Faktencheck

Virales Video: Darum führt die „Zerstörung des Corona-Hypes“ in die Irre

In einem viralen Video auf Youtube behauptet ein Psychologiestudent aus Ulm, dass die Maßnahmen gegen Covid-19 wenig bis keinen Effekt hatten. Er will mit Fakten überzeugen. Doch die Berechnungen, die er anstellt, stellen teils Daten falsch dar. Der einstündige Film ist dadurch irreführend.

von Sarah Thust

Corona-Virus
Diese Virus-Illustration zeigt, wie Coronaviren aufgebaut sind. (Symbolbild: CDC / Pexels)
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Teilweise falsch
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Teilweise falsch. Im Video werden mehrere irreführende oder falsche Behauptungen aufgestellt und relevanter Kontext weggelassen.

Ein Youtuber namens Sebastian Götz, nach eigenen Angaben Psychologiestudent in Ulm, glaubt, führende Virologinnen und Virologen liegen falsch: In einem Video auf Youtube hat er im Juni deshalb die „Zerstörung des Corona-Hypes“ gefordert. Er behauptet zu Beginn: „Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffen wirst, dieses Video bis zum Ende anzuschauen, ohne am Ende der Meinung zu sein, dass die Maßnahmen, der Lockdown und die Kontaktsperren zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt waren.“ Die Maßnahmen gegen Covid-19 hätten angeblich wenig bis keinen Effekt.

Das einstündige Video wurde bisher mehr als 600.000 Mal aufgerufen. Veröffentlicht wurde es auf dem Youtube-Kanal „Teil der Lösung“, der zuvor eher esoterische und unpolitische Videos hochgeladen hatte. Das änderte sich nach einer langen Pause von elf Monaten am 28. Juni, als der Youtuber dort sein Video veröffentlichte. Seitdem geht es auf seiner Seite um angeblichen Impfzwang und die Anti-Corona-Proteste.

Wir haben uns das Video angesehen und die zentralen Behauptungen überprüft. Der Mann aus Ulm nennt etliche Statistiken, zitiert angebliche Experten und wirft den Medien Manipulation vor (ab Minute 06:45). Doch viele Behauptungen sind unbelegt oder irreführend und Statistiken werden aus dem Kontext gerissen.

Mit dem Video „Die Zerstörung des Corona Hypes“ hat der Youtuber hunderttausende Aufrufe generiert. Er kritisiert die Corona-Maßnahmen.
Von Lebenserfahrung zu Corona: Mit dem Video „Die Zerstörung des Corona Hypes“ hat der Youtuber hunderttausende Aufrufe generiert. (Quelle: Youtube / Screenshot vom 11.08.2020: CORRECTIV)

Der Youtuber hat sein Video in fünf Abschnitte unterteilt: die Zahlen, die Argumente, die Tests, die Maßnahmen und die Experten. Die Liste seiner Quellen stellt er auch zum Download bereit. In jedem Abschnitt des Videos wiederholt er mehrere Behauptungen. Vier davon werden besonders durch Grafiken und Videoausschnitte unterstützt. Auf diese vier Behauptungen haben wir uns in diesem Faktencheck konzentriert.

Inhaltsverzeichnis

 

Behauptung 1: Statistiken zu Covid-19 würden falsch dargestellt

Im Abschnitt „Zahlen“ wirft Götz den Medien und der Wissenschaft Manipulation, teilweise „Fälschung“ und „Angstkommunikation“ vor (ab Minute 04:30). Die Berichterstattung über Covid-19 sei „grob unwissenschaftlich“ und „manipulativ“. 

1.1 Falsche Angaben zur Zahl der Infizierten?

Am Beispiel der Tagesschau vom 7. April 2020 will er belegen, dass darin eine „grob irreführende“ Angabe gemacht wurde. Sein Kritikpunkt: Statt von Infizierten müsste von „positiv Getesteten“ die Rede sein. Denn die Anzahl derjenigen, die positiv getestet wurden, bilde nicht alle Infizierten ab. Damit hat er grundsätzlich recht, die Zahl aller tatsächlich Infizieren ist unbekannt; es gibt eine Dunkelziffer. 

An dem Tagesschau-Bericht ist aber nichts grundsätzlich falsch: Es wird in der Sendung ausdrücklich darauf hingewiesen (ab Minute 0:50), dass es sich um „bestätigte Corona-Fälle“ handelt, also um Menschen, die bisher positiv auf das Virus getestet wurden. 

Ein Screenshot der Tagesschau vom 7. April 2020 zeigt die Zahl der bestätigten Corona-Fälle. In dem Youtube-Video wird er als Beispiel für angebliches Fehlverhalten der Medien verwendet.
Ein Screenshot der Tagesschau vom 7. April 2020 zeigt die Zahl der bestätigten Corona-Fälle. In dem Youtube-Video wird er als Beispiel für angebliches Fehlverhalten der Medien verwendet. (Screenshot: CORRECTIV)

Außerdem sagt der Youtuber, dass „Medien und Fernsehen“ die Zahl der positiv Getesteten ins Verhältnis zur Menge der Tests setzen müssten, um ein realistisches Bild zu vermitteln. Seine Argumentation baut er auf dieser Behauptung auf: Werde öfter getestet, würden mehr Corona-Infektionsfälle entdeckt. Das hieße aber nicht, dass es auch mehr Fälle gibt (ab 05:22).

Das Robert-Koch-Institut (RKI) antwortete uns auf die Frage, ob eine erhöhte Zahl an positiven Tests etwas mit der Ausweitung der Testkapazitäten zu tun haben kann, per E-Mail: „Eine Ausweitung der Testindikationen oder eine Erhöhung der Zahl durchgeführter Tests kann zu einem Anstieg der Fallzahlen führen, da zuvor unentdeckte Infizierte erkannt werden. Das heißt aber nicht, dass umgekehrt die beobachteten steigenden Fallzahlen nur mit dem vermehrten Testaufkommen zu erklären wären, geschweige denn mit einem vermeintlich hohen Anteil an falsch-positiven Ergebnissen der PCR-Testung.“ Über die Fehlerquote der PCR-Tests hat CORRECTIV bereits berichtet.

