Faktencheck

Angeblicher Whistleblower-Bericht aus Berliner Pflegeheim führt in die Irre – verstorbene Bewohner hatten Covid-19

Ein Bericht eines angeblichen Insiders über das „schreckliche Sterben“ in einem Berliner Pflegeheim nach der Corona-Impfung geht viral. Er enthält mehrere Unterstellungen, die der Betreiber jedoch zurückweist. Die sechs verstorbenen Menschen in dem Heim waren demnach an Covid-19 erkrankt.

von Alice Echtermann

Impfungen im Pflegeheim
Irreführende Schilderungen über Covid-19-Impfungen von Menschen in einem Altenheim in Berlin verbreiten sich derzeit im Internet viral. (Symbolfoto: picture alliance / DPA / Sebastian Gollnow)
Behauptung
Infolge von Covid-19-Impfungen seien acht Senioren in einem Pflegeheim in Berlin gestorben. Das Heim habe über die Impfung nicht ausreichend aufgeklärt und Zwang auf die Bewohner ausgeübt. 
Bewertung
Größtenteils falsch
Über diese Bewertung
Größtenteils falsch. Es starben sechs Menschen in dem Heim, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. Die Anschuldigungen sind unbelegt, der Betreiber der Einrichtung dementiert.  

Am 12. Februar veröffentlichte die Webseite 2020News einen Artikel mit dem Titel „Whistleblower aus Berliner Altenheim: Das schreckliche Sterben nach der Impfung“. Ganz oben im Text befindet sich ein Video der „Stiftung Corona-Ausschuss“, in dem die Frage „Impftod in Berliner Altenheim?“ gestellt wird. Der Bericht ist nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck irreführend. Er enthält falsche und unbelegte Behauptungen. 

In dem Bericht geht es um acht Todesfälle in dem Pflegeheim „Agaplesion Bethanien Havelgarten“ in Berlin, die angeblich durch den Impfstoff Comirnaty (von Biontech/Pfizer) verursacht wurden. 31 Personen seien geimpft worden, die zwar an Demenz litten, aber sonst in gutem Zustand gewesen seien. Zudem wird dem Heim mangelnde Aufklärung, ein grober Umgang mit den Bewohnern (Zwang) und Einschüchterung durch die Anwesenheit der Bundeswehr vorgeworfen. 

Der Artikel von 2020News wurde laut dem Analysetool Crowdtangle mehr als 4.300 Mal auf Facebook geteilt. Zudem wurden dieselben Behauptungen auch auf den Webseiten Wochenblick, Corona-Blog, Journalistenwatch und auf Telegram, zum Beispiel in dem Kanal des Rechtsanwalts Reiner Fuellmich, verbreitet. Bei Wochenblick ist die Rede von „verheerenden Folgen“ der Covid-19-Impfung auf Bewohner eines Pflegeheims.

Diakonie: Verstorbene hatten Covid-19

CORRECTIV.Faktencheck hat bei dem Betreiber des Pflegeheims, der Agaplesion Bethanien Diakonie, nachgefragt und erfahren, dass sechs Bewohnerinnen und Bewohner nach einer Covid-19-Infektion starben. Das hat uns auch das zuständige Gesundheitsamt Berlin-Spandau bestätigt. 

Diese Infektionen werden in manchen der Berichte gar nicht erwähnt, in anderen nur am Rande mit dem Zusatz, der Test sei nach der Impfung „plötzlich“ positiv ausgefallen. Damit wird suggeriert, der Impfstoff könnte der Grund für den positiven Corona-Test sein – das ist jedoch höchst unwahrscheinlich (mehr dazu später). 

Laut einer E-Mail des Pressesprechers erreichten das Unternehmen als Reaktion auf den „Whistleblower-Bericht“ bereits Morddrohungen und Beschimpfungen. Es ist in ausführlichen Fragen und Antworten auf die Vorwürfe eingegangen, die wir hier im Original zur Verfügung stellen.

Auszug aus der Stellungnahme der Agaplesion Bethanien Diakonie
Auszug aus den Fragen und Antworten der Agaplesion Bethanien Diakonie (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Der Ablauf der Impfungen im Pflegeheim „Agaplesion Bethanien Havelgarten“:

Laut Agaplesion Bethanien Diakonie wurden am 27. und 29. Dezember alle Bewohnerinnen und Bewohner negativ auf das Coronavirus getestet. Am 3. Januar erhielten 32 von 35 Bewohnern des Wohnbereichs für Menschen mit Demenz die erste Impfung mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer.

