentliche Hand allerdings schlecht darin, auf die Politik von Unternehmen einzuwirken. In aller Regel laufe es andersherum:„Meist steuert irgendwann das Unternehmen die Politik.“
Bei der Frage, wie ihr Einfluss auf die Unternehmensstrategie von RWE konkret aussieht, verweist die Stadt Essen auf den Verband der kommunalen RWE-Aktionäre (VkA). Wolfgang Schäfer war bis Ende Juni 2021 Vorsitzender des Verbandes in Westfalen. Er kann auf Nachfrage von CORRECTIV kein Beispiel nennen, bei dem die kommunalen Aktionäre ihr Gewicht geltend gemacht hätten. Der Grund dafür sei einfach: Man sei sich mit dem Unternehmen eigentlich immer einig gewesen.
Am 1. Juli 2021 fusionierten der Verband aus Westfalen und der aus Essen. Der neue Geschäftsführer des VkA, Udo Mager, sagt: „Die kommunalen Aktionäre sind in der Lage, über ihre Präsenz und Stimmabgabe auf der RWE Hauptversammlung eine wichtige Rolle zu spielen.“ Zudem seien Gespräche und Diskussionen über Ziele und Wege ein wichtiges Instrument, den Konzern auf dem Weg zur Nachhaltigkeit zu unterstützen.
Wie (wenig) kommunale Aktionäre bei RWE mitreden
Die Stadt Mülheim, die mit 8,5 Millionen RWE-Aktien ebenfalls zu den größten kommunalen Anteilseignern gehört, sieht das anders. Ein Pressesprecher schreibt CORRECTIV per E-Mail, dass die Stadt keinen Einfluss auf RWEs Unternehmensstrategie habe. Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), sagt: „RWE ist in doppelter Hinsicht kein kommunaler Konzern mehr.“ Der LWL verkaufte vor zwei Jahren ein Viertel seiner RWE-Aktien. Löb selbst hatte drei Viertel verkaufen wollen, scheiterte jedoch am Widerstand aus CDU und SPD.
„Die Kommunen halten nur noch 15 Prozent der Aktien, der Rest ist in den Händen von institutionellen Investoren oder ausländischen Fondsgesellschaften“, sagt Löb. Außerdem tätige der RWE-Konzern seine Investments zu 80 Prozent im Ausland. Das habe nichts mit kommunaler Daseinvorsorge zu tun. „Was in Texas oder Neuseeland passiert, das können wir als Kommunalverband nicht beurteilen und wir haben darauf auch keinen Einfluss“.
Doch welche Rolle spielen kommunale Interessen für den Konzern? Wenn man Matthias Löb fragt, offenbar keine große: „Wir wurden nicht in die Absprachen zur Zerschlagung der innogy und Aufteilung des Geschäftes zwischen RWE und EON einbezogen.“ Von dem Tauschgeschäft hätten sie erst spät erfahren – kurz bevor es in den Zeitungen stand. „Dass man das auch aus kommunaler Sicht nicht nur positiv sehen kann, zeigt der Protestbrief von elf großen kommunalen Kraftwerksbetreibern an Peter Altmaier“ sagt Löb. Die Unternehmen befürchten in Folge des Deals einen verzerrten Wettbewerb auf dem Strommarkt und wandten sich deshalb an den Bundeswirtschaftsminister aus der CDU.
CORRECTIV hat den RWE-Konzern gefragt, welchen Einfluss kommunale Aktionäre haben, welche Rolle ihre Interessen in der Unternehmensstrategie spielen und inwiefern sie einbezogen werden. Ein Pressesprecher antwortet auf einige Fragen aus unserer E-Mail. Doch diese Punkte lässt er alle offen.
Kohle-Aktien als Geldanlage sinnvoll?
Ob es für Kommunen sinnvoll ist, sich mit Aktien an RWE zu binden, ist aufgrund des schwankenden Kurses auch aus finanzieller Sicht fraglich. Lag der Aktienkurs im Dezember 2007 zeitweise bei fast 100 Euro, war er acht Jahre später auf 10 Euro abgestürzt.
2014 wäre Mülheim wegen der Kurseinbrüche fast pleite gegangen. Eine halbe Milliarde Euro fehlte damals von heute auf morgen in den Kassen der Ruhrgebietsstadt und trieb den Schuldenberg Mülheims um 120 Millionen Euro in die Höhe. Die Stadt berücksichtigte jahrelang den Wertverlust der RWE-Aktien in ihren Abschlüssen nicht – bis er dann auf einen Schlag ein Loch in die Habenseite riss.