Aus der E-Mail des RKI.
Aus der E-Mail des RKI. (Screenshot: CORRECTIV)

1.2 Haben die Medien Angst verbreitet?

Gab es „zu viel Panikmache“ in den Medien, wie im Youtube-Video behauptet? Da das Empfinden von „Panikmache“ subjektiv ist, ist diese Aussage schwer überprüfbar.

Die Journalistik-Forscher Michael Haller und Klaus Meier im April festgestellt, dass in den Medien „durch dramatische Einzelfälle und vor allem durch dramatische Bilder aus anderen Ländern (z.B. Särge von Bergamo) Angst erzeugt wurde“. Professor Meier wies uns am 10. September per E-Mail darauf hin, dass solche Bilder vor allem in den TV-Nachrichten und den TV-Sondersendungen „intensiv verwendet“ wurden. Zwei weitere Inhaltsanalysen von anderen Wissenschaftlern würden diese Thesen bestätigen.

Der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt veröffentlichte im Juni eine andere Studie,in der er Beiträge von Nachrichtenmedien auf Facebook – also hauptsächlich Texte – in einer automatischen Inhaltsanalyse untersucht hat. Einer seiner Schlüsse: „Einige Kritiker behaupteten, der Journalismus sei Panikmache, was weder durch die Negativitätsanalyse noch durch das aktuelle Spektrum, das wir in unserer Analyse gefunden haben, gestützt wird“, heißt es in der Studie (Seite 23). „Im Wesentlichen gab es also keine offensichtlichen systemischen Dysfunktionen, auch wenn einige Aspekte in Zukunft möglicherweise einen verbesserten Umgang verdienen.“

1.3 Werden Influenza-Statistiken verfälscht?

Nach dem Angriff gegen die Medien ist im Video sogar von „Fälschung wissenschaftlicher Daten“ die Rede (ab Minute 07:18). Youtuber Götz stellt die Frage: „Ich werde positiv auf Corona und Influenza getestet. Woran bin ich dann gestorben?“ Damit suggeriert er, dass zum Beispiel die Influenza-Statistiken verfälscht werden, weil Tote mit einer nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektion immer als Corona-Tote gezählt würden.

CORRECTIV hat beim Statistischen Bundesamt nachgefragt, das die diese Statistiken anfertigt. Es widerspricht der Behauptung teilweise: „Bei einer vorliegenden Doppeldiagnose (Influenza und Covid-19) wird NICHT automatisch das eine durch das andere ersetzt, sondern es wird diejenige Erkrankung zugrunde gelegt, die letzten Endes tödlich war. Das ist im Einzelfall nicht unbedingt klar voneinander zu trennen, einen Automatismus bei der Zuordnung der Todesursachen gibt es hingegen nicht.“

Eine Sprecherin des Statistischen Bundesamtes bestätigt in einer E-Mail, dass Influenza-Fälle nicht „automatisch“ als Covid-19-Fälle gezählt werden.
Eine Sprecherin des Statistischen Bundesamtes bestätigt in einer E-Mail, dass Influenza-Fälle nicht „automatisch“ als Covid-19-Fälle gezählt werden. (Screenshot: CORRECTIV)

Tatsächlich wurden Influenza-Todesfälle bisher nur „selten“ als Corona-Fälle gezählt, schrieb das Robert-Koch-Institut an CORRECTIV.Faktencheck. Während der Influenzasaison habe es „einen Nachweis einer Doppelinfektion von SARS-CoV-2 und Influenza“ gegeben. „Daraus lässt sich schließen, dass Doppelinfektionen vor dem Ende der Influenzasaison zwar vorkamen, aber selten waren.“ 

Eine Sprecherin des Robert-Koch-Instituts schreibt in einer E-Mail, dass Doppelinfektionen in der Influenza-Saison 2019/2020 zwar vorkamen, aber selten waren.
Eine Sprecherin des Robert-Koch-Instituts schreibt in einer E-Mail, dass Doppelinfektionen in der Influenza-Saison 2019/2020 zwar vorkamen, aber selten waren. (Screenshot: CORRECTIV)

1.4 Sterbefallstatistik und Sterblichkeitsrate

Zum Verständnis: In der Sterbefallstatistik zu Covid-19 werden Menschen aufgeführt, bei denen SARS-CoV-2 nachgewiesen wurde. Dazu zählen sowohl die, die direkt an der Erkrankung gestorben sind („gestorben an“), als auch Patienten mit Grundkrankheiten, die infiziert waren und bei denen sich nicht klar nachweisen lässt, was letzten Endes die Todesursache war („gestorben mit“). Das erklärt das RKI auf seiner Webseite (unter Fallzahlen und Meldungen).

Ein anderer Faktor ist die Sterblichkeitsrate: Sie werde „massiv überschätzt“, behauptet Götz, wenn für ihre Berechnung die Zahl der „positiv Getesteten“ verwendet werde. Stattdesse müsse die Zahl aller mit Covid-19 Infizierten verwendet werden (ab Minute 05:10). Das ist grundsätzlich richtig, doch mit seiner Aussage suggeriert Götz, die Zahl aller tatsächlich Infizierten sei bekannt. Das ist nicht der Fall. 

Der Student unterstellt in seinem Video, dass für die Berechnung der „Sterberate“ die Zahl der Todesfälle durch die Zahl aller Infizierten geteilt werden müsste. Diese Zahl ist aber unbekannt.
Der Student unterstellt in seinem Video, dass für die Berechnung der „Sterberate“ die Zahl der Todesfälle durch die Zahl aller Infizierten geteilt werden müsste. Diese Zahl ist aber unbekannt. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)

Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Sterblichkeitsrate zu berechnen:

Die erste ist die Infektions-Sterblichkeitsrate (Infection Fatality Ratio; IFR) – der Anteil der Verstorbenen an allen Infizierten (über die „Sterblichkeitsrate“ hat CORRECTIV hier berichtet). Hierzu liegen laut WHO noch nicht genügend Daten vor; es sei nicht bekannt, wie viele Menschen insgesamt infiziert sind.

