Die Suche nach den Erben des verstorbenen Papstes geht weiter
Das Missbrauchsverfahren in Traunstein überschattet das Erbe des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. Obwohl bis heute keine Erben gefunden sind, setzte das zuständige Landgericht jetzt einen Streitwert fest.
Knapp ein Jahr nach dem Tod von Papst Benedikt XVI. ist die Frage nach seinem Erbe immer noch ungeklärt. Sie ist derzeit aber hochrelevant – denn wer das Erbe antritt, wäre in der Pflicht, sich stellvertretend für den ehemaligen Papst einer laufenden Schmerzensgeldklage vor dem Landgericht in Traunstein zu stellen.
Die Klage, um die es geht, stammt von von Andreas Perr. Sie überschattet bis heute das Andenken an den Mann, den seine Anhänger als einen der bedeutendsten Päpste und besten Theologen der Moderne feiern. Beim Verfahren geht es um die Verantwortung des ehemaligen Papstes für den Wiedereinsatz des Priesters Peter H., der zuvor als Sexualstraftäter verurteilt wurde.
Die jahrelange Vertuschung haben die Rufe der Anhänger des verstorbenen Papstes nach möglichen Seligsprechungen verstummen lassen.
Obwohl sich bisher kein Erbe und damit kein Adressat finden ließ, hat das Landgericht Traunstein im November den Streitwert im abgetrennten Rechtsstreit von Kläger Perr gegen den verstorbenen Papst auf 10.000 Euro festgesetzt. Das zeigen Unterlagen, die CORRECTIV, dem Bayerischen Rundfunk und der Zeit vorliegen. Die Festsetzung des konkreten Streitwerts bedeutet auch: Dieses Verfahren ruht nur bis ein Erbe gefunden ist.
Perr verklagt den ehemaligen Priester Peter H., das Erzbistum München und Freising und die Erben des verstorbenen Papstes auf Schmerzensgeld für den Schaden, der ihm als 12-Jährigem durch den Missbrauch des Täters Priesters Peter H. entstanden ist. Vom Erzbistum fordert Perr 300.000, von den Erben des Papstes 50.000 Euro Schmerzensgeld.
Prozess in Traunstein: Einmalig in der Kirchengeschichte
Die Tatsache, dass es überhaupt zu dieser Klage gekommen ist und sie weiterhin vom Landgericht verfolgt wird, ist eine Sensation. Noch nie zuvor in der fast 2000-jährigen Kirchengeschichte musste sich ein Papst vor einem weltlichen Gericht verantworten. Zudem steht eine weitere Entscheidung an: Das Oberlandesgericht München muss auf Antrag des Klägeranwalts Andreas Schulz darüber entscheiden, ob der Vatikan als Rechtsstaat anzusehen ist. Mehr dazu am Ende des Artikels.
Die Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum München und Freising und den verstorbenen Papst ging einem langjährigen Versagen der katholischen Kirche bei der Aufklärung und Entschädigung von Missbrauchsopfern voraus. Seit 2010 erreichte die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche auch Deutschland. Immer wieder erschütterten neue Missbrauchsvorfälle die Öffentlichkeit und schnell stand Papst Benedikt XIV. im Verdacht, Missbrauchstäter geschützt zu haben.
Die katholische Kirche versprach Aufklärung, musste aber immer wieder neue Verfehlungen und Vertuschungen eingestehen. Die von den Bistümern organisierten Geldzahlungen blieben bis heute unzureichend. Doch erst spät entschieden sich Opfer für den Weg vor die Zivilgerichte.
Die Geschichte der Klage von Perr ist kompliziert und verworren. Das Verfahren zeigt jedoch, dass die jahrzehntelange Vernebelungstaktik der deutschen Bischöfe Joseph Ratzinger nicht schützen konnte.
Bis zu seinem Tod hatte Benedikt XVI. bestritten, dass er als Erzbischof von München und Freising im Jahr 1980 von den Missbrauchstaten des Priesters Peter H. im Bistum Essen wusste, bevor er diesen ins bayerische Bistum übernahm.
Bis zum Tod des Papstes haben das Erzbistum München und Freising diese Tatsachen verschwiegen und auch nicht erwähnt, dass Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation im Vatikan direkt mit dem Fall des Priesters befasst war.
Der Priester H. missbrauchte auch nach der Versetzung in das Erzbistum München und Freising in einer bayerischen Gemeinde mehrere Jungen. Staatsanwaltschaft und Polizei ermittelten und das Amtsgericht Ebersberg verurteilte ihn wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs auf Bewährung und Geldstrafe. Das Erzbistum wollte H. unbedingt wieder in der Gemeindearbeit einsetzen.