Zwischen dem 4. und 9. Januar seien dann bei erneuten Schnelltests und „zeitgleich mit dem Erkennen von möglichen Corona-Symptomen“ 13 Personen in diesem Demenz-Wohnbereich positiv auf das Coronavirus getestet worden. Die ersten Covid-19-Symptome seien am 4. Januar aufgetreten. Von den infizierten Menschen seien im Laufe des Januars sechs gestorben, sieben seien wieder genesen.  

Die zweite Impfung im Wohnbereich für Demenz wurde am 24. Januar durchgeführt; es wurden dabei 24 Menschen geimpft. Bei zwei Personen sei die zweite Impfung wegen des Gesundheitszustandes nicht durchgeführt worden. 

Betreiber bestreitet Vorwürfe von Zwang oder mangelnder Aufklärung

Bei den Impfungen sei es „zu keiner Zeit zu übergriffigen Handlungen oder Zwängen“ gekommen, betont die Diakonie. Die Bewohner oder ihre Angehörigen und Betreuer hätten noch vor Weihnachten einen Aufklärungsbogen und ein Einwilligungsformular erhalten. Geimpft wurden nur die, die die Einwilligung erteilten. Es seien, anders als zum Beispiel bei 2020News behauptet wird, auch keine „alten Unterlagen“ zur Aufklärung verwendet worden. 

Zur Unterstützung des Amtsarztes sei bei der ersten Impfung ein Bundeswehrsoldat mit einem Einwegkittel bekleidet anwesend gewesen – nicht zwei, wie es in den Berichten heißt. Der Soldat habe „zu keiner Zeit direkten Kontakt zu Bewohnerinnen und Bewohnern“ gehabt, sondern nur dokumentiert. Bei der zweiten Impfung im Pflegeheim sei kein Soldat anwesend gewesen. Die Anwesenheit eines Bundeswehrsoldaten sei bei mobilen Impfteams üblich. Darüber, dass das auch in Berlin der Fall ist, berichtet die Bundeswehr auf ihrer eigenen Webseite.  

Diakonie spricht von typischen Impfreaktionen wie Kopfschmerzen und Müdigkeit

In dem „Whistleblower-Bericht“ wurde auch behauptet, dass die zweite Impfung stets „ohne Vorwarnung“ geschehen sei. Das sei falsch, schreibt die Agaplesion Bethanien Diakonie: „Die zweite Impfung war wie die erste Impfung geplant (konkret 21 Tage nach der Erstimpfung) und bekannt.“ 

Von den in den Berichten erwähnten angeblichen Symptome von „Fieber, Ödeme, Hautausschlag, Muskelzittern am Oberkörper und Armen, Wesensveränderungen, Müdigkeit, Juckreize, Schlappheit, Schnappatmung und Herzrasen“ berichtet die Diakonie nicht. Es habe bei den Bewohnerinnen und Bewohnern „leichte Symptome von Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schmerzen an der Einstichstelle“ gegeben, teilte das Unternehmen mit. „Hierbei handelt es sich um die im Aufklärungsmerkblatt angegebenen typischen Impfreaktionen.“ 

Die Schilderungen der Diakonie widersprechen also der in den Berichten aufgestellte Behauptung, es habe acht Todesfälle als Folge der Impfung gegeben. Zu dem Unterschied der Zahlen (sechs und acht) teilte uns Pressesprecher Andreas Wolff per E-Mail mit, ihm seien nur die sechs an Covid-19 erkrankten und daraufhin verstorbenen Menschen bekannt. 

Kann eine mRNA-Impfung einen Schnelltest positiv ausfallen lassen?

Bei Wochenblick und 2020News heißt es, die Bewohner hätten nach der Impfung „plötzlich“ positive Testergebnisse gehabt, aber keinerlei typische Covid-19-Symptome. Der Teil mit den Symptomen stimmt nach Angaben des Pflegeheim-Betreibers nicht. 

Ein Zusammenhang zwischen den positiven Tests und den Impfungen ist zudem extrem unwahrscheinlich. Dazu muss man wissen: Der Impfstoff von Biontech/Pfizer enthält selbst keine Viren (weder „lebend“ noch abgeschwächt). Es handelt sich um einen mRNA-Impfstoff. Er enthält lediglich die genetische Information für ein Oberflächenprotein des Coronavirus. Diese Information wird von menschlichen Zellen ausgelesen, und die Zelle produziert daraufhin nur dieses Spike-Protein (S-Protein) – und nicht den kompletten Erreger. Das Immunsystem entwickelt dann Abwehrstoffe gegen das Virusprotein. 

