Nein, Daten aus Großbritannien zeigen nicht, dass die Covid-19-Impfung das Immunsystem „langfristig zerstört“
In einem Blog wird behauptet, Daten aus dem Wochenbericht der U.K. Health Security Agency zeigten, dass die Covid-19-Impfung zu einer langfristigen Zerstörung des Immunsystems führe. Das stimmt nicht, Teile des Berichts wurden falsch interpretiert.
„Nun schwarz auf weiß: Corona-Impfung zerstört langfristig das Immunsystem!“, titelte der Blog Unser Mitteleuropa am 15. November 2021. In dem Artikel wird behauptet, die mRNA-Impfung gegen das Coronavirus führe zu einer langfristigen Zerstörung des menschlichen Immunsystems. Grundlage für die Behauptung soll ein Wochenbericht der U.K. Health Security Agency sein. Der Blogartikel wurde laut dem Analysetool Crowdtangle bisher fast 4.500 Mal geteilt (Stand 13. Dezember).
Der rechte Blog verbreitet nicht zum ersten Mal irreführende oder falsche Informationen. Wir haben bereits Behauptungen des Blogs über die Covid-19-Impfungen und den Corona-Lockdown geprüft.
Auch die aktuell verbreitete Behauptung ist falsch: Die Daten, auf die sich der Artikel bezieht, stammen von Antikörpertests, die bei Blutspenderinnen und Blutspendern in England durchgeführt wurden. Dort fand man nach Impfdurchbrüchen, also bei infizierten Geimpften, geringere Werte spezieller Antikörper als bei ungeimpften Menschen, die an Covid-19 erkrankten. Wie uns eine Pressesprecherin der U.K. Health Security Agency schreibt, sind die Befunde jedoch nicht überraschend: Sie weisen auf mildere Krankheitsverläufe bei geimpften Personen hin, bei denen weniger Antikörper gebildet werden, und haben nichts mit einer Zerstörung des Immunsystems zu tun.
U.K. Health Security Agency untersucht Blut von Spenderinnen und Spendern auf Antikörper
Der Blog-Eintrag von Unser Mitteleuropa bezieht sich auf einen Bericht der U.K. Health Security Agency aus der 42. Kalenderwoche (18. bis 24. Oktober 2021). Die Behörde veröffentlicht jede Woche einen Covid-19-Lagebericht für Großbritannien. Der Bericht ähnelt dem Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI).
Seit Juli 2020 untersucht die U.K. Health Security Agency das Vorkommen von Antikörpern in der Bevölkerung. Konkret werden Blutspenderinnen und Blutspender aus England, die über 17 Jahre alt sind, untersucht. Neue Daten werden monatlich in dem U.K. Health Security Agency Wochenbericht veröffentlicht, im Abschnitt „Seroprevalence“; auf Deutsch: Seroprävalenz. Ähnliche Antikörper-Studien werden auch in Deutschland durchgeführt.
Laut dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung bezeichnet die Seroprävalenz die Häufigkeit spezifischer Antikörper im Blutserum, die auf eine bestehende oder durchgemachte Infektionskrankheit hinweisen.
Es wurden zwei verschiedene Formen von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 gemessen
Antikörper sind ein wichtiger Teil des Immunsystems und neutralisieren Krankheitserreger wie Bakterien oder Viren. Man kann sie nachträglich im Blut von infizierten oder geimpften Menschen nachweisen.
Für den Nachweis von Antikörpern bei Blutspenderinnen und Blutspendern in England werden zwei verschiedene Antikörper-Tests durchgeführt. Der „Nucleoprotein (Roche N) antibody assay“ weist Antikörper gegen das sogenannte Nukleokapsid-Antigen nach. Das sind Antikörper, die nach einer Infektion mit Covid-19, nicht aber nach einer Impfung, gebildet werden können. Der zweite Test, „Roche spike (S) antibody assay“, weist Antikörper gegen das Spike-Proteins des Virus nach und lässt Rückschlüsse auf eine Immunantwort nach einer Infektion oder einer Impfung gegen Covid-19 zu.
Zum Verständnis: Das Spike-Protein sitzt auf der Oberfläche des Coronavirus und sorgt dafür, dass es an menschliche Zellen andocken und diese infizieren kann. Die aktuell in Europa zugelassenen mRNA- und Vektorimpfstoffe basieren alle auf diesem Spike-Protein. Nach einer Impfung können also nur Antikörper gegen das Spike-Protein und nicht gegen das Nukleokapsid-Protein vorhanden sein. Hat eine geimpfte Person trotzdem solche „N-Antikörper“, bedeutet das, dass sie sich infiziert hat.
Die Unterscheidung der beiden Antikörpertests ist wichtig, da sich die Behauptungen von Unser Mitteleuropa nur auf Erkenntnisse über den ersten N-Antikörper-Test beziehen. Diese Ergebnisse aus dem Bericht der U.K. Health Security Agency werden durch den Blog jedoch falsch interpretiert. Daten aus den Testungen mit dem zweiten Spike-Antikörper-Test werden zudem ignoriert.