Die zweite Möglichkeit ist der Fall-Verstorbenen-Anteil (Case Fatality Ratio; CFR): Er wird danach berechnet, wie viel Prozent derjenigen, von denen man weiß, dass sie sich mit Covid-19 laborbestätigt infiziert haben, versterben. Am 8. September lag der Fall-Verstorbenen-Anteil in Deutschland beispielsweise bei 3,7 Prozent, wie das RKI in seinem täglichen Lagebericht mitteilte.

Für die Schätzung, wie tödlich eine Krankheit ist, gibt es zwei Modelle - die Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) und den Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR).
Für die Schätzung, wie tödlich eine Krankheit ist, gibt es zwei Modelle – die Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) und den Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR). (Quelle: WHO / Screenshot: CORRECTIV)

Ein dritter Begriff ist die „Letalität“ – diese definiert das RKI als den Anteil der Verstorbenen an den tatsächlich erkrankten Fälle. Denn nicht jeder Infizierte wird auch krank. Hierzu gebe es bisher ebenfalls nicht genügend Daten. 

1.5 WHO sagt, Covid-19 sei tödlicher als Influenza

Sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) soll die Sterblichkeitsrate falsch berechnet haben, heißt es im Video (ab Minute 09:50). Sebastian Götz sagt: „Einen Satz, den wir unter anderem von der WHO am Anfang gehört haben ist: Covid-19 ist bis zu zehnmal tödlicher als die Influenza.“ Mittlerweile wisse man mehr und „es drängt sich der Verdacht auf“, dass die „Anzahl der mit Covid-19 Verstorbenen durch die Anzahl der positiv Getesteten geteilt wurde“.

Wir haben bei der WHO nachgefragt, ob das Zitat korrekt ist. Ein Sprecher der Organisation konnte uns nicht bestätigen, dass die WHO zu Anfang der Pandemie eine solche Behauptung aufgestellt hat. Unsere Internetrecherchen ergaben lediglich, dass WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus bei einem Pressebriefing im April laut Medienberichten gesagt haben soll, dass das neuartige Coronavirus zehnmal tödlicher sei als die Schweinegrippe, die von der WHO 2009 als Influenza-Pandemie eingeschätzt wurde.

Fall-Verstorbenen-Anteil bei saisonaler Grippe schätzungsweise 0,1 Prozent

Wie steht die WHO heute allgemein zu der Frage, ob Covid-19 gefährlicher oder tödlicher als Influenza ist? 

Ein Sprecher antwortete uns per E-Mail am 14. August: „Obwohl die Schätzungen variieren, deuten die Daten darauf hin, dass der Schweregrad der Influenza viel niedriger ist als der von Covid-19.“ Gemeint ist die saisonale Grippe, die jedes Jahr auftritt. Der Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) liege hier schätzungsweise bei 0,1 Prozent. Da es viele asymptomatische Grippeinfektionen gebe, liege die tatsächliche Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) vermutlich noch niedriger.

Sind die Corona-Maßnahmen nötig? Ein Sprecher der WHO schrieb CORRECTIV, dass die Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) etwas über die „wahre Schwere“ von Krankheiten aussagt. Sie könne aber noch nicht exakt berechnet werden.
Ein Sprecher der WHO schrieb CORRECTIV, dass die Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) etwas über die „wahre Schwere“ von Krankheiten aussagt. Sie könne aber noch nicht exakt berechnet werden. (Screenshot: CORRECTIV)

Die tatsächliche Sterblichkeitsrate für Covid-19 steht noch nicht fest, doch die WHO schätzt sie auf 0,6 Prozent

Tatsache ist, dass die WHO bereits eine vorläufige Infektions-Sterblichkeitsrate (IFR) angibt, die den Anteil der Todesfälle an allen infizierten Personen zeigen soll. Dafür wird aber nicht „einfach“, wie im Youtube-Video behauptet, die Zahl der Covid-19-Todesfälle durch die Anzahl der Infektionen geteilt. 

Stattdessen stützt sich die WHO „auf gut konzipierte serologische Untersuchungen“ von repräsentativen Zufallsstichproben aus der Bevölkerung. Wie die WHO diese Rate konkret berechnet, wird hier erklärt.

Der geschäftsführende Direktor des WHO-Programms für Gesundheitsnotfälle, Mike Ryan, hat die IFR des neuartigen Coronavirus erst vor Kurzem auf etwa 0,6 Prozent geschätzt. Zum Vergleich von SARS-CoV-2 und der Influenza-Pandemie von 2009 sagte er am 3. August: „Diese 0,6 Prozent bedeuten, dass etwas mehr als einer von 200 infizierten Menschen möglicherweise sterben könnten. Das ist altersabhängig, in älteren Altersgruppen ist das Risiko viel höher. Wenn man das mit der (Influenza)-Pandemie 2009 vergleicht, war es da eher einer von 10.000 oder einer von bis zu 100.000. […] Wenn Sie an einen von 200 denken, gegenüber einem von 100.000, bekommen Sie ein Gefühl dafür, wie viel tödlicher dieses Virus für die Gemeinden ist.“

1.6 Dokumentation über Schweinegrippe säte Zweifel an der WHO

Das Youtube-Video „Die Zerstörung des Corona-Hypes“ enthält außerdem Aufnahmen einer Dokumentation über die Schweinegrippe-Pandemie 2009, die laut des Films von der WHO als Pandemie eingeschätzt worden sei und dann doch relativ glimpflich verlaufen sei (ab Minute 02:10). Damals berichteten mehrere Medien, wie der Spiegel: „Hat die Pharmaindustrie die Schweinegrippepanik mit Zahlungen an Wissenschaftler geschürt?“ Angeblich hätten drei Seuchenexperten der WHO Geld von Konzernen erhalten.

