In eigener Sache

Missbrauch in der katholischen Kirche: Andreas Perr und sein Kampf gegen die Bischöfe

Die Erfahrung von Missbrauch ruinierte sein Leben – nun will Andreas Perr Gerechtigkeit. Mit seiner Klage setzt er nicht nur den pädokriminellen Pfarrer H., sondern weitere Kirchenobere unter Druck, bis hin zum Ex-Papst Benedikt XVI. Der Täter wehrt sich, der Ex-Papst hat eine internationale Kanzlei eingeschaltet. Aber auch Perr hat Verbündete.

von Marcus Bensmann

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Andreas Perr will sich nicht mehr verstecken. Er ist eines der vielen Opfer des Missbrauchspriesters Peter H., und führt die Klage gegen den Priester sowie Bischöfe und den Ex-Papst, denen eine Mitverantwortung als Verantwortliche vorgeworfen wird. Foto: Ivo Mayr

Der Mann, der den Ex-Papst verklagt, tritt nun in die Öffentlichkeit. Nicht mehr er, sondern die Täter sollen sich schämen. Andreas Perr, 38 Jahre alt, kämpft darum, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Er will sich nicht mehr verstecken. 

„Ich bin sehr stolz darauf, was jetzt geschieht“, sagt er gegenüber CORRECTIV, Bayerischem Rundfunk (BR) und Zeit. „Für mich ist es einfach besser, zu sagen, was passiert ist, und das hilft mir.“

Andreas Perr reichte im Juni Klage ein, und zwar nicht nur gegen den Priester, der ihn missbrauchte, sondern auch gegen eine Reihe von Verantwortlichen, die den Täter deckten – bis hoch zum emeritierten Papst Benedikt XVI. Bisher äußerte er sich nur anonym. Jetzt spricht er erstmals unter vollem Namen über das, was ihm geschah.

Pfarrer H. arbeitete über 20 Jahre in Garching und missbrauchte mehrere Jungen

Er war ungefähr zwölf Jahre alt, als der örtliche Pfarrer ihm und einem seiner Freunde im Pfarrhaus Pornofilme aufnötigte. Der Täter Peter H. steht im Zentrum eines der größten Missbrauchsskandale der katholischen Kirche. Nach mehreren Versetzungen war H. mehr als 20 Jahre in der oberbayerischen Gemeinde Garching an der Alz tätig und missbrauchte dort mehrere Jungen. Andreas Perr war einer von ihnen.  

Das Erlebnis erschütterte den Jungen. „Ich fühlte mich schlecht und schmutzig“, sagt er heute. Er vertraute sich seiner Mutter an. Doch H. konnte sich in der katholischen Gemeinde auf seine priesterliche Autorität verlassen – die Mutter warf ihrem Sohn vor zu lügen. Da floh Perr aus der Erwachsenenwelt. Er riss aus, geriet ins Drogenmilieu, rutschte ab, dann folgten Haftstrafen und Maßregelvollzug, also eine gesicherte Unterbringung und Behandlung für suchtkranke Straftäter. 

Priester H. war in der Kirche bereits Ende der 1970er Jahre aufgefallen. Als erste Übergriffe bekannt wurden, versetzte die Kirche ihn bis 2010 von Gemeinde zu Gemeinde, erst nach Essen, dann nach Bayern. Damals amtierte Kardinal Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising – der spätere Papst Benedikt XVI. 

Die New York Times berichtete 2010 erstmals über den Fall Peter H. Die meisten seiner Taten sind strafrechtlich inzwischen verjährt, wie viele pädokriminelle Übergriffe in der katholischen Kirche, auch der Missbrauch von Andreas Perr. Dennoch reichte er im Juni dieses Jahres vor dem Landgericht Traunstein Klage ein, und zwar nicht nur gegen H., sondern auch gegen das Erzbistum München und Freising, gegen Kardinal Friedrich Wetter und gegen den Papst emeritus Benedikt XVI. 

