Der Missbrauchs-Prozess, Ratzingers Brief und die Erinnerungslücken der Kirche
Showdown im Missbrauchsverfahren vor dem Landgericht Traunstein: Die Anwälte des Erzbistums München und Freising stellen die Aussage des Klägers Andreas Perr in Frage. Ein Versteckspiel um ein geheimes Dokument von Kardinal Ratzinger stellt die Glaubwürdigkeit des Erzbistums in Zweifel, sowohl in dem Verfahren in Traunstein, als auch in einem weiteren Missbrauchsfall.
In dem holzgetäfelten Gerichtssaal des Landgerichts Traunstein erinnert sich Andreas Perr an ein Gespräch von vor 14 Jahren zurück. Ein Gespräch, das sein Trauma vermutlich noch verstärkte.
Perr verklagt das Erzbistum München und Freising auf 300.000 Euro Schmerzensgeld, da der Missbrauch durch den Priester Peter H. ihn aus der Lebensbahn geworfen habe und für seine Drogensucht verantwortlich sei. Seine Stimme ist klar, er wirkt überzeugend. Dies sehen auch andere Prozessteilnehmer so. Eine Gutachterin bestätigt seine Glaubwürdigkeit, sie hat Perr vor vielen Jahren untersucht. Im Gerichtssaal in Oberbayern spricht der Kläger auch über den 23. März 2010.
Damals sitzt Andreas Perr, von den Drogen gezeichnet, dem Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Münchens und Freising, Siegfried Kneißl, gegenüber. Das Gespräch findet im Pfarramt von Garching an der Alz statt. Perr berichtet dem Kirchenmann, wie der Priester H. ihn in dem Pfarrhaus missbrauchte, als er elf oder zwölf Jahre alt war, Mitte der 1990er Jahre. Und Perr hat einen Zeugen. An jenem Sommertag im Pfarrhaus zeigte der Pfarrer zwei Jungen gleichzeitig einen Pornofilm und nötigte sie zur Masturbation. Die Tat selbst wird im Verfahren nicht bestritten.
In diesem Prozess geht es um Schadensersatz. Aber dahinter steht auch ein Streit um Glaubwürdigkeit; die des Betroffenen Andreas Perr und die der Kirche selbst. Die Kirche ist jedoch bereits seit 2010 im Zwiespalt: einerseits Aufklärung zu versprechen, aber andererseits den Papst zu schützen.
Im Zentrum dieser Recherche steht ein Briefwechsel, der die Verantwortung des deutschen Papstes zeigt. Da sind Kirchenmänner, die sich nicht erinnern können, ob und wenn ja, wann sie Kenntnis davon hatten. Und ein Kläger, der damals wie heute beweisen muss, dass der damals erlittene Missbrauch im Pfarrhaus in Garching ihn bis heute schädigt.
Perr: Der Kirchenvertreter habe ihm die Schuld für den Missbrauch nahegelegt
Die Erinnerungen von Perr an das Gespräch lassen den damaligen Missbrauchsgutachter nicht gut aussehen. Kneißl habe ihm damals die Schuld für den Missbrauch nahegelegt, sagt Perr vor Gericht. So steht es im Gerichtsprotokoll, das CORRECTIV, der BR und die ZEIT einsehen konnten: „Als ich ihm meinem Fall schilderte, meinte er, ich wäre selber schuld gewesen. Wenn ich schon Pornofilme beim Pfarrer schaue, hätte ich mit sowas rechnen müssen.“
Die Anwälte des Erzbistums widersprechen dieser Darstellung in einem Schreiben ans Gericht. Auch die Pressestelle des Bistums verteidigt den ehemaligen Missbrauchsbeauftragten: „Dr. Kneißl versichert, in keinem seiner Gespräche Betroffene für das verantwortlich gemacht zu haben, was sie erfahren mussten. Vielmehr sei seine Handlungsmaxime nach eigenen Angaben stets gewesen, den Betroffenen zuzuhören und ihren Schilderungen Glauben zu schenken“, schreibt sie CORRECTIV.
