Faktencheck

Butscha: Aufnahmen belegen Behauptungen zu fehlenden Totenflecken und Leichenstarre nicht

Ein Video aus Butscha soll belegen, dass die Leichen, die dort gefunden wurden, weder Leichenstarre noch Totenflecken aufweisen würden. Die Aufnahmen sind für diese Behauptungen jedoch nicht aussagekräftig.

von Steffen Kutzner

War crisis continues in Bucha, Ukraine - 3 Apr 2022
Ein ukrainischer Soldat am 3. April in einer Straße in der zerstörten Stadt Butscha in der Nähe von Kiew (Quelle: Picture Alliance / Zumapress.com / Matthew Hatcher)
Behauptung
Ein Video belege, dass die in Butscha gefundenen Leichen nach vier Tagen Liegezeit Leichenstarre und Totenflecke aufweisen müssten, was jedoch nicht der Fall gewesen sei.
Bewertung
Falscher Kontext
Über diese Bewertung
Falscher Kontext. Das Video ist für die Behauptungen nicht aussagekräftig, da sich damit weder Leichenstarre noch Totenflecke belegen oder widerlegen lassen. Rechtsmediziner schätzen die Liegezeit der Leichen in Butscha auf mehrere Tage. Berichte belegen zudem, dass bereits Anfang März tote Menschen in den Straßen lagen.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um die Folgen von Gewalt. 

„Alle Leichen der Menschen, deren Bilder vom Kiewer Regime veröffentlicht wurden, sind nach mindestens vier Tagen des russischen Abzugs immer noch nicht erstarrt, weisen keine charakteristischen Leichenflecken und trockene Wunden auf“, wird am 3. April auf dem Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ und in Beiträgen auf Facebook behauptet. Dazu wird ein Video geteilt, das mehrere tote Menschen in den Straßen Butschas nach dem Abzug russischer Truppen zeigt. So wird suggeriert, die Menschen in dem Video seien erst gestorben, als die russischen Streitkräfte die Stadt wieder verlassen hatten. Auch die russische Botschaft in Deutschland stellte die These in einer Pressemitteilung auf und spricht von einer „Inszenierung“. 

Ob die Leichen jedoch erstarrt waren oder Totenflecke aufwiesen, geht aus dem geteilten Video gar nicht hervor. Fest steht: Es gibt ausreichend Belege, dass die Menschen während des russischen Angriffs starben.  

Wie wir bereits recherchierten, ist in dem Video die Yablunska-Straße in Butscha zu sehen. Am 30. März hatten sich die russischen Streitkräfte Berichten zufolge aus Butscha zurückgezogen, nachdem dort wochenlang Kämpfe stattgefunden hatten. Am 3. April gingen dann Berichte von hunderten Leichen auf Butschas Straßen um die Welt. 

Wie entstehen Totenflecken?

Doch was lässt sich tatsächlich auf dem geteilten Video erkennen? Wir haben uns zunächst bei Rechtsmedizinern nach den „Leichenflecken“ erkundigt. Matthias Graw, Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, erklärt uns, dass Totenflecke „durch ‚Absacken‘ des Blutes in den Gefäßen“ ab etwa 30 Minuten nach dem Tod entstehen. Sie seien, bedingt durch die Schwerkraft, im tiefsten Punkt des Körpers zu finden. Man könne sie jedoch durch Kleidung verdecken. 

Das bestätigt auch Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Bezogen auf die Leichen in Butscha erklärt sie, dass Leichenflecke „bei einem Leichnam in Rückenlage am Rücken und den rückseitigen Armen und Beinen“ zu finden wären.

In dem Video, das auf Telegram als vermeintlicher Beweis dafür geliefert wird, dass die Leichen in Butscha keine Totenflecke aufweisen würden, sind alle Leichen vollständig bekleidet und werden auch nicht umgedreht. Totenflecke kann man auf dem Video also ohnehin nicht erkennen, weil sie sich zum einen auf der Unterseite der toten Körper befinden, zum anderen weil sie durch Kleidung verdeckt werden. 