CORRECTIV, BR und Zeit konnten Unterlagen, die das Verfahren betreffen, einsehen. Perrs Anwalt, der Berliner Jurist Andreas Schulz, ist bekannt für unorthodoxes Vorgehen. So erstritt er vor Jahren vom libyschen Regime unter Muammar al-Gaddafi dreistellige Millionenbeträge für die Opfer des La-Belle Terroranschlages. 

Der Fall zeige beispielhaft das Versagen der Kirche

Der Ex-Papst indes lässt sich von Hogan Lovells vertreten, einer der weltweit teuersten Wirtschaftskanzleien. Der Anwalt des Priesters räumt in seiner Antwort an das Landgericht Traunstein das gemeinsame Pornogucken ein und teilt mit, H. sei bereit, sich zu entschuldigen. Trotzdem beantragt er, die Klage abzuweisen: Mangels eines „nachvollziehbaren kausalen Schadens vom einmaligen Zeigen eines erotischen Films“ könne der Klageanspruch nicht gestützt werden.

Perrs Anwalt kontert: „Die Bagatellisierung“ verdeutliche die Wahrnehmung von H. und seinem Anwalt. Man „erwartet von einem Pfarrer ganz sicher nicht, dass der einem minderjährigen Jungen einen Pornofilm zeigt“, schreibt Schulz. Allein dieser Umstand reiche aus seiner Sicht für eine Verurteilung aus. Weiter schreibt Schulz in seiner Erwiderung auf den Antrag der Gegenseite: „Es mag sein, dass in der Welt eines Kirchenrechtlers das Erlebte als eine normale Kindheitserfahrung angesehen wird – sie ist es jedoch nicht!“ 

Der Kläger Perr steht nicht alleine da. Er erhält Hilfe von zwei Seiten: Zum einen unterstützt ihn die Kampagnenplattform innn.it, die aus dem deutschen Zweig von change.org hervor ging. Die Online-Aktivisten unterstützen die Unterschriftenaktion von Perr, die fordert, dass nicht die Kirche, sondern der Staat den jahrzehntelangen Missbrauch in der katholischen Kirche untersuchen soll. 

Wenn die Menschen „katholische Kirche und Missbrauch“ hören, wundere sie das nicht mehr, sagt Penelope Kemekenidou von innni.it: ,,Die Petition kann helfen, dass der Staat hier endlich die Verantwortung übernimmt.“ Der Fall von Andreas Perr zeige beispielhaft, wie die Kirche bei der Aufklärung des Missbrauchs versagt habe.

Auch die Initative Sauerteig aus der Gemeinde Garching stellt sich Perr zur Seite: Die Mitglieder starten auf der Spenden-Plattform GoFundMe eine Crowdfunding-Kampagne, um Geld für eventuelle Gerichtskosten des Klägers zu sammeln. Unterstützt werden sie dabei von weiteren Betroffeneninitiativen. 

Sollte das Landgericht Traunstein dem Kläger Recht geben, werde das gesammelte Geld verwendet, um anderen Betroffenen zu helfen und weitere Gerichtsverfahren zu finanzieren, sagt Rosi Mittermeier von der Initiative, die sich nach den CORRECTIV-Recherchen in Garching an der Alz gegründet hatte.  

Klagen trotz Verjährung: Druck der Öffentlichkeit oder Klagewelle

Es gibt neben Andreas Perr in einem anderen Fall ein weiteres Missbrauchsopfer, dass trotz Verjährung vor Gericht geklagt hat: Sechs Wochen nach der Klageeinreichung in Traunstein verklagte ein Opfer das Erzbistum Köln in einem anderen Fall und forderte eine Entschädigung in Höhe von über 800.000 Euro. Der Kläger in Köln wurde von einem anderen Pfarrer missbraucht. Am Dienstag begann vor dem Landgericht Köln der Prozess. Einen Tag zuvor hatte der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki, auf die Verjährung verzichtet. Der Druck der Öffentlichkeit war offenbar zu groß.