Perrs Rechtsanwalt Andreas Schulz sieht das anders. Er ist sich sicher, dass Kneißl Druck auf seinen Mandanten ausübte, um den Fall zu vertuschen:
„Herr Kneißl hat damals natürlich aktiv dazu beigetragen durch Einschüchterungen von Kläger Perr, dass dieser Fall aus dem Spektrum der Öffentlichkeit verschwand. Jetzt über seine Anwälte vortragen zu lassen, das hätte er nicht gemacht, ist eine der üblichen Verschleierungs- und Vertuschungsstrategien, die die katholische Kirche generell macht”, erklärt Schulz gegenüber CORRECTIV.
Kannte der Missbrauchsbeauftragte bereits 2010 Ratzingers Brief?
Wie wahrscheinlich ist es, dass der Missbrauchsbeauftragte Kneißl und andere Verantwortliche des Erzbistums 2010, als die Taten von H. bekannt werden und sich Perr bei ihnen meldet, Kenntnis von dem bereits erwähnten Dokument hatten, das CORRECTIV und der BR Jahre später als „Traubensaftbrief“ enthüllten? Er ist von Joseph Kardinal Ratzinger, dem späteren deutschen Papst Benedikt, unterzeichnet.
Dieser Brief hat eine Vorgeschichte:
1986 wird der Priester H. von einem Amtsgericht wegen mehrfachen Missbrauchs an Kindern verurteilt. Daraufhin wendet sich das Erzbistum München und Freising mit einem Bittgesuch an Rom. Die Glaubenskongregation antwortet. Sie entscheidet über Glaubensfragen – in neu erscheinenden theologischen Schriften und Anwendungen von Kirchenregeln im Alltag.
Im Bittgesuch werden die Sexualstraftaten H.s benannt. Zudem liegt ein ärztliches Attest bei, das H. „absolute Alkoholunverträglichkeit” bescheinigt, denn der Priester hat den Missbrauch häufig unter Alkoholeinfluss begangen. Am 3. Oktober 1986 kommt die Antwort aus Rom. In dem Schreiben wird dem Priester H. gestattet, die Messfeiern mit „unvergorenem Traubensaft“ statt mit Wein abzuhalten. Das Dokument ist handschriftlich unterzeichnet vom Präfekten der Glaubenskongregation: Joseph Kardinal Ratzinger.
Es gibt demnach keinen Zweifel an H.s Einsatz als Priester. Das Erzbistum setzt den verurteilten Täter erneut in Gemeinden ein – wo er wieder Jungen missbraucht, darunter auch den Kläger. Andreas Perr verklagt daher auch den verstorbenen Papst Benedikt auf Schmerzensgeld. Weil allerdings nach dessen Tod bislang keine Erben gefunden wurden, die im Prozess die Rechtsnachfolge antreten, ist dieses Verfahren vorerst ausgesetzt.
Das Erzbistum erkennt den Missbrauch seines damaligen Priesters Peter H. an, bestreitet aber den von Perr angegebenen Schaden mit „Nichtwissen“. Laut des Rechtsanwaltes von Perr, Andreas Schulz, ist dies eine Verteidigungsstrategie der Kirche in einem Zivilprozess, die den Kläger Perr zwingt, zu beweisen, dass der damalige Missbrauch durch den Priester die Hauptursache für seine jahrzehntelange Drogensucht sei. „Damit zieht sie den Kläger in einen langen prozessualen Weg, um ihn zu zermürben und hoffnungslos zu machen — mit allen Sekundärtraumatisierungen und negativen Belastungen, die ein solcher Weg für den Kläger mit sich bringt“, befindet Schulz.
Die Tatsache, dass das Erzbistum angibt, nicht zu wissen, welche verheerenden Folgen der klerikale Missbrauch an Jungen für ihr ganzes Leben hat, wirft Fragen auf. Denn angeblich bemüht sich die Kirche seit über einem Jahrzehnt um die Aufklärung dieses massenhaften Verbrechens an Kindern durch ihre Priester – ihre Schränke sind gefüllt mit Hunderten von Berichten, was die Opfer der Priester erleiden mussten und welche Folgen sie davon trugen.