Panikmache von Medien und Politik? 2009 verbreitete sich das Virus H1N1, auch bekannt als Schweinegrippe, und die WHO rief eine Pandemie aus.
Panikmache von Medien und Politik? 2009 verbreitete sich das Virus H1N1, auch bekannt als Schweinegrippe, und die WHO rief eine Pandemie aus. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)

Ein Gremium unabhängiger Experten hat den Umgang der WHO mit der H1N1-Epidemie im Jahr 2011 geprüft. Beweise, dass die Einstufung als Pandemie manipuliert wurde, fand das Gremium nicht (Seite 9). Im Bericht hieß es: Im Frühjahr in Mexiko-Stadt schien das Virus schwerwiegend zu sein und es sei nicht klar gewesen, wie verhältnismäßig mild es wirklich war, bis zum Spätsommer, nachdem die Länder schon den Impfstoff bestellt hatten.

Die Weltgesundheitsorganisation und das Robert-Koch-Institut dementieren die Vorwürfe. „Es ist auch durchaus möglich, dass sich die pandemische Influenza in Deutschland auch darum vergleichsweise moderat entwickelt hat, weil die ergriffenen Maßnahmen erfolgreich waren“, schreibt das RKI dazu auf seiner Webseite.

Das Robert-Koch-Institut klärt auf seiner Internetseite über die Schweinegrippe-Pandemie im Jahr 2009 auf.
Das Robert-Koch-Institut klärt auf seiner Internetseite über die Schweinegrippe-Pandemie im Jahr 2009 auf. (Screenshot: CORRECTIV)

Zwischenfazit: Werden also die Statistiken zu Covid-19 von Medien, Wissenschaft und Politik falsch dargestellt, wie der Student auf Youtube behauptet? Nein, wie unsere Recherchen anhand der genannten Beispiele ergaben. Medien und Experten verwenden jene Daten zu Covid-19, die bisher verfügbar sind. 

Berechnungen der absoluten Sterblichkeitsrate sind bisher nicht möglich, was WHO und RKI auch transparent machen. Alternative Berechnungsmodelle ermöglichen erste Schätzungen, wie die WHO auf ihrer Internetseite beschreibt. Für die Behauptung des Youtubers, dass die Sterblichkeitsrate „massiv überschätzt“ werde, gibt es keine Belege. 

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Behauptung 2: Covid-19 sei weder tödlicher noch gefährlicher als Influenza

Es ist richtig, wie im Video anfangs behauptet, dass Coronaviren seit Jahren bekannt sind und sich wie andere Viren auch ständig verändern. Der Autor des Youtube-Videos behauptet aber: Covid-19 sei nicht wesentlich tödlicher oder gefährlicher als Influenza.

Götz’ Argumente: Die Heinsberg-Studie würde bestätigen, dass die Sterblichkeitsrate von SARS-CoV-2 im Bereich der Grippe liege. Die Reproduktionszahl sei nicht höher als bei Influenza. Und: Eine Übersterblichkeit und eine Grippewelle habe es in diesem Jahr „quasi“ nicht gegeben. Wir haben uns diese Aussagen nacheinander angeschaut.

2.1 Keine Übersterblichkeit?

Der Student behauptet in seinem Video: „Wir haben in diesem Jahr keine Übersterblichkeit. Das belegt, dass mit den Maßnahmen ganz gehörig übertrieben wurde.“ Dazu zeigt er ein Diagramm, das Covid-19-Todesfälle und Nicht-Covid-19-Todesfälle pro Tag in diesem Jahr zeigt (ab Minute 08:30). Ob es eine Übersterblichkeit durch das Coronavirus gibt, lässt sich daraus aber nicht ableiten.

Übersterblichkeit bedeutet, dass in einem bestimmten Zeitraum mehr Menschen starben als im langjährigen Durchschnitt. 

Diese Grafik zeigt, dass Zahl der Todesfälle pro Woche in Deutschland und die Zahl der Covid-19-Todesfälle.
Diese Grafik zeigt, dass Zahl der Todesfälle pro Woche in Deutschland und die Zahl der Covid-19-Todesfälle. (Quelle: Statistisches Bundesamt / Grafik: CORRECTIV)

Die wöchentlichen Sterbefallzahlen in Deutschland waren laut Statistischem Bundesamt vom 23. März bis 3. Mai 2020 tatsächlich höher als im Durchschnitt der Vorjahre. Am stärksten war die Abweichung mit 14 Prozent im April. 

Eine Übersterblichkeit, die zeitlich mit der Covid-19-Pandemie korreliert, könne „in einigen Ländern beobachtet werden“, schrieb das RKI im Juni (Seite 11). Unter anderem in Belgien und Spanien war die Übersterblichkeit zeitweise sehr hoch, wie Daten des Portals Euromomo (European Mortality Monitoring Project) zeigen. Das Portal wertet die Mortalitätsraten europäischer Länder aus. 

Ob die sogenannte Übersterblichkeit durch das Coronavirus höher ausfällt als durch die saisonale Influenza, kann bisher noch nicht ermittelt werden. Über die sogenannte Exzess-Mortalität oder Übersterblichkeit hat CORRECTIV auch hier berichtet

2.2 Infektions-Sterblichkeit von Influenza und Coronavirus nicht vergleichbar

Wie bereits in diesem Faktencheck erwähnt wurde, schätzt die WHO die Infektions-Sterblichkeitsrate (anhand der verfügbaren Daten) als höher ein als bei der saisonalen Influenza. Ein Experte schätzte sie kürzlich auf 0,6 Prozent. Schon am 17. März veröffentlichte die WHO ihre Einschätzung, SARS-CoV-2 sei gefährlicher, auf ihrer Internetseite

Der Youtuber verweist in seinem Video auf die „Letalität“ in der Heinsberg-Studie, womit er eigentlich die Infektions-Sterblichkeit (IFR) meint. Die Studie bezieht sich auf die Gemeinde Gangelt in Nordrhein-Westfalen und nannte eine IFR von rund 0,4 Prozent.

„Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, zitierte die Universität Bonn den Leiter der Studie Hendrik Streeck in einer Pressemitteilung am 4. Mai.

Damit wäre die Sterblichkeit aber auch nicht ähnlich wie bei der Grippe, wie der Youtuber behauptet hatte. Diese hat (wie erwähnt) einen geschätzten Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) von 0,1 Prozent, und der IFR wird laut WHO noch niedriger vermutet.

2.3 Youtuber stellt Impfeffektivität gegen Influenza irreführend dar

Der nächste Punkt auf der Liste des Youtubers ist die Impfung: Das Argument, Covid-19 sei gefährlicher als Grippe werde auch damit begründet, dass es ja einen Impfstoff gegen die Grippe gebe, erklärt er. Das mache aber wenig Sinn, denn der Impfstoff gegen die Grippe müsse jedes Jahr neu entwickelt werden und wirke trotzdem nicht richtig (ab Minute 12:18). 

Tatsächlich wird die Wirkweise des Influenza-Impfstoffes jedes Jahr aufs Neue bewertet. In der Grippe-Saison 2018/19 war die Impfeffektivität laut Saisonbericht des RKIs zum Beispiel eher niedrig und lag insgesamt bei 21 Prozent (Seite 105). Sie variiert aber je nach Virustyp und Altersgruppe.

Der Youtuber zeigt im Video ein Diagramm mit Daten, die sich nur auf über 60-Jährige beziehen. Er hat die Impfeffektivität in den verschiedenen Grippesaisons in dieser Risikogruppe seit 2013/2014 zusammengetragen. Daraus berechnete er, dass die Impfeffektivität im Durchschnitt nur zehn Prozent betrage. Er lässt dabei aber alle anderen Altersgruppen außer Acht. Laut RKI ist die Impfeffektivität am höchsten bei jungen Menschen und nimmt mit zunehmendem Alter ab. 

Die Grafik oben stammt aus dem Youtube-Video und soll die Entwicklung der Impfeffektivität seit 2013 zeigen, bezieht sich aber nur auf die über 60-Jährigen. Das Diagramm darunter vom RKI zeigt jedoch, dass die Impfeffektivität bei jungen Menschen wesentlich höher ist als bei alten.
Die Grafik oben stammt aus dem Youtube-Video und soll die Entwicklung der Impfeffektivität seit 2013 zeigen, bezieht sich aber nur auf die über 60-Jährigen. Das Diagramm darunter vom RKI zeigt jedoch, dass die Impfeffektivität bei jungen Menschen wesentlich höher ist als bei alten. (Screenshot: CORRECTIV)

Das Robert-Koch-Institut bestätigte gegenüber CORRECTIV, dass „die Wirksamkeit der Influenzaimpfung nicht optimal ist“. Dennoch könnten aufgrund der Häufigkeit der Influenza viele Erkrankungsfälle verhindert werden. „In zahlreichen Studien wurde außerdem gezeigt, dass eine Influenzaerkrankung bei geimpften Personen milder, also mit weniger Komplikationen verläuft als bei Ungeimpften“, schreibt ein Sprecher des RKI.

2.4 Reproduktionszahl nicht höher als bei Influenza?

Der Youtuber behauptet auch, die Reproduktionszahl des Coronavirus sei nicht höher als die von Influenza (Video, ab Minute 10:55). Das ist nach Aussage des RKI und der WHO falsch.

Die Reproduktionszahl bezeichnet die Anzahl der Personen, die eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Laut Robert-Koch-Institut liegt die Basis-Reproduktionszahl bei SARS-CoV-2 zwischen 2,4 und 3,3. Sie sei höher als bei der Influenza, schrieb das RKI bereits im April (Seite 3). 

Die saisonale Grippe hat laut RKI eine Basis-Reproduktionszahl von etwa 1 bis 1,5 Personen, wie uns das Institut auf Nachfrage mitteilte. Sie sei unter anderem abhängig davon, wie gut die Grippeimpfung in dem Jahr wirke. Studien zufolge lagen die R-Werte bei Grippe-Pandemien in der Vergangenheit etwas höher als bei der saisonalen Influenza. Zum Beispiel lag der Median-R-Wert der Spanischen Grippe im Jahr 1918 bei 1,8 (Bandbreite: 1,47 bis 2,27).

Die WHO schrieb im März auf ihrer Webseite: „Die Anzahl der Ansteckungen, die von einem Infizierten erzeugt werden, liegt beim Covid-19-Virus (sic) zwischen 2 und 2,5 und ist damit höher als bei der Influenza. Schätzungen sowohl für Covid-19 als auch für Influenzaviren sind jedoch sehr kontext- und zeitspezifisch, was direkte Vergleiche erschwert.“

Die Reproduktionszahl basiert auf Schätzungen und ist abhängig von den verfügbaren Daten. Darum nennen unterschiedliche Institute und Behörden teils verschiedene Werte – so wie das RKI und die WHO.

Eine Grafik des Robert-Koch-Instituts zur Reproduktionszahl, die der Youtuber in seinem Video zeigt, belegt zudem nicht, dass der „Lockdown“ der Regierung unnötig und unwirksam gewesen sei. Angeblich lasse sich daran erkennen, dass die Reproduktionszahl des Virus schon vor dem 23. März (dem Tag, an dem das Kontaktverbot eingeführt wurde) unter 1 gefallen sei. Diese Behauptung ist jedoch irreführend, wie CORRECTIV bereits in einem Faktencheck recherchiert hat. Die Wirksamkeit oder Notwendigkeit der Corona-Maßnahmen nur auf den R-Wert zurückzuführen, greift laut RKI zu kurz.