Leichenstarre in den Videos aus Butscha ist nicht zu beurteilen

Das auf Telegram verbreitete Video soll außerdem beweisen, dass die Leichen von Butscha keine Leichenstarre aufweisen würden und das, laut der Beiträge, „seit mindestens vier Tagen“. Eine Leichenstarre ist ein vorübergehender Zustand und entsteht, vereinfacht gesagt, weil körpereigene „Weichmacher“ nach dem Tod verbraucht werden und danach die Muskeln vorübergehend erstarren, erklärt uns Rechtsmediziner Graw. Er gibt die Zeit, die eine Leiche braucht, um die Totenstarre wieder zu lösen, mit etwa zwei bis vier Tagen an. Jedoch könne Kälte diesen Prozess verlangsamen. 

Die Näherungswerte gehen hier teilweise auseinander. Laut eines Lexikoneintrags des Wissenschaftsmagazins Spektrum setzt die Leichenstarre nach zwei bis zwölf Stunden ein und löst sich in den nächsten zwei bis sechs Tagen wieder auf.

Fakt ist jedoch, dass das Einsetzen und Lösen der Totenstarre wesentlich von der Umgebungstemperatur abhängt. Das schrieb uns auch Katharina Reichert, Pressereferentin an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig nach Rücksprache mit dem Institut für Rechtsmedizin: „Kälte zögert die Lösung der Totenstarre hinaus, bis zu mehreren Wochen.“ In der letzten März-Woche schwankten die Außentemperaturen im Raum Kiew stark, zwischen -2 und 17 Grad Celsius

Ob die Leichen nach dieser Zeit noch erstarrt sein müssten, bleibt ungewiss. Kathrin Yen von der Universität Heidelberg erklärt jedoch: „Bei den Temperaturen in Kiew ist davon auszugehen, dass nach vier Tagen Liegezeit (und wohl auch länger) noch Starre festzustellen wäre.“ Da die Leichen im auf Telegram verbreiteten Video jedoch nicht bewegt werden, lässt sich daraus nicht schließen, ob die Leichen erstarrt sind oder nicht.

Das Video ist als Beleg für die aufgestellten Behauptungen zu der Leichenstarre also nicht aussagekräftig.

Rechtsmediziner: Aufnahmen aus Butscha sprechen dafür, dass die Menschen bereits seit mehreren Tagen tot waren

Es gibt noch andere Aufnahmen aus Butscha, die die Leichen aus der Nähe zeigen und dadurch besser Aufschluss darüber geben, wie lange die Liegezeit gewesen sein könnte. Dazu haben wir unter anderem dem rechtsmedizinischen Institut der Uni Leipzig einige Bildagentur-Fotos der Leichen geschickt. Ob sie dieselben Leichen zeigen wie im Video, ist jedoch nicht klar. 

Katharina Reichert schrieb uns dazu: „Die postmortalen Veränderungen an den sichtbaren Körperteilen sprechen für einen Todeseintritt vor mehr als drei Tagen.“ Eine Anfrage der Süddeutschen Zeitung, die ähnliches Bildmaterial der Leichen aus Butscha beinhaltete, ließ ebenfalls den Schluss zu, dass die Liegezeit mindestens drei bis sieben Tage betragen habe – „oder länger“, so Reichert. 

Diesen Schluss legt auch eine am 4. April veröffentlichte Recherche der New York Times nahe. Ein Video, das am 1. April auf Twitter veröffentlicht  wurde, zeigt dieselben Leichen in der Yablunska-Straße wie das am 3. April auf Telegram verbreitete Video. Die New York Times analysierte zudem Satellitenbilder und fand heraus, dass sich Umrisse in der Größe von Menschen an genau denselben Stellen in der Yablunska-Straße schon seit dem 11. März befanden – ein weiteres Indiz dafür, dass die Leichen bereits längere Zeit gelegen haben; lange bevor sich die russischen Streitkräfte am 30. März zurückzogen

Auch die Behauptung, dass sich die Leichen in dem Video angeblich bewegten, stellte sich aus falsch heraus, wie wir recherchierten.

Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.

Redigatur: Sophie Timmermann, Uschi Jonas

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