Auch die Dividenden des Konzerns schwanken erheblich. Konnten Kommunen im Jahr 2009 noch 4,50 Euro pro Aktie einstreichen, sind es aktuell 85 Cent. 2016 und 2017 fielen die Erträge komplett aus. Laut Finanzexperte Michael Thöne von der Universität Köln sind die Aktien für die Kommunen heute nicht mehr vorteilhaft: „Wenn sich heute jemand entscheiden müsste, in welche Aktie er oder sie investiert, würde niemand mehr RWE auswählen.“
Erste Kommunen trennen sich von Beteiligungen
Die ersten Gemeinden und Kreise haben ihre RWE-Anteile bereits verkauft. Im Kreis Siegen-Wittgenstein beispielsweise sprachen sich die Grünen im Jahr 2016 dafür aus, die fast vier Millionen Aktien des Kreises abzustoßen, um so „zu retten, was noch zu retten“ sei. Denn auch das „zukünftige Geschäftsmodell“ von RWE erscheine „äußerst fraglich“. Obwohl der Kreis ursprünglich alle Anteile bis Ende 2017 verkaufen wollte, war es erst im Jahr 2019 so weit. Ähnlich lange dauerte es in Bochum. Der mit 6,6 Millionen Aktien ehemals viertgrößte kommunale Anteilseigner bot im Oktober 2016 das erste Aktienpaket an und verkaufte das letzte im September 2019.
Der Rhein-Sieg-Kreis beschloss am 4. Juli 2019, sich von seinen 1,4 Millionen RWE-Aktien zu trennen. In den Sitzungsunterlagen wird das „ausschließliche Investment in einen einzigen Unternehmenswert“ als „Klumpenrisiko“ bezeichnet. Den Verkaufserlös wolle der Kreis in eine nachhaltige Geldanlage reinvestieren.
Katja George von der internationalen Klimaschutz-Organisation 350.org sagt, die Kommunen setzten mit ihren Aktien-Investments das falsche Zeichen: „Der kommunale Besitz von RWE-Aktien hat jahrzehntelang nichts am grundlegenden Geschäftsmodell von RWE geändert“. Die Kommunen sollten stattdessen durch den entschiedenen Abzug ihrer Finanzmittel Druck aufbauen und so auf einen Wandel hinwirken, fordert George.
Der Kommunalfinanzexperte Michael Thöne sieht vor allem Bund und Länder in der Verantwortung. „Klima- und Energiepolitik müssen zentral gesetzt werden für die Energieversorger. Die Kommunen selbst sind gar nicht gut darin, lokal globale Themen anzugehen, was Kompetenz und Durchsetzungskraft angeht“, sagt er. Den größten Hebel für Veränderung sieht er in der kommenden Bundestagswahl. „Im September werden die klimapolitischen Aktivitäten der kommenden Jahre beschlossen. Wenn man etwas verändern will, sollte man wählen gehen.“
Für Petra Schumann, kann der Ausstieg nicht schnell genug kommen. „Die baggern hier meine Heimat weg“, sagt sie. Vor Jahren hätten die Menschen in der Region ihre Heimat verlassen, weil sie dachten „wenn es das Gemeinwohl erfordert, dann muss ich eben ausziehen“. Das heute noch Menschen umgesiedelt würden, sei jedoch „völlig unnötig“. Es gehe „einfach nur noch um Profit für einen Konzern“, das sei „bitter“.
Das Crowd-Projekt
Die Bürger- bzw. Crowd-Recherche ist ein neues Konzept des Journalismus, das CORRECTIV vorantreibt. Die Idee dahinter ist, dass sich jeder Bürger und jede Bürgerin an Recherchen beteiligen und journalistisch tätig sein kann – wenn er oder sie die dafür nötigen Methoden erlernt.
Bei dem Crowd-Projekt zu kommunalen Kohlebeteiligungen in NRW hat ein junges Rechercheteam aus Schülern und Studentinnen zwischen 18 und 25 unter unserer redaktionellen Leitung mitgearbeitet. Sie verschickten Anfragen zu den kommunalen Beteiligungen an die fast 400 Kommunen und kreisfreien Städte in NRW. Zuvor entwickelten wir gemeinsam in einem Workshop die Fragen und das Vorgehen und vermittelten ihnen die Grundlagen journalistischen Arbeitens.
Telefonate und Interviews hat ausschließlich das CORRECTIV-Klimateam geführt. Die Antworten der Kommunen haben die CORRECTIV Reporterinnen und Reporter redaktionell ausgewertet. Der Großteil des jungen Rechercheteams engagiert sich neben Studium oder Schule bei Fridays for Future.
Recherche: Lucia Parbel, Tom Patzelt, Josefina Pöpperl, Lisa Marie Münster, Nick Heubeck, Pauline Brünger, Carla Reemtsma, Svenja Kannt, Jonathan Auer, Carolin Sprick, Katarina Huth, Matthias Bau
Text: Katarina Huth, Matthias Bau
Grafik: Max Donheiser