Faktencheck

Benfordsches Gesetz: Nein, Analyse von Goerres und Breunig belegt keinen „systematischen Wahlbetrug“ bei Bundestagswahlen

In Sozialen Netzwerken wird immer wieder behauptet, eine mathematische Analyse zweier Politikwissenschaftler von 2011 belege, dass es bei vergangenen Bundestagswahlen zu systematischem Wahlbetrug gekommen sei. Das stimmt nicht, die Ergebnisse werden falsch interpretiert.

von Uschi Jonas

Seit Jahren kursieren Meldungen im Netz, die eine wissenschaftliche Analyse vergangener Bundestagswahlen falsch interpretieren. Die Autoren betonen, dass ihre Analyse keine Hinweise auf „Wahlbetrug“ liefert. (Symbolbild: Picture Alliance/ Nordphoto GmbH/ Hafner)
Seit Jahren kursieren Meldungen im Netz, die eine wissenschaftliche Analyse vergangener Bundestagswahlen falsch interpretieren. Die Autoren betonen, dass ihre Analyse keine Hinweise auf „Wahlbetrug“ liefert. (Symbolbild: Picture Alliance/ Nordphoto GmbH/ Hafner)
Behauptung
Eine Studie beweise, dass Wahlfälschung in Deutschland keine Ausnahme, sondern die Regel sei.
Bewertung
Falsch. Die Ergebnisse der mathematischen Analyse von 2011 werden falsch interpretiert. Die Autoren haben keine Hinweise auf systematischen Wahlbetrug bei Bundestagswahlen geliefert.

Seit Jahren wird immer wieder eine wissenschaftliche Analyse als angeblicher Beweis herangezogen, dass bei den Bundestagswahlen zwischen 1990 und 2005 „systematisch manipuliert“ worden sei. Auch aktuell, kurz vor der Bundestagswahl 2021, wird die Behauptung wieder verbreitet, zum Beispiel auf Twitter und Facebook

Die Analyse hat den Titel „Auf der Suche nach Wahlunregelmäßigkeiten in einer etablierten Demokratie: Die Anwendung des Benford’s Law Test auf Bundestagswahlen in Deutschland“. Doch sowohl die Autoren, als auch die Bundesregierung und der Bundeswahlleiter widersprechen der Behauptung, dass sich daraus ein Hinweis auf systematischen Wahlbetrug ableiten lasse. In Blog-Artikeln werden die Ergebnisse der Analyse falsch dargestellt. Beispielsweise bei „Der Wächter“, dessen Artikel von 2016 bis heute mehr als 51.000 Mal auf Facebook geteilt wurde. 

Der wissenschaftliche Artikel wurde 2011 von Achim Goerres, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, und Christian Breunig, Professor für Vergleichende Politikwissenschaftlichen an der Universität Konstanz, veröffentlicht. 

Missverständnis beruht vermutlich auf Formulierungen in der Zusammenfassung der Analyse

In ihrer Analyse haben die beiden Autoren mögliche Unregelmäßigkeiten bei den Bundestagswahlen zwischen 1990 und 2005 in der Bundesrepublik untersucht. Für die Untersuchung nutzten sie ein mathematisches Gesetz (Benfordsches Gesetz), mit dem sich Unregelmäßigkeiten in Statistiken aufspüren lassen. Die Autoren schreiben zu ihrer Vorgehensweise: „Auf der Grundlage des Second Digit Benford Law (2BL) von Mebane (2006) besteht die Analyse darin, die beobachteten Häufigkeiten der Ziffern von Kandidaten- und Parteistimmen auf Wahlkreisebene mit den erwarteten Häufigkeiten nach dem Benfordschen Gesetz zu vergleichen.“

Im Ergebnis gebe es „keine Hinweise auf systematischen Betrug oder Missmanagement bei den Kandidatenstimmen aus Bezirken, in denen Betrug am ehesten möglich wäre“, heißt es in der Zusammenfassung des Artikels. Man habe auf der Ebene der Bundesländer 51 „Verstöße“ bei 190 „Tests“ von Listen-Wahlstimmen gefunden. 

Diese sind jedoch nicht als Belege für systematischen Wahlbetrug zu verstehen, wie die Autoren selbst schreiben. Der Text ist online nicht in voller Länge kostenlos lesbar. Er liegt CORRECTIV.Faktencheck jedoch vor. In der Zusammenfassung ist von „violations“ (Verstößen) die Rede, was vermutlich zu der falschen Interpretation führte, dass die Analyse zahlreiche Wahlfälschungen in Deutschland belegt habe. Tatsächlich bezieht sich das Wort jedoch lediglich auf „Verletzungen“ des mathematischen Benfordschen Gesetzes.