In Traunstein indessen soll das Landgericht nun feststellen, dass die Beklagten bis hin zum Ex-Papst „gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger den Schaden zu ersetzen“, den Perr in Folge des sexuellen Missbrauchs erlitten hat. Die Feststellung, so argumentiert der Anwalt des Klägers, verjähre nicht. Aus den Unterlagen eines der Anwälte der Gegenseite wird dieses als rechtsmissbräuchlich beschrieben, da hier die Verjährung umgangen werden solle.

Beim Landgericht Traunstein ist noch kein Termin für eine Verhandlung festgesetzt. Das Gericht räumte dem Erzbistum, Kardinal Wetter und dem Ex-Papst zunächst eine Fristverlängerung bis in den Januar 2023 für ihre Erwiderung auf die Klage ein. Der Anwalt des ehemaligen Priesters H. antwortete indessen fristgerecht. 

Sollte dessen Antrag auf Verfahrenseinstellung Erfolg haben, wären auch „die Klagen gegen die übrigen Beklagten abzuweisen“, schreibt H.s Anwalt. Damit wäre das Verfahren für den Ex-Papst unter Umständen abgewehrt, ohne sich zur Sache geäußert zu haben. Der Berliner Rechtsanwalt Schulz sieht darin eine „gemeinsame Strategie“ der Beklagten. Priester H. bleibe so „Fußsoldat seines einstigen Dienstherren“. Der Anwalt von H. weist das zurück: „Ich führe den Rechtsstreit für meinen Mandanten so, wie ich das für richtig erachte. Es gab zu keinem Zeitpunkt Absprachen mit den übrigen Beklagten.“ Der Anwalt von H. will sich wegen des laufenden Verfahrens inhaltlich nicht äußern. Der Sprecher des Erzbistums München und Freising schreibt, „eine Abstimmung … vorab hat nicht stattgefunden, die Behauptung der ‘gemeinsamen Strategie’ ist daher unzutreffend.

Das Gericht hat schon erkennen lassen, dass es das Verfahren im Ganzen beurteilen will: Die Sprecherin des Landgerichts Traunstein teilte auf Nachfrage von CORRECTIV, BR und Zeit mit, dass „über die Klage insgesamt entschieden“ werde, und „nicht über einzelne Anträge“. Das bedeutet: Das Gericht beschließt erst im Januar, „ob und gff. wann eine mündliche Verhandlung stattfinden wird“. 

„Erzbistum verantwortlich für die Gefährdung Dritter“

Zum Hintergrund der Klage gehört ein Kirchenurteil aus dem Jahr 2016, das die Mitverantwortung der Kirchenoberen bestätigt: Unter anderem wird der von Perr erlittene Missbrauch als ein „Vergehen von geringerer Schwere“ im kirchenrechtlichen Zusammenhang bezeichnet; auch attestiert es dem damaligen Erzbischof Kardinal Ratzinger und weiteren Verantwortlichen des Erzbistums München und Freising eine Pflichtverletzung. Denn sie hatten H. trotz bekannter Übergriffe weiter in der Gemeindearbeit eingesetzt. Diese Details aus dem bis dahin geheimen Dekrets brachte die Zeit im Januar dieses Jahres an die Öffentlichkeit. 

Das Dekret führte 2016 aber vor allem dazu, dass H. nicht hart bestraft wurde und weiter im Priesteramt bleiben konnte – ihn traf demnach schließlich nur ein Teil der Schuld. Damals ließ sich H. bereits von demselben Anwalt vertreten wie in dem aktuellen Verfahren. Damals ging der Jurist mit dem Erzbistum scharf ins Gericht. 

Es sei strafmildernd für H. zu werten, „dass die Erzdiözese München und Freising den Priester in Kenntnis seiner Erkrankung“ in Garching an der Alz eingesetzt habe, „wo ein Rückfall und hierdurch Gefährdung Dritter wahrscheinlich war“.

Und diese Gefährdung war Realität, wie der Missbrauch an Perr belegt. 

Ein Priester, ein Porno und weitere Vorwürfe

Es geschah an einem Tag im Jahr 1996. Perr sagt, Priester H. habe mit ihm und dem anderen Jungen einen Porno geschaut und gemeinsam onaniert. H. habe beide Jungen auch angefasst. H. lässt diese Handlungen über seinen Anwalt abstreiten. Laut dem Kirchenurteil von 2016 behauptete H., das Schauen eines Pornofilmes sei ein einmaliger Vorfall gewesen, zumal er in Garching gar keine Pornos mehr besessen habe. 

