Faktencheck

Keine Belege, dass 96 Prozent der Corona-Toten Italiens nicht an Covid-19 gestorben sind

Der italienische Politiker Vittorio Sgarbi behauptete, dass von 25.000 verstorbenen Corona-Patienten in Italien 96 Prozent eigentlich an anderen Ursachen gestorben wären. Diese Argumentation basiert jedoch auf einem Trugschluss.

von Steffen Kutzner

Screenshot Sgarbi Rede
Vittorio Sgarbi bei einer Rede im Februar 2020. (Quelle: Youtube/La Repubblica. Screenshot: CORRECTIV)
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Unbelegt. Vittorio Sgarbi zieht falsche Schlüsse aus einer Studie. Es ist unklar, wie viele Menschen in Italien wirklich ursächlich am Coronavirus starben.

Auf Facebook und Video-Plattformen wie Youtube oder Vimeo macht eine Rede des italienischen Politikers Vittorio Sgarbi die Runde, in der er behauptet, von 25.000 Corona-Toten in Italien wären 96 Prozent nicht an Covid-19 sondern an anderen Ursachen gestorben. Das Virus solle, so Sgarbi, als Ausrede für „terroristische“ Zwecke der italienischen Regierung dienen. 

Das Video wurde auch von der deutschen Seite Compact aufgegriffen. Sgarbi ist Politiker für die konservative Partei Forza Italia und hatte die Rede am 24. April 2020 vor dem italienischen Abgeordnetenhaus gehalten. (Ab Minute: 7:32:45) 

Studie untersuchte Vorerkrankungen, nicht Todesursachen

Wie CORRECTIV mit Hilfe der italienischen Faktenchecker von Pagella Politica recherchiert hat, bezieht sich diese Behauptung offenbar auf eine Studie aus Italien, die Charakteristika von 25.452 verstorbenen Covid-19-Patienten bis zum 29. April untersuchte. Sgarbi zieht jedoch Schlüsse, die die Studie nicht zulässt.

Die Studie stammt vom Istituto Superiore de Sanità (ISS), der italienischen Gesundheitsbehörde, die, ähnlich wie das Robert-Koch-Institut in Deutschland, Handlungsempfehlungen in Italien ausgibt. Darin steht, dass bei 2.351 Patienten, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren und im Krankenhaus starben, die Krankenakten analysiert wurden. Es wurde also nur ein Teil der rund 25.500 Verstorbenen genauer untersucht, nicht alle. 

Die Auswertung kommt zu dem Schluss, dass in 90 der 2.351 analysierten Krankenakten keine Vorerkrankung vermerkt war. Das entspricht 3,8 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass 96,2 Prozent eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten. Auf diese Zahl bezieht Sgarbi sich offenbar. Für seine Schlussfolgerung, dass diese Menschen alle nicht an Covid-19 starben, ist die Studie aber keine Grundlage.

Auszug aus der Studie, auf die sich Sgarbi bezieht. (Screenshot und Markierung: CORRECTIV)

Sgarbi zieht falsche Schlüsse

Dass ein Corona-Patient eine oder mehrere Vorerkrankungen hat, bedeutet nicht zwingend, dass er nicht ursächlich an Covid-19 gestorben ist. Es ist auch unklar, ob der Tod jeweils letztlich durch genau eine Krankheit verursacht wird oder nicht auch mehrere Faktoren in Kombination miteinander den Tod verursachen können. 

Zudem wird in der Studie festgehalten, dass von den 2.351 im Krankenhaus gestorbenen Patienten nur 166 ursprünglich wegen anderer Diagnosen eingeliefert worden waren. Bei allen anderen, 92,5 Prozent, stimmten der Zustand und die Symptome bei der Einlieferung (Lungenentzündung, Fieber, Husten) mit Covid-19 überein. Die Erkrankung, die den Krankenhausaufenthalt notwendig machte, wurde also vermutlich in den meisten Fällen vom Coronavirus verursacht. 

Die Studie zeigt auch, dass die Vorerkrankungen nicht zu den beim Krankenhausaufenthalt beobachteten Symptomen passen: Die häufigsten Vorerkrankungen waren Bluthochdruck (69,2 Prozent), Typ-2-Diabetes (31,8 Prozent) und chronische ischämische Herzkrankheiten (28,2 Prozent). 

Die am häufigsten beobachteten Symptome der Patienten waren jedoch Fieber (76 Prozent), Atemnot (73 Prozent) und Husten (39 Prozent). 

Auszug aus der Studie des Istituto Superiore de Sanità. (Screenshot: CORRECTIV)

Obduktionen in Hamburg zeigen bisher: Großteil stirbt nicht mit sondern an Corona 

Die Erkenntnis, dass die meisten Corona-Toten in Italien eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten, ist nicht neu. In einem Faktencheck vom 20. März hatten wir schon von einer ähnlichen Studie berichtet, die das ISS am 17. März veröffentlicht hatte. Damals lag der Anteil der Verstorbenen ohne Vorerkrankung bei 0,8 Prozent. 

Auch in Deutschland zählen laut Robert-Koch-Institut Patienten mit Vorerkrankungen zur Risikogruppe für schwere Verläufe von Covid-19. Aber: „Schwere Verläufe können auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten und werden auch bei jüngeren Patienten beobachtet.“ Obduktionen von verstorbenen Corona-Patienten in Hamburg zeigen zudem bisher, dass der Großteil ursächlich durch die Infektion mit dem Coronavirus starb. 

In Italien werden laut Pagella Politica alle positiv getesteten Menschen, die sterben, als Corona-Todesfälle gezählt – ähnlich wie in Deutschland. So lange nicht alle Verstorbenen obduziert werden, ist also unklar, wie viele genau an Covid-19 starben. 

Vittorio Sgarbi hat schon häufiger harsche Kritik an der italienischen Regierung geäußert, zum Thema Corona zum Beispiel im Februar 2020. Auf Twitter äußert er aktuell immer wieder Bedenken bezüglicher der Beschneidung der Grundrechte und kritisiert die italienische Regierung.

„Wahnsinnige Entscheidungen einer Regierung aus Unfähigen.“ – Tweet von Sgarbi vom 23. April 2020 zum Thema Corona. (Screenshot: CORRECTIV)

Fazit: Vittorio Sgarbi zieht falsche Schlussfolgerungen aus einer Studie des ISS. Dass ein gestorbener Corona-Patient Vorerkrankungen hatte, bedeutet nicht zwingend, dass er nicht an Covid-19 gestorben ist.