Nein, die WHO hat nicht bestätigt, dass Covid-19 weniger schlimm als eine Grippe sei
Angeblich habe die WHO in einer Sondersitzung am 5. Oktober bestätigt, dass die saisonale Grippe gefährlicher als das Coronavirus sei. Das stimmt nicht. In der Quelle, die den Facebook-Beiträgen zugrunde liegt, werden lediglich vorsichtige Schätzungen zur weltweiten Durchseuchung genannt.
Auf mehreren Facebook–Profilen wurde die Behauptung verbreitet, die WHO habe „zufällig“ zugegeben, dass Covid-19 weniger gefährlich sei als die saisonale Grippe. Das stimmt jedoch nicht. Ein WHO-Mitarbeiter hat lediglich bei einer Präsentation den geschätzten Anteil der mit SARS-CoV-2 Infizierten an der Weltbevölkerung genannt. Um die Gefährlichkeit der saisonalen Grippe ging es nicht.
Wörtlich heißt es in dem mehrere tausend Male geteilten Beitrag: „Während der Sitzung gab Dr. Michael Ryan, der Leiter der WHO für Notfälle, bekannt, dass etwa 10% der Welt mit Sars-Cov-2 infiziert sind. […] Die Weltbevölkerung beträgt ungefähr 7,8 Milliarden Menschen, wenn 10% infiziert wurden, das sind 780 Millionen Fälle. Die weltweite Zahl der Todesopfer, die derzeit auf Sars-Cov-2-Infektionen zurückzuführen sind, beträgt 1.061.539. Das ist eine Infektionssterblichkeitsrate von ungefähr oder 0,14%. Genau im Einklang mit der saisonalen Grippe und den Vorhersagen vieler Experten aus der ganzen Welt.“
Am Ende des Beitrages wird auf die vermeintliche Quelle hingewiesen: Eine Aufzeichnung einer WHO-Versammlung am 5. und 6. Oktober 2020, die tatsächlich auf der Seite der WHO zu finden ist. Geht man in der ersten der drei Aufzeichnungen (Session 1) zu Minute 1:01:33, sagt Michael Ryan, Direktor des World Health Emergencies Programme der WHO, wörtlich: „Momentan ist unsere beste Schätzung, dass zehn Prozent der Weltbevölkerung mit dem Virus infiziert gewesen sein könnten.“
WHO hat nicht „zufällig“ Ungefährlichkeit von Covid-19 bestätigt
Michael Ryan bestätigt in seinem Vortrag nicht, dass das Coronavirus weniger gefährlich wäre als die Grippe. Er nimmt an keiner Stelle des Vortrags Bezug auf Influenza-Erkrankungen.
Ryan betont auch die Gefährlichkeit in dem Satz unmittelbar nach seiner Schätzung: „Die Infektionsrate sagt uns, dass die große Mehrheit der Weltbevölkerung noch immer gefährdet ist.“ Die Berechnung, die in dem Facebook-Beitrag angeführt wird, geht nicht auf Ryan oder die WHO zurück. Dort liegen bisher zu wenige Daten vor, um die Sterblichkeitsrate verbindlich zu berechnen. Vor allem ist unbekannt, wie viele Leute sich tatsächlich infiziert hätten, heißt es auf der Webseite der WHO.
Für eine frühere Recherche von CORRECTIV hatte uns ein WHO-Sprecher Mitte August per E-Mail erklärt, dass die WHO die Infektionssterblichkeitsrate (IFR) der saisonalen Grippe auf unter 0,1 schätzt, was „viel niedriger“ sei als bei Covid-19.
Metastudien: Infektionssterblichkeitsrate stark von Alter und Wohnort abhängig
Eine US-amerikanische Metastudie vom 6. Oktober, deren Peer Review noch aussteht, kam zu dem Ergebnis, dass die IFR zudem stark von mehreren Faktoren abhängt – so wie es Ryan in seiner Rede ebenfalls gesagt hatte. Eine Metastudie trägt die unterschiedlichen Ergebnisse einzelner Studien zusammen und macht sie methodologisch vergleichbar.
Einer der ausschlaggebenden Faktoren für die IFR ist das Alter der Patienten: Bei Kindern liegt die Sterblichkeit der Studie zufolge bei nahezu null und steigt im hohen Alter auf mehr als 25 Prozent (Seite 7 im Dokument).
Auch der Wohnort ist entscheidend: Die Altersgruppe der 35- bis 54-Jährigen wurde für die Metastudie zusammengefasst. In Australien lag die IFR bei 0,07 Prozent und bezieht sich auf die Altersgruppe der 40-bis-59-Jährigen. In Italien dagegen liegt die IFR bei 0,47 Prozent bei den 50-bis-59-Jährigen und bei 0,11 Prozent bei den 30-bis-49-Jährigen (Seite 18 im Dokument). Und bei den Patienten, die älter als 75 sind, liegt die IFR in England bei 24,5, in Belgien dagegen nur bei 4,29 Prozent (Seite 19 im Dokument).
Einer anderen, am 14. Oktober 2020 im WHO Bulletin, der Zeitschrift der WHO, veröffentlichten Metastudie zufolge, könnte die IFR bei 0,23 Prozent liegen (Seite 7 im Dokument). Der Leiter der Studie, John Ioannidis, der Professor für Epidemiologie an der Universität Stanford in den USA ist, räumt jedoch ein, dass die IFR im weltweiten Mittel womöglich noch deutlich unter diesem Wert liegt (Seite 8 im Dokument).
Dass Covid-19 weniger gefährlich als die saisonale Grippe sei, wird immer wieder behauptet. Wir haben bereits in diversen Faktenchecks gezeigt, dass das falsch ist.
Fazit: Die WHO hat die Grippe nicht als gefährlicher als Covid-19 eingestuft. In dem als Beleg genannten Video wird lediglich geschätzt, wie viele Menschen sich infiziert haben. Metastudien legen zudem nahe, dass die IFR sehr stark schwankt und von Alter und Wohnort abhängt.
Redigatur: Bianca Hoffmann, Till Eckert