Da H. vor allem Jungen missbrauchte, wenn er alkoholisiert war, sollte nur sichergestellt werden, dass der Priester abstinent ist. Da der Priester jedoch bei der katholischen Messe Wein trinkt, bat das Erzbistum München und Freising den Vatikan um die Erlaubnis, dass H. die Messfeiern mit Traubensaft durchführen könnte. In dem Antrag wurden die Sexualstraftaten erwähnt und ein Attest eines Psychiaters beigefügt, der bei H. eine „Pädophilie“ diagnostizierte und davor warnte, dass der Priester weiterhin mit Kindern in Kontakt kommen könnte.
Die doppelte Verantwortung des Papstes für den Missbrauch
Kardinal Joseph Ratzinger, der damals als Primat der Glaubenskongregation fungierte, antwortete im Oktober 1986 auf diesen Antrag. In seiner Antwort ging er nicht auf die Sexualstraftaten ein, erlaubte jedoch Peter H. aufgrund seiner absoluten Alkoholunverträglichkeit, die Messe mit Traubensaft zu zelebrieren, und bat darum, die Gemeinde darüber nicht zu informieren. Wenige Monate später wurde H. in der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz eingesetzt, wo er laut Recherchen von CORRECTIV Stefan, Manuel und auch den heutigen Kläger Andreas Perr missbrauchte.
CORRECTIV hatte im Februar letzten Jahres den Briefwechsel offenbart, den das Erzbistum München und Freising und auch die Untersuchung der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl nicht erwähnten, obwohl er immer Teil der Personalakte des Priesters war.
Damit trug der deutsche Papst eine doppelte Verantwortung für den Missbrauch an dem Kläger Perr, einmal als Erzbischof und dann auch als Primat der Glaubenskongregation, wie das Verfahren vor dem Landgericht Traunstein zeigt.
Das Erzbistum München und Freising haftet über die Amtshaftung für die Taten seiner Mitarbeiter. Das ist in diesem Fall die Missbrauchstat des ehemaligen Priesters und die Amtspflichtverletzung von Kardinal Joseph Ratzinger als Erzbischof.
Da das Erzbistum München und Freising Anfang des Jahres auf die Einrede der Verjährung verzichtet hat, fand im Juni der erste Verhandlungstag vor dem Landgericht statt. Weder die Anwälte des Erzbistums München und Freising noch der Anwalt des ehemaligen Priesters H. bestritten den Missbrauch.
Dies führte dazu, dass die Richterin sowohl dem Erzbistum als auch dem verstorbenen Papst in seiner Funktion als Erzbischof eine Amtspflichtverletzung bescheinigte. Ein einmaliger Vorgang, wie oben bereits erwähnt.
Erzbistum München und Freising zwingt Missbrauchsopfer ins Prozessrisiko
Allerdings erklärte das Erzbistum, dass es über den Schaden, der dem Kläger durch den Missbrauch entstanden ist, keine Kenntnis habe. Diese Verteidigungsstrategie überrascht, denn das Erzbistum hat zu dem Missbrauchstäter H. Gutachten verfasst und sogar ein eigenes Gerichtsverfahren geführt, und hat sich auch mit dem Kläger Andreas Perr befasst.
Gleichwohl wird im Januar ein vom Gericht bestellter Psychologe den Kläger erneut untersuchen. Der Missbrauch des Priesters hat den damals 12-jährigen Schüler aus der Bahn geworfen. Seine schulischen Leistungen wurden schlechter, er rebellierte gegen Lehrer und Eltern, lief von zu Hause weg und entwickelte eine Drogen- und Suchtabhängigkeit. So steht es in der Klageschrift von Perr.
Die Erklärung des Nichtwissens über den Schaden ist im Zivilprozess ein übliches Verteidigungsinstrument. Das bedeutet: Der Kläger muss den Schaden beweisen. Das Erzbistum zwingt dadurch Andreas Perr in ein hohes Prozessrisiko. Dieses will die Initiative Sauerteig auffangen. Als Folge der Recherchen von CORRECTIV gründete sich in der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz die Initiative. Dort hatte Pfarrer H. 20 Jahre nach seiner Verurteilung als Pfarrer gedient und unter den Augen der Bischöfe Jungen wie den Kläger missbraucht. Die Initiative organisiert für Perr ein Crowdfunding und sammelt Geld für die Gerichtskosten. „Wir wollen Andreas Perr zeigen, dass wir ihn in diesem wichtigen Rechtsstreit nicht alleine lassen“, sagt die Mitgründerin der Initiative Rosi Mittermeier.