Diese Grafik des RKI zeigt die Entwicklung der Reproduktionszahl seit Beginn der Pandemie (Epidemologisches Bulletin 17/2020, Seite 14). Immer wieder wird behauptet, die Grafik würde zeigen, dass die Maßnahmen nicht nötig gewesen seien.
Diese Grafik des RKI zeigt die Entwicklung der Reproduktionszahl seit Beginn der Pandemie (Epidemologisches Bulletin 17/2020, Seite 14). Immer wieder wird behauptet, die Grafik würde zeigen, dass die Maßnahmen nicht nötig gewesen seien. (Screenshot: CORRECTIV)

Zwischenfazit: Verbindung von Fakten mit falschen Schlussfolgerungen

In dem Abschnitt „Argumente“ fällt immer wieder auf, dass der Youtuber korrekte Fakten mit irreführenden Grafiken und Schlussfolgerungen verknüpft und sie so in einem falschen Kontext erscheinen lässt. 

Ab Minute 13 spekuliert er sogar, „dass Grippe-Geimpfte ein höheres Risiko haben, die Grippe zu bekommen“. Das RKI stellte in seiner Antwort an CORRECTIV richtig: „Wenn die Impfung schlechter schützt, steigt das Risiko für Erkrankungen, aber es wird nicht schlechter als ohne Impfung. In zahlreichen Studien wurde außerdem gezeigt, dass eine Influenzaerkrankung bei geimpften Personen milder, also mit weniger Komplikationen verläuft als bei Ungeimpften (z.B. VanWormer JJ et al., BMC Infect Dis. 2014; 14: 231).

Bisher ist vieles über SARS-CoV-2 noch unklar, weil es kaum vergleichbare Daten gibt. Dennoch gehen unter anderem die Experten vom Robert-Koch-Institut davon aus, dass Covid-19 gefährlicher und tödlicher als die saisonale Influenza ist. 

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Behauptung 3: Durch PCR-Tests wird eine Epidemie gemessen, die es gar nicht gibt

Im Abschnitt „Test“ suggeriert das Video, dass die Covid-19-Pandemie gar keine Pandemie sei. Darin behauptet der Autor: „Es wäre nicht das erste Mal, dass durch einen überempfindlichen PCR-Test eine Epidemie gemessen wird, die es gar nicht gibt.“ Dabei übernimmt er einige Argumente, die auch der Lungenarzt und ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD, Wolfgang Wodarg, vertritt. Über seine Thesen haben wir hier ausführlich berichtet.

3.1 „Pseudo-Pandemie“ durch falsche Testergebnisse?

„Pseudo-Epidemien passieren ständig“, behauptet der Youtuber. Als Beispiel nennt er eine Keuchhusten-Epidemie aus dem Jahr 2006 in Dartmouth, USA. Das RKI definiert eine Pseudo-Epidemie so: „Stärkere Erfassung von Erkrankungsfällen im Vergleich zu vorherigen Perioden ohne Ablauf eines epidemischen Prozesses (z. B. durch eine erhöhte diagnostische Aktivität oder das häufigere Manifestwerden von Infektionen durch Resistenzminderung in der Populationen, sodass eine Epidemie vorgetäuscht wird).“

Auf Nachfrage bestätigte die WHO gegenüber CORRECTIV, dass die aktuelle Pandemie keine Pseudo-Pandemie sei. Das lasse sich in einem Zeitstrahl nachvollziehen. 

Falsch-positive Tests in der Praxis laut Experten so gut wie ausgeschlossen

Wie CORRECTIV bereits für einen Faktencheck recherchiert hat, sind PCR-Tests auf SARS-CoV-2 sehr genau. Sie erkennen das Erbgut des Virus zuverlässig und haben eine hohe Spezifität. Spezifität bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass ein Test ein negative Probe korrekt als negativ erkennt. Fehler könnten hier zu falsch-positiven Ergebnissen führen. 

Der Youtuber bezieht sich in seinem Video auf ein mathematisches Problem, das tatsächlich existiert: Kommt das Virus in der Bevölkerung nur noch selten vor (niedrige Durchseuchung), sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Test ein korrektes Ergebnis liefert. Auch geringe Fehlerquoten fallen dann unter Umständen stärker ins Gewicht. 

Dabei handelt es sich jedoch um eine rein theoretische Annahme. In der Praxis sind falsch-positive Testergebnisse laut Experten sehr selten. Denn positive Testergebnisse werden in Deutschland in vielen Laboren nicht nur einmal, sondern mehrfach geprüft. CORRECTIV hat dazu einen ausführlichen Hintergrundbericht veröffentlicht. 

Während diese Tabelle eingeblendet wird, spekuliert der Youtuber über die Durchseuchung und PCR-Tests.
Während diese Tabelle eingeblendet wird, spekuliert der Youtuber über die Durchseuchung und PCR-Tests. (Screenshot: CORRECTIV)

3.2 Reagiert der PCR-Test positiv auf Papayas und Ziegen?

Zusätzlich stellt der Youtuber auch die Behauptung auf, dass in Tansania eine Papaya und eine Ziege positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Hierzu zeigt er im Video eine Ansprache von Tansanias Präsident John Magufuli, der genau das behauptet. Es gibt jedoch nach unseren Recherchen viele Gründe für Zweifel an dieser Aussage, und keine Belege. 

Unter anderem wurde der Corona-PCR-Test nur für den Gebrauch am Menschen entwickelt, nicht für den Gebrauch an Papayas. Er reagiert auf ganz bestimmte Sequenzen des Virus-Erbguts und hat – wie erwähnt – eine hohe Spezifität.   

Eine Papaya hat Corona? Das hat Tansanias Präsident John Magufuli behauptet.
Eine Papaya hat Corona? Das hat Tansanias Präsident John Magufuli behauptet. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)

Zwischenfazit: Die Aussage, dass die PCR-Tests eine Epidemie messen, die es gar nicht gibt, ist größtenteils falsch. 