Dort befindet sich derweil auch die Traubensaft-Erlaubnis von Ratzinger, sie wird mit dem vorangegangenen Bittgesuch in die Akte des Priesters gelegt. Das Erzbistum bestätigt uns schriftlich, dass dieser Briefwechsel „offenkundig immer Bestandteil der Personalakte” war – und dürfte damit für jeden, der sie anfordert, einsehbar gewesen sein. Jahrelang scheint das nicht erforderlich, es wird ruhig um den Priester.
2010 war der Wendepunkt: Priester H. und der damalige Papst
Im März 2010 lässt die New York Times eine Bombe platzen, die das Pontifikat Ratzingers bis heute belastet. Sie macht den Fall Peter H. erstmals öffentlich und wirft die Frage auf, welche Rolle der deutsche Papst im Umgang mit einem Täter im Priesteramt spielte. Denn H. beging nicht erst in den 1980er Jahren Straftaten – schon zuvor und auch danach wurde er immer wieder wegen Vorfällen von Gemeinde zu Gemeinde versetzt und missbrauchte immer wieder Jungen. Bislang sind 23 Opfer dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.
2010 standen der Missbrauchsbeauftragte Kneißl, das Erzbistum München und Freising, die Kirche in Deutschland, ja die gesamte katholische Kirche unter enormem Druck. Bis dahin hatten die deutschen Bischöfe gehofft, das Problem des klerikalen Missbrauchs beträfe Deutschland nicht. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Den Anfang machten die Berichte über den Missbrauch in dem von Jesuiten geleiteten Canisius Kolleg in Berlin. Danach brach der Damm. Es folgte Fall um Fall.
Die Verantwortung des klerikalen Missbrauchs war bis zum deutschen Papst vorgedrungen. Denn der deutsche Papst war vor seinem Amt als Präfekt der Glaubenskongregation von 1977 bis 1982 der Erzbischof von München und Freising. Die New York Times konnte zeigen, dass Ratzinger als Erzbischof eine Ordinariatssitzung Anfang 1980 in München leitete, in der beschlossen wurde, den Priester H. nach einem Missbrauchsvorfall von Essen nach München zu versetzen.
Offiziell hieß es, dass er dort eine Therapie machen sollte. Die begann der Priester damals zwar tatsächlich, wurde jedoch auch schnell erneut in der Seelsorge eingesetzt. Schon hier hätte man den Täter aus dem Dienst nehmen und den Behörden melden können. Stattdessen ließ man ihn weitermachen – zunächst 1980, schließlich 1986, nach seiner Verurteilung. Beide Male war Ratzinger involviert.
Als damals die New York Times den Fall H. enthüllt, ist von der Traubensaft-Erlaubnis noch keine Rede. Damals gab das Erzbistum in einer ersten Stellungnahme an, es habe zwar eine Verurteilung des Priesters 1986 gegeben, seitdem seien dem Ordinariat aber keine weiteren Fälle bekannt. Wenige Tage später meldete sich Andreas Perr und berichtete von seinem Missbrauch in den 1990er Jahren in Garching an der Alz. Dorthin schickte das Erzbistum den Priester nach dessen Verurteilung. Hier war er über 20 Jahre lang als Pfarrer im Einsatz. Aber mit dieser Versetzung H.s nach Garching hatte der deutsche Papst nach damaligem Kenntnisstand der Öffentlichkeit nichts mehr zu tun; er war Jahre vorher nach Rom gezogen und kümmerte sich dort um Glaubensfragen, bis zu seinem Pontifikat. Das Erzbistum war derweil bemüht, Schadensbegrenzung zu betreiben.
CORRECTIV hat bereits umfassend zu Strategien der katholischen Kirche zum Schutz ihres Oberhauptes berichtet. Ein Zeugnis dieser Strategie ist ebenfalls in besagter ersten Stellungnahme des Erzbistums zu erkennen. Dort heißt es, der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger habe lediglich H.s Therapie in München zugestimmt, für den Wiedereinsatz sei aber Generalvikar Gruber, der engste Mitarbeiter des Erzbischofs, zuständig gewesen. Er habe eigenmächtig entschieden, H. erneut in die Gemeindearbeit einzusetzen. Gruber gab Jahre später gegenüber den Gutachtern der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl an, dass diese Verantwortungsübernahme rein strategisch war: „Die veröffentlichte Zuschreibung der alleinigen Schuld für die Einsetzung […] erfolgte letztlich im Ordinariat (Generalvikar/Pressestelle) mit dem Hinweis, daß ich zum Schutz des Papstes jetzt die alleinige Verantwortung zu übernehmen habe.“ Und das gegen seinen Willen: „Ich habe mich gegen ‘den Missbrauch’ meiner Person als Alleinverantwortlicher im Ordinariat immer gewehrt.” Er sei „zur Abgabe der Erklärung gedrängt” worden. Die Strategie ging vorerst auf. Bis CORRECTIV und der BR im vergangenen Jahr auf den von Ratzinger unterschriebenen Traubensaft-Brief stießen.