Nun reagieren Antigen-Schnelltests tatsächlich auf Virus-Proteine. Doch wie auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) erklärt wird, nutzen die meisten in Deutschland verwendeten Antigen-Schnelltests dafür nicht das S-Protein, sondern das Nucleocapsid-Protein (N-Protein). „Selbst wenn der Antigentest das S-Protein nachweisen sollte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass in der Schleimhaut des Nasen-Rachenraums nach Impfung eine ausreichende Menge an S-Protein vorliegt, um vom Antigentest erfasst zu werden.“

Schutzwirkung der Covid-19-Impfung tritt nicht sofort ein

Es ist möglich, sich mit dem Virus SARS-CoV-2 zu infizieren und krank zu werden, obwohl man bereits die erste Impfdosis erhalten hat. Über ähnliche Fälle haben wir bereits berichtet. Die Schutzwirkung der Impfung tritt laut Robert-Koch-Institut erst etwa zehn Tage nach der ersten Impfdosis ein. Für einen kompletten Schutz seien bei dem Pfizer/Biontech-Impfstoff zwei Impfdosen im Abstand von mindestens drei Wochen nötig.  

In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Immunologie von Anfang Januar 2021 heißt es zum Biontech-Impfstoff: „Der Impfschutz beginnt frühestens 14 Tage nach der ersten Impfung und die hohe Effizienz von 94% bzw. 95% wurde erst ab Tag 7 bzw. 14 nach der zweiten Impfung dokumentiert.“

Im Fall des Berliner Pflegeheims lag zwischen der ersten Impfung (3. Januar) und den ersten Corona-Symptomen (4. Januar) nur ein Tag. Der letzte negative Corona-Test aller Bewohner lag zu diesem Zeitpunkt bereits mindestens fünf Tage zurück (getestet wurde am 27. und 29. Dezember 2020). Es ist also möglich, dass sich jemand in der Zwischenzeit infiziert hat. 

Auf der Webseite der BZGA wird erklärt, dass ein positiver Schnelltest nach einer Impfung folgende Ursachen haben könne: Entweder sei die geimpfte Person bereits vor der Impfung infiziert gewesen und befand sich in der Inkubationszeit (die durchschnittlich fünf bis sechs Tage dauert), oder die Person hat sich kurz nach der Impfung angesteckt. 

Gesundheitsamt Berlin-Spandau: Keine Verbindung von Todesfällen zur Impfung

Amtsärztin Gudrun Widders vom Gesundheitsamt Berlin-Spandau bestätigte uns auf Nachfrage telefonisch, dass die Covid-19-Fälle aus dem Pflegeheim beim Gesundheitsamt gemeldet wurden. Alle sechs Verstorbenen seien Frauen und sehr alt gewesen – die jüngste war 1942 geboren, die älteste 1922. Alle seien wenige Tage nach der ersten Impfung mit PCR-Tests positiv getestet worden und dann in unterschiedlichem zeitlichem Abstand gestorben. 

Schon vor der Impfung habe es in dem Pflegeheim offenbar ein Ausbruchsgeschehen gegeben, erklärte Widders. Der erste Corona-Fall von dort sei am 23. Dezember 2020 gemeldet worden, der letzte am 17. Januar. „Es wurde hier in die Inkubationszeit hinein geimpft“, sagte Widders. In so einem Fall könne die Impfung die Erkrankung nicht verhindern. Die Todesfälle seien nicht auf die Impfung, sondern auf Covid-19 zurückzuführen.

Nach Aussage des Pressesprechers der Agaplesion Bethanien Diakonie konnte der angebliche „Whistleblower“ bisher nicht identifiziert werden.

Die Stiftung Corona-Ausschuss wird unter anderem von dem Rechtsanwalt Rainer Fuellmich geleitet, der bereits mehrfach durch irreführende Behauptungen zur Corona-Pandemie aufgefallen ist (hier und hier). Die Rechtsanwältin Viviane Fischer, die auch in der Leitung des Ausschusses sitzt, verantwortet die Webseite 2020News. Diese tauchte in unseren Recherchen ebenfalls bereits mit Fehlinformationen auf. 

Update, 19. Februar 2021: Wir haben im Text die Informationen vom Gesundheitsamt Berlin-Spandau ergänzt.

Redigatur: Sarah Thust, Till Eckert

Die wichtigsten Quellen für diesen Faktencheck:

  • Stellungnahme der Agaplesion Bethanien Diakonie: PDF zum Download
  • Informationen zur Funktionsweise von mRNA-Impfstoffen: Link 
  • Informationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Corona-Schutzimpfung und Antigentests: Link