Großteil der Tests in England ist positiv auf S-Antikörper, die sowohl durch Impfungen als auch Infektionen gebildet werden
Zwischen dem 16. August und 10. Oktober wurden bei 18,7 Prozent der Blutspenderinnen und Blutspender in England N-Antikörper nachgewiesen, die ausschließlich auf eine Infektion mit Covid-19 hindeuten. Bei 98 Prozent der Personen wies man S-Antikörper mit dem zweiten Test nach, das deutet auf eine Antikörperbildung durch eine Infektion oder eine Impfung hin.
Die laufende Impfkampagne hat laut dem Bericht der U.K. Health Security Agency zu dieser hohen Zahl stark beigetragen. In Großbritannien sind etwa 81 Prozent der Menschen über 12 Jahren mindestens zweimal geimpft. Je mehr Altersgruppen Zugang zu der Impfung erhielten, desto mehr S-Antikörper konnten mit Hilfe des zweiten Tests seit Dezember 2020, also dem Start der Impfkampagne, nachgewiesen werden.
Blog zieht falsche Schlüsse aus N-Antikörperwerten
Die Behauptung von Unser Mitteleuropa bezieht sich auf Antikörperwerte, die nach sogenannten Impfdurchbrüchen nachgewiesen wurden (N-Antikörper). Konkret zitiert der Blog einen Satz von Seite 23 des Berichts. Dort heißt es, dass bei Menschen, die nach vollständiger Impfung an Covid-19 erkrankten, die N-Antikörperwerte geringer seien. Das beweise angeblich die „Zerstörung des Immunsystems“ durch die Covid-19-Impfung, da „die natürlich produzierten Antikörper des Immunsystems gegen ein Virus (vor allem eine Mutation) unter doppelt Geimpften spürbar abnehmen“.
Diese Schlussfolgerung ist jedoch falsch.
Geringe N-Antikörperwerte nach Impfdurchbrüchen weisen auf mildere Verläufe hin – kein Beleg für „Zerstörung“ von Immunsystem
Was bedeuten die im Vergleich geringeren N-Antikörperwerte nach Impfdurchbrüchen? Eine Pressesprecherin der U.K. Health Security Agency antwortet uns per E-Mail: „Das ist nicht überraschend, da bei milderen Krankheitsverläufen die Antikörperantwort geringer ist, und schwere Krankheitsverläufe bei Impfdurchbrüchen unwahrscheinlicher sind.“
Mit der Frage, wie der Schweregrad der Erkrankung und die Antikörperantwort bei Covid-19 zusammenhängen, befasste sich letztes Jahr auch ein Forschungsteam des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts. Es kam zu dem Schluss, dass nach einer leichteren Erkrankung mit Covid-19 weniger neutralisierende Antikörper zu finden sind.
Unser Mitteleuropa lässt zudem die Antikörperwerte gegen das Spike-Protein außer Acht, die mit dem zweiten Antikörpertest nachgewiesen wurden. Dazu schreibt uns die Pressesprecherin von der U.K. Health Security Agency: „S-Antikörper bei Geimpften sind nach einer Infektion oft extrem hoch, weit über dem Wert derer, die eine Infektion ohne eine Impfung überstehen.“
Covid-19-Impfung schützt wirksam – allerdings fällt der Antikörperspiegel mit der Zeit ab
Die bisher verfügbaren Daten zeigen, dass die Covid-19-Impfungen das Risiko für schwere Krankheitsverläufe stark verringern. Das heben auch der Bericht der U.K. Health Security Agency und die Pressesprecherin hervor. Es ist laut der Sprecherin aber noch unklar, was die verschiedenen Antikörperwerte für einen kurz- und langfristigen Schutz bedeuten.
Seit dem 18. November empfiehlt die Ständige Impfkommission in Deutschland Auffrischungsimpfungen für alle Über-18-Jährigen, da der Impfschutz mit der Zeit nachlasse.
Zum Thema nachlassende Schutzwirkung schreibt die Bundesregierung zudem auf ihrer Webseite: „Die Impfung schützt, auch wenn nach einer gewissen Zeit der Antikörperspiegel abfällt. Mit einer Impfung werden neben den Antikörpern auch Immunzellen trainiert, die Corona-infizierte Zellen erkennen und zerstören können. Auch wenn diese erzeugten Antikörperspiegel nach der Impfung nach einigen Monaten abfallen können, kann eine schützende Immunantwort durch eine Impfung erreicht werden. Die Behauptung, dass in dem Fall die Schutzimpfung nicht mehr wirkt, ist falsch. Wie lange der Schutz anhält, wird durch klinische Prüfungen auch nach einer Zulassung weiter ermittelt.“
Fazit: Die Behauptung, dass die Daten aus Großbritannien zeigten, dass das Immunsystem durch eine Covid-19-Impfung „zerstört“ werde, ist falsch. Geringere N-Antikörperwerte nach Impfdurchbrüchen bedeuten nicht, dass das Immunsystem von Geimpften weniger gut auf das Virus reagiert. Sie verweisen vielmehr auf mildere Krankheitsverläufe, bei denen weniger Antikörper gebildet werden.
Immer wieder wird behauptet, die Impfung habe negative Auswirkungen auf das Immunsystem. Faktenchecks zu dem Thema haben wir auch hier, hier, hier und hier veröffentlicht.
Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann