Kind im Brunnen: Die Akte Jasmin
Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Die Akte Jasmin (V)
„Jasmin Schneider, Band I“ steht auf der Akte. Kein außergewöhnlicher Fall, Realität am Rand der Gesellschaft. Ein Sozialarbeiter des „Allgemeinen Sozialen Dienstes“ bearbeitet bis zu einhundert Akten wie die von Jasmin* (alle Namen geändert). Heftet die Gesprächsprotokolle ab, Beschlüsse, Abrechnungen. Jasmin ist anfangs elf Jahre alt, sie hat einen älteren Bruder, Daniel. Es gibt Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Doch die Schneiders sind keine Musterfamilie, sie sind dicht umzingelt von Schulden, Armut, Arbeitslosigkeit, von Krankheiten, Sucht, Verwahrlosung und Missbrauch. Und vom Jugendamt.
Einige Monate vor Jasmins Geburt fiel die Familie dem Amt das erste Mal auf, Anlass war eine Räumungsklage. Die Akte Jasmin beschreibt nach Aktenlage auch die Vorgeschichte der Familie Schneider, die ersten Gespräche mit dem Amt. Themen der ersten „Zusammenarbeit“, wie es das Jugendamt nennt, sind der Zustand der Wohnung, Depressionen der Frau, Beziehungsprobleme, Alkoholkonsum und Spielsucht des Mannes. Es bleiben sehr hartnäckige Begleiter der Familie.
Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“
Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.
Eine verabredete „Zusammenarbeit“ mit dem Gesundheitsamt scheitert. Die Eheleute waren „nicht zuverlässig“ genug. Zwei Jahre später, Jasmin ist auf der Welt, werden erneut „unzumutbare Zustände“ in der Wohnung festgestellt. Wieder werden auch die Depressionen der Mutter erwähnt. Eine Beraterin der Caritas beschreibt das Verhältnis zwischen Frau Schneider und deren Mutter als schwer belastet. Es sind Problemketten, ohne Anfang und ohne Ende.
Die Wohnung bleibt in einem miserablen Zustand. Der Vater spielt, trinkt, im Rausch wird er gewalttätig. Seine Frau überlegt, sich zu trennen. Auch Jasmin wird jetzt aktenkundig. Sie schluckt als Kleinkind die Schmerztabletten der Mutter und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Nach acht Jahren unsteter, eher zufälliger Beobachtung beschließt das Jugendamt eine erste Hilfsmaßnahme für die Familie, eine „Hilfe zur Erziehung“ (HzE). Ein Familienhelfer der Caritas kommt für einige Stunden in der Woche, bespricht das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, diskutiert Regeln und Ziele mit der Hausgemeinschaft.
Jasmin macht Sorgen
Mit Hilfe scheint es besser zu gehen. Nach einem Jahr, so das Jugendamt, ist die Familie stabiler, die Eheleute entspannter, der Vater hat das Trinken aufgehört, Daniel geht aufs Gymnasium. Nur Jasmin macht Sorgen, sie verletzt sich, zündelt. Die Familienhilfe wurde beendet. Wenige Monate später eskaliert die Lage. Daniel gibt an, er und Jasmin seien von der Mutter geschlagen worden. Aus Angst bittet er um eine „Inobhutnahme“ durchs Jugendamt. Daniel lebt daraufhin im Haushalt von Verwandten, das Sorgerecht der Eltern für ihn wird ausgesetzt. Bei Jasmin warnt die Klassenlehrerin vor „Verwahrlosungstendenzen“.
Als Mutter Schneider dem Jugendamt berichtet, Jasmins kürzlich verstorbener Großvater habe das Kind sexuell misshandelt, beginnt die eigentliche Akte „Jasmin Schneider, Band I“ mit den ungeübten Unterschriften der Eltern auf einem offiziellen Vordruck.
Jasmins Personalien stehen oben auf dem Antrag auf „Hilfe zur Erziehung“, darunter zwei Kästchen zum Ankreuzen; „ehelich“ oder „unehelich“. Die Eltern sind aufgeführt, ihr Arbeitgeber – beide Schneiders beziehen Arbeitslosenhilfe. Auf der Rückseite finden sich Informationen des Sozialen Dienstes. Sie klingen wie eine Patienteninformation vor einem besonders komplizierten Eingriff:
„Wir haben Sie über die möglichen Leistungen der Jugendhilfe informiert und Sie auf Rechte und Pflichten hingewiesen. Ihre Mitwirkung ist notwendig bei der Aufstellung und regelmäßigen Überprüfung eines gemeinsamen Planes für die Hilfe, des sog. Hilfeplanes. An der Ausarbeitung dieser Hilfeplanung wird auch das Kind bzw. der Jugendliche seinem Alter entsprechend angemessen beteiligt.
Die Informationen, die wir von Ihnen für die Hilfeleistung benötigen, werden vertraulich behandelt und unterliegen dem Datenschutz.
An den Kosten für die Hilfe müssen sich möglicherweise auch die Eltern bzw. auch das Kind, der Jugendlich und der junge Volljährige beteiligen. Ob und in welchem Umfang Unterhalts- bzw. Kostenbeiträge geleistet werden müssen, wird bei der Antragsberatung bzw. der weiteren Hilfeplanung geklärt. Hierzu benötigen wir Auskünfte über Einkommens- und Vermögensverhältnisse.
Erklärung des Personenberechtigten:
Ich bin eingehend beraten worden und beantrage Jugendhilfe.“
Die soziale Operation Jasmin startet mit einem sogenannten „Hilfeplan“, aufgestellt von Jugendamt, Therapeutin, Familienhelfer, Eltern und Jasmin. Für das Fachpersonal stehen eine Gesprächstherapie der Mutter sowie der Aufenthalt in einer Traumastation für Jasmin im Vordergrund. Familie Schneider selbst ist bescheidener, wünscht sich Hilfen im Alltag und Dinge zu unternehmen, die „Spaß“ machen. Verschiedene Welten.
Hilfen zur Erziehung, Level Zwei
In der Traumaklinik kann Jasmin dann über den Missbrauch durch ihren Opa sprechen. Sie bekommt gezeigt, wie sie mit dem Erlebten umgehen kann, lernt die Geschichte in einem „eigenen Tresor“ zu verschließen. Nach Ansicht der Therapeuten aus der Klinik benötigt das Mädchen neben Schule und Familie weitere tägliche Betreuung. Es sind Hilfen zur Erziehung, Level Zwei; ein Antrag auf Aufnahme in einer Tagesgruppe, wieder Rechtsbelehrungen und wieder zwei unsicher zitternde Unterschriften.
Jasmin wird nach Schulschluss in die Gruppe gebracht, isst dort zu Mittag, macht Hausaufgaben, spielt mit anderen Kindern, bevor es abends nach Hause geht. Außerdem besucht das Mädchen eine Traumagruppe für sexuell misshandelte Mädchen, ihr Vater geht in die begleitende Elterngruppe. Die Veranstalter der Traumagruppe beschreiben Jasmin als Kind aus einer „multi problem family“. Von anderen Mädchen in der Gruppe werde sie als „schrecklich“ empfunden, auch ihr Vater falle durch sein Aussehen „raus“, schreibt der Kinderheim-Träger. Kosten macht er für die unbeliebten Außenseiter dennoch geltend.
Pro Familie sind es 2.400 Euro. Jasmins Aufenthalt in der Tagesgruppe kostet ungefähr 2.000 Euro. Hinzu kommen Sitzungen bei einer Kindertherapeutin. Der finanzielle Aufwand für das traumatisierte Mädchen beträgt also weit mehr als 4.000 Euro im Monat. Die Familienhilfe sollte eigentlich auslaufen, wird aber fortgesetzt, um den Eltern zu helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Die Familiendynamik sei zu sehr von „guten Zeiten, schlechten Zeiten“ geprägt, meint das Jugendamt.
Jasmins Bruder Daniel trägt ebenfalls schwer an Erfahrungen von Missbrauch, als Teenager begann er Drogen zu nehmen, zu trinken. Er ist in einem Jugendheim untergebracht und wird auf eine individualpädagogische Maßnahme im Ausland vorbereitet, auch die mit erheblichem Aufwand verbunden. Aus der „multi problem family“ ist in sieben Jahren Beobachtung und zwei Jahren „Zusammenarbeit“ mit dem Jugendamt eine „multi assistance family“ geworden. Die indirekten Hilfeleistungen übersteigen die Zahlungen aus staatlichen Transferleistungen an Familie Schneider um ein Vielfaches, ausgezahlt würden sich die Hilfen zur Erziehung zu einem stattlichen Mittelstandsgehalt summieren.
Jasmins Bruder geht ins Ausland
Die Akte „Jasmin Schneider, Band I“ begleitet drei Jahre, Jahre in denen die Hilfen für das Mädchen im Teenageralter ausgeweitet werden. Bruder Daniel verbringt die Zeit im Ausland in einer individualpädagogischen Maßnahme; falls er seinen Geburtstag zu Hause verbringen möchte, fallen Flugkosten für ihn und Betreuer an. Genauso umgekehrt. Erst der Vater, dann die ganze Familie besuchen den Jugendlichen, müssen von einem ortskundigen Mitarbeiter des freien Trägers begleitet werden. An den Gesprächen zu den Hilfen für Jasmin nimmt immer mehr Fachpersonal teil, immer mehr freie Träger sind beteiligt und mehr Mitarbeiter des Jugendamtes.