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Behauptung 4: Die Maßnahmen gegen Covid-19 haben wenig bis keinen Effekt

Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt und Suizid – die Maßnahmen gegen das Virus würden mehr Schaden anrichten, als Virus es je könnte, wird in dem Video behauptet. Mit diesem Eindruck soll gegen Kontaktverbote, Maskenpflicht, Schulschließungen und Grenzschließungen Stimmung gemacht werden. 

Zuerst heißt es im Video-Abschnitt „Maßnahmen“, die WHO habe bereits im Jahr 2019 Schutzmaßnahmen wie Social Distancing, Schutzmasken und Schulschließungen untersucht. Sie soll damals, wie auch das European Center for Disease Control (ECDC), zu dem Ergebnis gekommen sein, dass diese wenig bis keinen Effekt haben.

4.1 Hat die WHO ihre Meinung über Schutzmasken, Schulschließungen und Social Distancing geändert? 

Die Studie der WHO von 2019 existiert, darin wird der damalige Forschungsstand in Bezug auf „nicht-pharmazeutische Maßnahmen“ während einer „epidemischen und pandemischen Influenza“ untersucht. Wir haben uns die Aussagen in der Studie zu Social Distancing, Maskenpflicht und Schulschließungen angesehen.

Zeigt die Studie, dass Social Distancing wenig bis keinen Effekt hat?

Laut der Studie der WHO waren bis zum damaligen Zeitpunkt nur begrenzt Daten verfügbar, inwiefern Abstandsregeln wirksam seien (Seite 43). Sie kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es gebe Hinweise darauf, dass Kontaktverfolgung, Quarantäne, Isolation und antivirale Medikamente in Kombination die Erkrankungsrate senken könnten. Andere Forscher hätten jedoch herausgefunden, dass es wegen prä- oder asymptomatischer Übertragung des Virus dennoch schwierig wäre, eine Influenzapandemie unter Kontrolle zu halten.

Zeigt die Studie, dass Schutzmasken wenig bis keinen Effekt haben?

Die WHO schrieb tatsächlich 2019 zur Maskenpflicht (Seite 6): „Es gibt eine Reihe hochwertiger randomisierter kontrollierter Studien, die zeigen, dass persönliche Maßnahmen (z. B. Händehygiene und Gesichtsmasken) bestenfalls einen geringen Einfluss auf die Übertragung haben, mit der Einschränkung, dass eine höhere Befolgung bei einer schweren Pandemie die Wirksamkeit verbessern könnte.“

Zeigt die Studie, dass Schulschließungen wenig bis keinen Effekt haben?

Entgegen der Behauptung im Video hat die WHO 2019 nicht angegeben, dass Schulschließungen keinen Effekt hätten (Seite 6). Im Gegenteil steht in der Studie: „Schulschließungen können die Übertragung verringern, müssten jedoch sorgfältig geplant werden, um die Minderungsziele zu erreichen, während möglicherweise ethische Fragen zu berücksichtigen sind.“

Tatsächlich ist der einzige Punkt, bei dem die WHO ihre Haltung geändert hat, das Tragen von Alltagsmasken – nachdem es anfänglich eher nicht befürwortet wurde, wird es jetzt ausdrücklich empfohlen, wenn Abstand nicht eingehalten werden kann. Auch das EDCD rät inzwischen dazu. 

4.2 Keine Rechtfertigung der Maßnahmen? 

Mit einer Reihe von Beispielen, die aufzeigen sollen, wie sehr Menschen unter der Corona-Krise leiden, versucht der Youtuber, die Nachteile der Maßnahmen in den Vordergrund zu stellen. Seine Meinung: „Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Rechtfertigung für Maßnahmen, die in die elementarsten Grundrechte von gesunden Menschen eingreifen.“ Eine solche subjektive Einschätzung ist nicht überprüfbar. 

Doch bei der Behauptung, die Maßnahmen hätten keinen Effekt, geht er von mehreren falschen und unbelegten Annahmen aus. 

Youtuber: „Die Maskenpflicht hat keine Auswirkung auf die Ausbreitung des Virus“

Zum einen behauptet der Youtuber, die Maskenpflicht habe keine Auswirkung auf die Ausbreitung des Virus gehabt. Dies soll mit einem Diagramm belegt werden, das die täglich gemeldeten Infektionsfälle zeigt. Am Tag nach der Einführung der Maskenpflicht (29. April) sinkt die Kurve ab – und fällt danach weiter. Das würde angeblich zeigen, dass die Maßnahmen keine Wirkung hätten, behauptet der Youtuber. Doch einen Beweis dafür liefert er nicht.

Der rote Pfeil im Diagramm zeigt auf den Tag an dem die Corona-Maßnahmen in Kraft traten. Das Diagramm soll beweisen, dass die Maßnahmen keine Auswirkungen gehabt hätten. Doch das tut es jedoch nicht.
Der rote Pfeil im Diagramm zeigt auf den Tag an dem die Corona-Maßnahmen in Kraft traten. Das Diagramm soll beweisen, dass die Maßnahmen keine Auswirkungen gehabt hätten. Das tut es jedoch nicht. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)

Laut einer im Juni veröffentlichten Studie sollen einfache Mund-Nasen-Masken durchaus eine Schutzwirkung gegen die Covid-19-Ausbreitung haben (CORRECTIV berichtete). Einige deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben dafür die Entwicklung der Infektionszahlen in Jena mit denen ähnlicher Städte verglichen. „Zusammenfassend kann man sagen, dass die Einführung der Maskenpflicht in den jeweiligen Kreisen zu einer Verlangsamung der Ausbreitung von Covid-19 beigetragen hat“, hieß es in einer Pressemitteilung

Was war die „Rechtfertigung“ für die Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus? 