Der Traubensaft-Brief entzieht der Verteidigungsstrategie der Kirche den Boden
Dieser Brief entzog der Verteidigungsstrategie den Boden. Denn er zeigte: Der spätere Papst war nicht nur von den Sexualstraftaten eines Priesters in seinem ehemaligen Bistum informiert; er war auch für den Wiedereinsatz des wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftäters mitverantwortlich – in die Gemeinde, in der Perr später missbraucht wurde. Und das, obwohl Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation die Möglichkeit gehabt hätte, eine Voruntersuchung gegen den Priester einzuleiten und ihn aus dem Dienst entfernen zu lassen.
CORRECTIV hat bei Ratzingers ehemaligen Privatsekretär Georg Gänswein nachgefragt. Er sagt, er könne sich dazu nicht äußern. Doch der Brief wirft weitere Fragen auf: Wenn sich das Dokument ab 1986 tatsächlich immer in der Personalakte befunden hat, wer wusste davon, als der Fall H. öffentlich wurde?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Verantwortliche des Erzbistums München und Freising 2010 nach der Berichterstattung der New York Times nicht die Personalakte von H. öffneten, ist wohl gering. Wer also wusste vom Traubensaft-Dokument? Hatte der Missbrauchsbeauftragte Kneißl Kenntnis davon? Hatte er die Akte aufgeschlagen oder hatte ihm jemand davon berichtet, bevor er 2010 das Gespräch mit Andreas Perr führte?
Nachdem der Fall H. bekannt wurde, eröffnete die Kirche ein internes Verfahren gegen ihren Priester. Dafür wurden zahlreiche Dokumente zusammengetragen, um Beweise für ein Urteil zu finden.
In jenem Urteil, einem eigentlich geheimen Kirchendokument, gibt es auch einen Hinweis auf das Gespräch zwischen Perr und Kneißl: „Laut Protokoll des Missbrauchsbeauftragten Dr. Kneißl sprach Andreas Perr plötzlich von seinem Aussageverweigerungsrecht, als ihm die Ernsthaftigkeit und die Ausmaße seiner Aussagen bewusst wurden.” Vor Gericht erklärte Perr, er habe sich als Täter gefühlt nachdem Kneißl ihm die Mitschuld am Missbrauch nahelegte und deshalb nichts mehr dazu gesagt. Wusste Kneißl um den Traubensaftbrief und versuchte Perr zu verunsichern, um den Papst zu schützen?
© CORRECTIV 2024/ Interview mit Klägeranwalt Andreas Schulz über den Zivilprozess
Das Erzbistum erklärt schriftlich, der Missbrauchsbeauftragte Kneißl habe keinen Zugang zur Personalakte von Priester H. gehabt und somit auch keinen Zugang zum Traubensaft-Dokument.
Doch wussten andere Kirchenmänner davon? Zum Beispiel die internen Richter, die in dem Verfahren über den Priester entschieden? Das Urteil trägt unter anderem die Unterschrift von Lorenz Wolf. Er ist Kirchenrichter und ehemaliger Vertreter des Erzbistums. Er erklärt CORRECTIV, in den Unterlagen für das Verfahren habe sich zwar die Personalakte des Priesters befunden – allerdings sei sie offenbar nicht vollständig gewesen und so habe sich auch die Traubensaft-Erlaubnis nicht darin befunden.
CORRECTIV hat auch den ehemaligen Priester H. gefragt, ob er damals wusste, dass ausgerechnet Joseph Kardinal Ratzinger 1986 nach seiner Verurteilung H.s. die Traubensaft-Erlaubnis unterschrieben habe, ließ dieser unbeantwortet. Er lässt über seinen Anwalt ausrichten, er könne nicht erkennen, weshalb er dazu Stellung nehmen sollte.
Ob Wolf zum Zeitpunkt des Urteils von Ratzingers Erlaubnis wusste, ist fraglich. Unsere Recherchen zeigen jedoch: Er hätte bereits Jahre vorher die Gelegenheit gehabt, Kenntnis von Ratzingers Brief zu erlangen.
Hier kommt die Geschichte von Wilfried Fesselmann ins Spiel. Über dessen Fall haben bereits mehrere internationale und deutsche Medien umfassend berichtet, zuletzt auch die ZEIT. Fesselmann gibt an, einer der Jungen zu sein, die von H. vor seiner Zeit in München missbraucht wurden: Im Sommer 1979 im Pfarrhaus der Gemeinde St. Andreas in Essen. Damals war Fesselmann 11 Jahre alt. Er sagt, der Priester habe ihn gezwungen, ihn oral zu befriedigen. H. lässt über seinen Anwalt ausrichten, er bestreite diesen Vorwurf ausdrücklich. Im Urteil von Wolf lässt sich nachlesen, dass er im Fall Fesselmann „grenzwertiges Verhalten“ zugebe, lediglich der Oralverkehr habe nicht stattgefunden.
Nach dem Missbrauch, so schildert es Fesselmann CORRECTIV, war er ein anderes Kind: „Es war nichts mehr so, wie es vorher war. Ich hatte Ängste, hab den Leuten gar nicht mehr vertraut.“
Ein Opfer wehrt sich: Die E-Mails an das Erzbistum München und Freising
Der Missbrauch wirft ihn aus der Bahn, er rutscht noch in der Schulzeit in Alkoholsucht und entwickelt schwere psychische Probleme: Angststörungen, Panikattacken. Sie führen dazu, dass Fesselmann viele Jahre nicht mehr arbeiten kann. Den Missbrauch selbst hat er zu dieser Zeit verdrängt. Erst bei einer Therapie 2006 erinnert er sich an den Vorfall. Auf Rat seines Therapeuten beschäftigt er sich damals mit dem Täter und findet Fotos von H., auf denen er in einer bayerischen Gemeinde umringt von Kindern zu sehen ist. „Das Bild hat mich direkt erschlagen: Er stand zwischen 80 bis 100 Ministranten. Da wusste ich sofort: Das war alles gelogen, was die Kirche gesagt hat – dass er versetzt worden ist und nie mehr was mit Kindern zu tun gehabt hat.“ Ihm sei klar gewesen: „Bei so vielen Kindern — der hat nie aufgehört.“
Daraufhin schreibt Fesselmann 2006 und 2008 anonym mehrere E-Mails an das Erzbistum München und Freising, berichtet über den erlittenen Missbrauch durch den Priester und fordert eine Entschädigung. Sowohl der Missbrauchsbeauftragte Kneißl als auch der Kirchenrichter Wolf beschäftigten sich mit dem Fall. Das bestätigt Wolf gegenüber CORRECTIV.
© CORRECTIV 2024/ Interview mit Wilfried Fesselmann
Die Reaktion des Bistums auf die E-Mails schildert Fesselmann so: „Die Antwort kam dann am 24. April. Da standen sieben Beamte und Vertreter bei mir vor der Tür.“ Darunter seien Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, Kirchenvertreter und die örtliche Polizei gewesen. „Die Nachbarn haben sich gedacht: Die nehmen den jetzt mit für immer, ich bin Terrorist oder so.“ Wolf hat Fesselmann wegen versuchter Erpressung bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Die Ermittlungen werden nach wenigen Wochen eingestellt.
Kurz darauf versetzt das Bistum den Priester aus Garching an der Alz nach Bad Tölz. Dafür muss er sich einem erneuten Gutachten unterziehen und versprechen, sich nicht mehr mit Jungen zu umgeben. Weder die Gemeinde in Garching an der Alz noch die neue Gemeinde von Bad Tölz wurde über den pädokriminellen Priester informiert. Könnten diese Maßnahmen auch mit dem Traubensaft-Dokument zusammenhängen?