Goerres, einer der beiden Autoren, erklärte 2013 in einem Beitrag auf der Webseite der Universität Duisburg-Essen: „Eine Verletzung bedeutet eine statistische Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent, dass die Verteilung tatsächlich nicht dem Benfordschen Gesetz entsprach“.  

Benfordsches Gesetz liefert keine Belege oder Erklärungen für statistische Abweichungen

Zu den Auffälligkeiten bezüglich der Listenwahl-Stimmen schreiben sie in ihrer Analyse: „Wie könnte das beschriebene Muster von Verstößen erklärt werden? Eine Verteilungsanalyse auf der Grundlage des Benfordschen Gesetzes kann uns bei der Beantwortung dieser Frage nicht helfen.“ Die Analyse erkennt also nur Abweichungen vom Benfordschen Gesetz in den Daten – sie liefert keine Erklärung, was diese Abweichungen verursacht hat. 

Die Autoren schreiben, dass es verschiedene Gründe geben könnte, über die sie nur spekulieren können; darunter menschliche Fehler bei der Stimmenauszählung oder regionale Dominanz einzelner Parteien. 

Goerres schrieb 2013, Indizien für Wahlbetrug habe es in der Analyse „nur in einem einzigen Kontext“ gegeben: Bei der Bundestagswahl 2002 habe es viele Verletzungen des Benfordschen Gesetzes für die Wahlergebnisse der PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus, bis 2007) in den neuen Bundesländern gegeben. Die vorgefundene Häufigkeit könne bedeuten, dass „zugunsten oder zuungunsten der PDS ausgezählt worden sein könnte“, so Goerres. 

Forscher sehen keinen „Anlass zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlauszählung“

Alle anderen Tests, vor allem bei den Direktkandidaten, bei denen eine falsche Auszählung der Erststimmen direkten Einfluss auf einen Sitz im Parlament gehabt hätte, hätten keine systematischen Probleme gezeigt, so Goerres.

Er merkt zudem an: „Je dominanter eine Partei in einem Bundesland ist, desto wahrscheinlicher sind Verletzungen des Gesetzes. Diese Muster verlangen weitere Forschung, weil sie beispielsweise auf Qualitätsunterschiede in der Auszählung aufgrund der Zusammensetzung der Wahlhelfer zurückgehen könnten.“ 

Insgesamt würden die Ergebnisse der Tests „wenig Grund zur Beunruhigung“ liefern, so Guerres. Dafür, dass der Wahlprozess in Deutschland sehr komplex und vielschichtig ist, habe es erstaunlich wenige Verletzungen des Benfordschen Gesetzes gegeben. Die Analyse sei kein „Anlass zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlauszählung“.

Auf Anfrage von Bildblog bestätigte Goerres 2016 erneut, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse falsch wiedergegeben wurden und „gerne von extremen Parteien für Verschwörungstheorien herangezogen würden“.

Abweichungen vom Benfordschen Gesetz sind kein Beleg für Wahlbetrug

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Mai 2011, wie die Bundesregierung die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse beurteile, antwortete der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder (CDU), in einer Sitzung des Deutschen Bundestags: „Abweichungen in der sogenannten Benford’schen Verteilung können (…) allenfalls spekulative Hinweise auf mögliche Unregelmäßigkeiten liefern.“ Eine fehlerhafte Ermittlung von Wahlergebnissen sei damit nicht belegt, ebenso wenig wie „eine vorsätzliche Herbeiführung falscher Wahlergebnisse in manipulativer Absicht“. 

Weiter sagte Schröder: „Anhaltspunkte für bewusst herbeigeführte Unregelmäßigkeiten bei der Ergebnisfeststellung von Bundestagswahlen haben weder der Bundesregierung noch dem Bundeswahlleiter jemals vorgelegen.“

Redigatur: Sarah Thust, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Wissenschaftlicher Artikel: „Auf der Suche nach Wahlunregelmäßigkeiten in einer etablierten Demokratie: Die Anwendung des Benfordsches-Gesetz-Tests auf Bundestagswahlen in Deutschland“ von Christian Breunig und Achim Goerres von 2011: Link
  • Erklärung zur Analyse, „Wahlbetrug bei Bundestagswahlen?“ von Achim Goerres vom 4. November 2013: Link
  • Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestags am 11. Mai 2011: Link