Faktencheck

Nein, in Deutschland soll kein Sozialkreditsystem wie in China eingeführt werden

In einem Blog-Artikel wird behauptet, ein Bundesministerium wolle die Einführung eines Sozialkreditsystems wie in China, bei dem man für gute Taten mit Punkten belohnt wird. Der Hintergrund ist eine falsch interpretierte Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

von Steffen Kutzner

Tafel in China
Auf einer Tafel in China sind sogenannte Modellbürger abgebildet, die im Sozialkreditsystem eine besonders hohe Punktzahl erreicht haben (Symbolbild von 2018: Picture Alliance / DPA / Andreas Landwehr)
Behauptung
In einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit sei angegeben, dass es in den nächsten Jahren ein digitales Sozialkreditsystem nach dem Vorbild Chinas in Deutschland geben könnte.
Bewertung
Falsch. Die Studie stammt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sie gibt keine Pläne wieder, sondern analysiert und diskutiert verschiedene Zukunftsszenarien. Eine Sprecherin teilte uns mit, ein Sozialkreditsystem sei aus Sicht des Ministeriums nicht erstrebenswert.

In einem Artikel auf der Webseite „Openwing Media“ wird behauptet, das Bundesministerium für Gesundheit wolle ein Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild in Deutschland einführen. Nach diesem Konzept sollten gute Taten, wie etwa die Pflege Angehöriger, mit Punkten belohnt werden. Weiter heißt es, Deutschland habe „China für das Sozialkreditsystem verurteilt, da in China bei diesem System durch die strenge Überwachung es schnell zu Punktabzug kommen kann, was automatisch zum Verlust der Rechte und dem Geld (sic) führen kann“. 

Der Artikel wurde auf Facebook und Telegram verbreitet. Auffällig ist, dass der Text viele Grammatik- und Rechtschreibfehler enthält. „Openwing Media“ ist nach eigenen Angaben eine Plattform, auf der alle möglichen Bloggerinnen und Blogger etwas veröffentlichen können. 

Die Grundlage für die Behauptungen über das Sozialkreditsystem sollen Aussagen in einer Studie aus dem Jahr 2020 sein. Sie ist nicht vom Bundesministerium für Gesundheit, sondern vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Tatsächlich findet sich in der Studie mit dem Titel „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ ein Szenario zu einem Sozialkreditsystem für Deutschland. Es handelt sich dabei aber nur um ein Gedankenexperiment. Eine Sprecherin des Ministeriums teilte uns per Mail mit, man halte die Einführung eines solchen Systems nicht für erstrebenswert.

Artikel über angebliches Sozialkredit-System
Der auf Telegram verbreitete Beitrag über eine angeblich geplante Einführung des chinesischen Sozialkreditsystems (Quelle: Telegram; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Bereits in der Einleitung der Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) wird deutlich gemacht, worum in der Studie geht. So heißt es auf Seite 8 unter der Überschrift „Zielsetzung der Studie“: „Die Ergebnisse der vorliegenden Studie stellen keine Prognosen oder finalen Antworten auf die Studienleitfragen dar. Vielmehr zielen sie darauf ab, im Sinne der strategischen Vorausschau, ein breites Spektrum an möglichen Zukünften und Entwicklungspfaden aufzuzeichnen – und dabei auch zu einem Diskurs über die Zukunft anzuregen.“

Studie beschreibt verschiedene Zukunftsszenarien, keine Pläne eines Ministeriums

Eines dieser Szenarien, die in der Studie durchgespielt werden, ist die Einführung eines „Bonus-Systems“ (ab Seite 123). Dort wird ein Szenario geschildert, nach dem etwa Menschen, die sich ehrenamtlich betätigen, Organspender sind, oder eine gute CO2-Bilanz haben, dafür digitale Bonuspunkte erhalten könnten und Vorteile erhalten, etwa verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studienplätze. Das System ist im Szenario freiwillig.

Bei dem Bonus-System handelt es sich, wie bei allen Szenarien in der Studie, nicht um konkrete Pläne, sondern um Gedankenspiele. Diese werden jeweils auf ihre gesellschaftlichen Vor- und Nachteile hin analysiert. Eine der Fragen für das Bonuspunkte-Szenario lautet so etwa: „Was wäre, wenn auch Deutschland darüber nachdenkt, wie ein digitales Bonuspunktesystem grundsätzlich mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sein könnte?“ (Seite 123).

An einer weitere Stelle heißt es: „Im Szenario des Bonus-Systems treten vordergründig Widersprüchlichkeiten zutage, da mit der Einführung des Punktesystems ein politisches Steuerungsinstrument aus dem autoritären chinesischen Kontext in einem liberal-demokratischen System adaptiert wurde.“ (Seite 130)

BMBF: Sozialpunktesystem ist kein anzustrebendes Szenario

Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erklärte uns, dass das Ministerium mit der Studie nicht die Einführung eines Punktesystems unterstütze. Das Durchspielen solcher Zukunftsszenarien ziele darauf ab, „eine frühzeitige Reflexion über mögliche Entwicklungen anzustoßen, gleich ob diese erwünscht oder unerwünscht sind“, so die Sprecherin in einer E-Mail an uns. Es würden dabei bewusst auch Szenarien betrachtet, die als nicht erstrebenswert angesehen werden. Das Sozialpunktesystem sei „eine zwar denkbare, aus Sicht des BMBF aber keineswegs anzustrebende Ausprägung“.

Bisher lehnen die meisten Deutschen ein Sozialpunktesystem ab, wie die Webseite Yougov im Jahr 2019 herausfand: Lediglich 17 Prozent befürworteten ein solches System, heißt es in einem Artikel auf der Webseite.

Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann

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