Im Gegensatz zum Erzbistum München und Freising hat Kardinal Rainer Maria Woelki vom Erzbistum Köln in dem Schmerzensgeldverfahren vor dem Landgericht Köln auf diese für den Kläger schmerzhafte Beweisaufnahme verzichtet und den durch den Missbrauch entstandenen Schaden anerkannt. Der Kläger Klaus Menne erhielt daraufhin ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zugesprochen, obwohl sein Anwalt 750.000 gefordert hatte.
Oberlandesgericht muss pürfen: Vatikan Rechtsstaat oder nicht
Die Klagen in Köln und vor dem Landgericht Traunstein waren im Jahr 2022 die ersten Schmerzensgeldklagen von Opfern klerikalen Missbrauchs vor einem Zivilgericht, obwohl die Debatte über den Missbrauch und die Verantwortung der Bischöfe bis hin zum Papst die öffentliche Debatte in Deutschland seit 2010 beschäftigt. Doch nun hatte sich etwas geändert. In beiden Fällen beriefen sich die Bistümer nicht auf die Verjährung. Die öffentliche Reaktion wäre sonst zu verheerend gewesen. Und die Gerichte erkannten die Amtshaftung der Bistümer für die Taten der Bischöfe und Priester an.
Vor dem Landgericht Traunstein geht die Verantwortung Ratzinger jedoch über dessen Rolle als Erzbischof hinaus.
Der ehemalige Papst trug auch als Primat der Glaubenskongregation ebenfalls Verantwortung für den Wiedereinsatz des Priesters H. und den Missbrauch an dem Kläger.
Das Landgericht Traunstein hat daher das Verfahren gegen den verstorbenen Papst in seiner Verantwortung als Primat der Glaubenskongregation für den Missbrauch an dem Kläger abgetrennt. Nach dem Tod des Beklagten gehen die Ansprüche des Klägers auf die Erben über. Doch bisher haben sich keine Erben gefunden. Eine Cousine des Papstes hat das Erbe bereits ausgeschlagen. Andreas Schulz, der Anwalt des Klägers, will nun das Amtsgericht München dazu bringen, die Erben zu suchen und bis dahin einen Nachlasspfleger zu bestellen, damit das Verfahren fortgesetzt werden kann.
Das Amtsgericht München hat den Antrag abgelehnt, da Kardinal Joseph Ratzinger zum Zeitpunkt seines Todes keine deutsche Staatsbürgerschaft hatte und daher der Vatikan dafür zuständig sei. Dagegen hat Rechtsanwalt Schulz Widerspruch beim Oberlandesgericht München eingelegt, wie aus Unterlagen hervorgeht, die CORRECTIV, dem BR und der Zeit vorliegen. Der Anwalt argumentiert, dass der Vatikan eine absolute Monarchie und kein Rechtsstaat sei, in dem es keine Gewaltenteilung gebe. Daher sei es dem Kläger nicht zumutbar, sich an den Vatikan zu wenden.
Als Beispiel „wie der Maschinenraum des Vatikans“ arbeitet führt Schulz in das Schreiben an das Oberlandesgericht München den Fall an, in dem der Vatikan sich für die Haftverschonung eines NS-Kriegsverbrechers eingesetzt habe, da dieser im Gegenzug Aussagen gemacht habe, die den damaligen Papst Pius XII. während der Naziherrschaft entlasteten. Diese Entlastung sei für das Seligsprechungsverfahren hilfreich gewesen. „Alleine dieser Fall zeigt, über welche Strukturen und Netzwerke der Vatikan verfügt, um Einfluss auf eine Zivilgesellschaft bzw. sogar ein italienisches Militärgericht zu nehmen, sofern es der eigenen Interessenlage jenseits rechtsstaatlicher Gewaltenteilung dienlich ist“, schreibt Schulz an das Oberlandesgericht München. Mit einer Entscheidung des Oberlandesgerichts sei wohl nicht mehr im Dezember zu rechnen, schreibt ein Sprecher CORRECTIV. Dann wird sich zeigen, ob das Amtsgericht München doch noch einen Nachlasspfleger für den verstorbenen Papst Benedikt XVI. bestellen muss, um das Verfahren vor dem Landgericht Traunstein fortzusetzen.