Bund und Länder erklärten in ihrem Beschluss zu den Maßnahmen vom 15. April zur Maskenpflicht: „Sie schützen insbesondere die Umstehenden vor dem Auswurf von festen oder flüssigen Partikeln durch den (möglicherweise asymptomatischen, aber infektiösen) Träger der Masken. Insofern wird den Bürgerinnen und Bürgern die Nutzung entsprechender Alltagsmasken insbesondere im öffentlichen Personennahverkehr und beim Einkauf im Einzelhandel dringend empfohlen.“

Auch das RKI empfiehlt Masken unter anderem mit der Begründung, dass sie die Übertragung infektiöser Partikel mindern könnten: „Diese Empfehlung beruht auf einer Neubewertung aufgrund der zunehmenden Evidenz, dass ein hoher Anteil von Übertragungen unbemerkt erfolgt.“

Die Ansicht des Youtubers, dass die negativen Auswirkungen der Corona-Maßnahmen (Stress, Arbeitslosigkeit, Kontaktbeschränkungen) schwerer wiegen würden als die positiven Effekte, ist eine Meinung, die nicht mit Fakten belegbar ist. 

Der Deutsche Ethikrat befürwortete laut einer ad-hoc-Empfehlung am 27. März die „aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen, auch wenn sie allen Menschen in diesem Land große Opfer abverlangen“. Allerdings stellt der Rat dafür eine Bedingung: „Freiheitsbeschränkungen müssen jedoch kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden.“

4.3 Youtuber: Angeblich hat sich die Regierung nicht an „Zielvorgaben“ gehalten – doch solche gab es nie

Mit dem Beschluss bezüglich der Verbreitung des Coronavirus in Deutschland haben Bund und Länder am 15. April zahlreiche Maßnahmen umgesetzt. Darin hieß es: „Rechtzeitig vor dem 4. Mai werden die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder die Entwicklung des Infektionsgeschehens sowie die wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland gemeinsam erneut bewerten und im Lichte der Ergebnisse weitere Maßnahmen beschließen.“

Der Youtuber behauptet, die Regierung habe sich nicht an die „Zielvorgaben zur Beendigung der Maßnahmen“ gehalten. Das ist falsch. In ihrem Maßnahmen-Beschluss vom 15. April haben Bund und Länder erklärt, dass die im Beschluss beschriebenen Schritte zunächst bis zum 3. Mai gelten sollten. Gemeinsam wurden danach weitere Maßnahmen beschlossen.

4.4 Anwältin in Psychiatrie eingeliefert wegen Kritik an Maßnahmen?

Als Beispiel für die seiner Ansicht nach elementare Einschränkung der Grundrechte nennt der Student die Rechtsanwältin Beate Bahner. Er behauptet: Sie sei in die Psychiatrie gesteckt worden, weil sie gegen die Corona-Rechtsverordnungen vorging. 

Tatsächlich wird auch gegen Bahner ermittelt – weil sie auf ihrer Webseite vor Ostern öffentlich zu Demonstrationen und damit zum Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen aufgerufen hatte. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft hatte ihre kurzzeitige Einweisung in eine Psychiatrie damit aber nichts zu tun. Vielmehr hielten die Beamten es wegen ihres Verhaltens „für erforderlich, medizinische Hilfe einzuholen“, hieß es in einer Polizeimeldung.

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Gesamtfazit

In seinem Video will der Student Sebastian Götz auf Youtube davon überzeugen, dass die Maßnahmen der Regierung zum Schutz vor Covid-19 nicht gerechtfertigt waren. Belege für diese Behauptung liefert er jedoch nicht. Stattdessen interpretiert er Grafiken und Statistiken teils falsch oder ohne den nötigen Kontext. 

Zum einen argumentiert er, dass das Coronavirus nicht so gefährlich sei, sondern eher vergleichbar mit Influenza. Diese Vergleiche führen aber in die Irre. Das Fachmagazin The Lancet hat hier in einer Studie die beiden Infektionskrankheiten verglichen.

Das Video wurde zwar in Verbindung mit einer siebenseitigen Quellenliste veröffentlicht, doch diese enthält neben Primärquellen wie Berichten des RKI auch zahlreiche Youtube-Videos oder Medienberichte. 

Zudem zitiert Götz mehrere Mediziner, die ihrerseits in den vergangenen Wochen unbelegte Behauptungen über Covid-19 aufgestellt haben. Wir haben diese bereits in mehreren Faktenchecks überprüft. Dazu zählen unter anderem Wolfgang Wodarg, der in mehreren Videos behauptete, dass die Coronavirus-Pandemie Panikmache sei (zum Faktencheck). Darüber, welche Behauptungen der Internist Claus Köhnlein verbreitet, haben wir im Text „Die Stunde der fragwürdigen Youtube-Doktoren“ ausführlich berichtet.

Die zweite Haupt-Argumentationslinie des Youtubers ist, dass die Maßnahmen der Regierung nicht gerechtfertigt oder wirkungslos waren. Hier ist das Video stark von Meinungen geprägt. Es kann nicht beziffert werden, welche der Maßnahmen gegen das Coronavirus welchen Effekt hatte. Denn oft traten mehrere Maßnahmen zeitgleich in Kraft. Es gibt aber erste Studien dazu, dass zum Beispiel die Maskenpflicht einen Effekt auf die Ausbreitung des Coronavirus hat. Und: Es gibt bisher auch keine Belege für Götz Andeutungen, dass die Maßnahmen wirkungslos waren. 

Update, 10. September 2020: Wir haben den Absatz zur Kritik an der Berichterstattung während der Corona-Pandemie umformuliert. In einer älteren Version des Textes wurden die Studien von Michael Haller und Klaus Meier mit der wissenschaftlichen Inhaltsanalyse von Thorsten Quandt verglichen. Das ist jedoch nicht möglich, da sich die Methodik der Studien stark unterscheidet. Zudem haben wir ein Zitat zur Einordnung von Professor Klaus Meier ergänzt.