Was wusste das Erzbistum schon vor der Veröffentlichung 2010 über die Verantwortung des deutschen Papstes?
Die Vermutung liegt nahe, dass die Verantwortlichen nach Eintreffen von Fesselmanns Vorwürfen in die Personalakte des Täters schauten. Kirchenrichter Wolf bestätigt uns: 2008 wurde er von Kneißl um Amtshilfe gebeten, er habe dann „den Personalakt durchgesehen“. Allerdings sei ihm „nicht in Erinnerung“, das von Ratzinger unterschriebene Traubensaft-Dokument „jemals gesehen zu haben“. Am Telefon bekräftigt er, dass sich der Brief in der Akte befunden haben müsse. Entweder, er habe ihn schlicht überblättert. Oder er habe ihn gesehen und wieder vergessen. Denn für seine damalige Recherche hätte eine Erlaubnis für die Nutzung von Traubensaft keine Relevanz gehabt. 2008 war Ratzinger bereits Papst. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Dokument des Papstes, noch dazu persönlich unterschrieben, in einer Missbrauchsakte keine Relevanz hatte.
Sollte Wolf also 2008 den Brief in der Akte gesehen haben, bedeutet es, dass ein Kirchenverantwortlicher bereits mindestens zwei Jahre vor der Enthüllung der New York Times über die Verantwortung des Papstes für die Versetzung eines wegen Kindesmissbrauch verurteilten Priesters Bescheid gewusst haben könnte. Aber angibt, sich nicht daran zu erinnern.
Daher kommt die Frage auf, wer spätestens 2010 noch von diesem Brief wusste und die Entscheidung traf, trotz aller Aufklärungsversprechen, diesen Briefwechsel nicht an die Öffentlichkeit zu lassen. Wolf sagt, er könne nicht einschätzen, ob Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München, zu dem Zeitpunkt die Personalakte gesehen hatte. Aber er gibt zu, dass dieser die Möglichkeit gehabt hätte, sie anzufordern. Das Erzbistum teilte mit: „Wer im Einzelnen wann welche konkreten Informationen oder auch Unterlagen aus der Akte von H. rund um das Jahr 2010 tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.“
Auch Wilfried Fesselmann will die Kirche verklagen
Durch diese Unstimmigkeiten bekommt die Glaubwürdigkeit der Kirche Risse. Sie wird vor Gericht auf den Prüfstand gestellt. Nicht nur in Traunstein – auch Wilfried Fesselmann will die Kirche anklagen. Er bereitet mit Rechtsanwalt Schulz eine Klage gegen das Bistum Essen vor. Schulz möchte zudem vor Gericht die Rolle von Gänswein, dem Privatsekretär Ratzingers, prüfen lassen. Fesselmann und Perr, sie fielen demselben Täter zum Opfer, in einem Abstand von 20 Jahren.
Für Anwalt Schulz, der beide Betroffenen vertritt, ist klar, dass die Unstimmigkeiten der vergangenen Jahre auf Vertuschungsmaßnahmen zum Schutz des Papstes deuten: „Natürlich war den Beteiligten bewusst, dass die Auswirkungen für Ratzinger äußerst ungünstig sein würden. Deswegen hat man bestimmte Strategien angewandt, um die Geschehnisse aus der Welt zu bringen. Bei Perr war es die Einschüchterung und bei Fesselmann war es, ihn wegen versuchter Erpressung bei der Polizei anzuzeigen.“
Wäre die Verantwortung des deutschen Papstes für den Missbrauch an Perr im Jahr 2010 öffentlich geworden, dann wäre das für das Pontifikat Benedikts in der damaligen hitzigen Debatte wohl verheerend gewesen. Das könnte ein Motiv der damaligen Verantwortlichen des Erzbistums gewesen sein, den Fall Perr klein halten zu wollen. Das würde auch die Erinnerung von Perr vor Gericht in Traunstein erklären. Und der Widerspruch der Anwälte des Erzbistums gegen Perrs Erinnerung zeigt, dass die Kirche bis heute in der Glaubwürdigkeitsfalle sitzt. Für das Erzbistum München und Freising, so wirkt es, hat damals wie heute der Schutz des Andenkens des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. Vorrang – und nicht das Leid, das der klerikale Missbrauch anrichtete.