Recherchen von CORRECTIV und BR werfen Zweifel an den Aussagen von H. auf: Demnach soll H. nach der Verurteilung 1986 einen weiteren Jungen namens Stefan in Garching an der Alz über ein Jahr lang regelmäßig missbraucht haben.

 Auch in diesem Fall wirft ihm das Opfer vor, ihm Pornos vorgeführt und mit ihm gemeinsam onaniert zu haben. Das Erzbistum München und Freising hatte selbst ein Missbrauchs-Gutachten bei einer Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben, das im Januar dieses Jahres erschien. Auch darin wird der Fall Stefan untersucht. 

Laut dem Gutachten bestreitet H. die Vorwürfe. Doch die Münchner Anwälte halten ihn für nicht glaubwürdig. Er gestehe nur das ein, was nicht mehr zu bestreiten sei, heißt es in dem Gutachten. 

Nun ist es CORRECTIV außerdem gelungen, erstmals Kontakt zu dem Umfeld des zweiten Jungen zu bekommen, der gemeinsam mit Andreas Perr missbraucht worden sein soll. Demnach sei der Junge offenbar regelmäßig zu H. gegangen und habe danach immer Geld gehabt. Das deckt sich mit Perrs Aussagen, wonach dieser Junge häufiger bei H. gewesen sein und dort nach dem sexuellen Missbrauch Geld erhalten haben soll.

Perr rutschte nach dem Missbrauch in die Sucht ab und erkrankte schwer

Für Perr hatte die Erfahrung sexueller Gewalt fatale Folgen. Sein Rechtsanwalt Schulz beschreibt in der Erwiderung an das Landgericht, wie der eigentlich talentierte Handwerker infolge der vom Missbrauch verursachten Drogensucht schwer erkrankte. Eine erfolgreiche Karriere sei ihm so verwehrt geblieben. Auch dies zieht H.s Anwalt in Zweifel: Es sei fern der „Lebensrealität, dass der Kläger kausal durch das einmalige Erlebnis alle von ihm behaupteten negativen Folgen erlitten hat“.

Perr hat schon einmal versucht, sich juristisch gegen den mutmaßlichen Täter zu wehren. Als die New York Times 2010 und danach deutsche Medien über den Fall H. berichteten, erinnerte sich seine Mutter an das, was ihr Sohn damals gesagt hatte. Das sei der „Aha-Effekt“ bei seiner Mutter gewesen, sagte Perr, die nun verstand, dass ihr Sohn damals die Wahrheit gesagt hatte. Der von der Drogensucht gezeichnete Perr zeigte H. an, aber das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt. In der Zeit befragte der damalige Missbrauchsbeauftragte des Erzbistums München und Freising, Siegfried Kneißl, Perr über den Vorfall. Das Gesprächsprotokoll fand auch Eingang in das Kirchendekret. Demnach hatte Kneißl offenbar Perr verunsichert: „laut Prokokoll …sprach Andreas Perr plötzlich von seinem Aussageverweigerungsrecht, als ihm die Ernsthaftigkeit und die Ausmaße seiner Aussagen bewusst wurden“.

Die Verantwortlichen hätten, so erinnert sich Perr, sogar Täter und Opfer umgekehrt. Einer habe ihm gesagt, dass er damit hätte rechnen müssen, wenn er mit dem H. einen Porno anschaue. Über das Erzbistum München und Freising lässt der damalige Missbrauchsbeauftragte Siegfried Kneißl, der das Gespräch damals mit Perr geführt hatte, ausrichten, dass er, „in keinem seiner Gespräche Betroffene für das verantwortlich“ gemacht habe, „was sie erfahren mussten“.  

Perr ist inzwischen dabei, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Seit diesem Jahr ist er aus dem Maßregelvollzug entlassen und hat einen Job gefunden.