Während Jasmin und ihre Eltern irgendwann gerne weniger Unterstützung hätten, bereits mit einer sozialpädagogischen Familienhilfe zufrieden wären, sieht die Expertenrunde der „Professionellen“ das ganz anders. Obwohl die Eltern sich in einem Sozialprojekt engagieren, obwohl Jasmin nicht mehr in der Tagesgruppe sein möchte. Doch das Amt glaubt nicht an die Stabilisierung in der Familie und würde das pubertierende Mädchen am liebsten schnell in einem Heim unterbringen und damit den Eltern zu entziehen. Die Tagesgruppe nach der Schule ist den Begleitpädagogen eine willkommene Vorform der Rundumbetreuung im Jugendheim. Jasmin wird bald in eine Einrichtung eingegliedert, die an ein Kinderheim angeschlossen ist. Und darin bestärkt, in Konfliktfällen in dem Heim auch zu übernachten.
Anlass zur Sorge besteht, natürlich. Jasmin wäscht sich unregelmäßig, trägt schmutzige Kleidung, kratzt sich die Haut auf. Ihre Lehrerin klagt in einem internen Papier ans Jugendamt über katastrophale Hygiene, fehlendes Frühstück, aggressives Sozialverhalten, Lügengeschichten, Unordnung. Jasmins Mutter würde Kontaktversuche abblocken, die Wohnung sei vermutlich in einem desaströsen Zustand wie Jasmins Seele schwarz. Die Dreizehnjährige habe Todeswünsche in Schulhefte notiert.
Hilfen zur Erziehung, Level Drei
Suizidgedanken, Messie-Haushalt, kein Frühstück – für das Jugendamt sind das Reizsignale. Jasmin wird ermuntert gegen ihren und den Wunsch ihrer Eltern möglichst oft in der Tagesgruppe zu bleiben, auch das Wochenende und die Ferien dort zu verbringen. Praktischerweise rechnet das Heim mit der Stadt für Jasmin bereits einen Vollzeitplatz ab, was die Sozialarbeiterin gegenüber einer Controllerin rechtfertigt. Das vorläufige Ende vom Lied sind für Jasmin dann Hilfen zur Erziehung, Level Drei: die Heimunterbringung.
Es wird kein harmonisches Gespräch gewesen sein zwischen den Mitarbeitern des Jugendamtes, Vertretern der Tagesgruppe, der Klassenlehrerin von der Förderschule und Jasmins Eltern. Jasmin ist mittlerweile 14, doch über ihre Zukunft wird ohne ihr Beisein entschieden. Sie fehlte wegen einer Erkrankung, entschieden wird trotzdem. Das sogenannte „Hilfeplangespräch“ findet ohne den Bedürftigen statt. Und das Ergebnis steht vorher fest: Eine Woche früher hatte das Jugendamt beim Amtsgericht beantragt, Jasmins Eltern das Sorgerecht weitgehend zu entziehen, ein Gutachter solle die Erziehungsfähigkeit der Eltern überprüfen.
Vater Schneider hatte zuvor seine Frau verprügelt. Jasmin hat das nicht direkt mitbekommen. Sie sei besser in der Schule geworden, weniger auffällig, berichtet die Lehrerin. Aber sie habe damit begonnen, Mitschüler anzutatschen, verhalte sich „stark sexualisiert“. Auch zuhause, sagt Jasmins Mutter. Als die Klassenlehrerin die Runde verlassen hat, erfahren die Eltern das weitere Vorgehen vom Jugendamt. Jasmin soll ins Heim, die Eltern zu einem Gutachter, Jasmins „Kindeswohl“ sei gefährdet.
Frau Schneider wehrt sich. „Thematisiert ihren Ärger“, heißt das im Jugendamtsdeutsch, wenn man die Verantwortung über das eigene Kind verliert. Die Mutter kritisiert Jasmins Tagesgruppe, die stationäre Heimunterbringung von Sohn Daniel und sagt, „sie wäre mit einer Heimunterbringung ihrer Tochter niemals einverstanden“.
Laut Protokoll wird der Antrag ans Amtsgericht auf Teilentzug der elterlichen Sorge gestellt. Dabei liegt der in Wahrheit schon seit Tagen vor Gericht. Aber das erfahren die Schneiders nicht. Um 16.15 Uhr endet das Gespräch und das Gesprächsprotokoll mit den Sätzen:
„Das Protokoll ist gemeinsam erarbeitet worden und bildet die Grundlage der weiteren Zusammenarbeit. Sollten binnen 2 Wochen keine Einwände gegen dieses Protokoll erhoben werden, wird es verbindlich.“