Faktencheck

Nein, Artikel 106 und 107 der UN-Charta berechtigen Russland nicht zum Angriff auf die Ukraine

Russland habe laut Charta der Vereinten Nationen das Recht, „Nazis überall zu bestrafen“, heißt es in einigen Telegram-Beiträgen. Das ist falsch. Wir haben uns angeschaut, was wirklich in der UN-Charta steht.

von Steffen Kutzner

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Das Amtssitzzentrum der Vereinten Nationen in Wien (Symbolbild: Pixabay / 995645)
Behauptung
Artikel 106 und 107 der Charta der Vereinten Nationen gestatteten Russland den Angriff auf die Ukraine. Die Artikel gäben den „Siegern“ des Zweiten Weltkriegs – darunter Russland – das Recht, gegen die Länder, die gegen sie gekämpft haben, Maßnahmen zu ergreifen. Um dies zu tun, müssten sie nur die anderen „Siegerländer“ benachrichtigen, nicht aber ihre Zustimmung einholen.
Bewertung
Falsch. Die Charta der UN erlaubt Waffengewalt nur im Falle der Verteidigung oder wenn der Sicherheitsrat zustimmt. In den genannten Artikeln 106 und 107 steht nicht das, was behauptet wird. Sie stammen zudem aus der Gründungszeit der UN nach dem Zweiten Weltkrieg und sind heute nach Ansicht von Experten obsolet.

Erlauben Artikel 106 und 107 der UN-Charta Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine? Diese Behauptung wird in einigen Telegram-Beiträgen verbreitet. „Russland hat das Recht, Nazis überall zu bestrafen (laut UN-Charta)“, heißt es. Quelle oder Beleg dafür soll ein Text der UN sein. Die Behauptung ist jedoch falsch. 

Die Charta der UN beinhaltet das Gegenteil dessen, was behauptet wird. Dass Russland die Ukraine angreifen darf und nur die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs benachrichtigen müsse, ist falsch. Ein UN-Experte schrieb uns, dass es sich bei dieser Behauptung um eine Falschinformation handele.

Screenshot des Telegram-Beitrags, der auf Sozialen Netzwerken und in Messengern verbreitet wird (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Rolle des UN-Sicherheitsrates

Die Vereinten Nationen entstanden zum Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945 unterzeichneten 50 Staaten einen Gründungsvertrag – die UN-Charta. In Artikel 39 der UN-Charta heißt es, dass der Sicherheitsrat der UN feststellt, „ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.“ 

Der Sicherheitsrat hat fünf ständige Mitglieder mit Vetorecht: Frankreich, Russland, Großbritannien, USA und China. Es gibt zehn weitere nichtständige Mitglieder. Folglich kann Russland nicht im Alleingang entscheiden. 

Auszug aus der Charta der UN, Artikel 39 (Quelle: UN; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

In Artikel 40 bis 42 wird erläutert, dass der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen empfehlen oder anordnen kann, um den Frieden wiederherzustellen. Dazu gehören vor kriegerischen Akten jedoch zunächst diplomatische Ansätze und Sanktionen wie etwa die „vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, […] und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen“ (Artikel 41). Erst danach werden militärische Ansätze in Betracht gezogen (Artikel 42). 

Ohne Zustimmung der UN darf ein Land ausschließlich dann Waffengewalt anwenden, wenn es sich gegen einen Angriff verteidigen muss (Artikel 51).

Was steht in Artikel 106 der UN-Charta?

Der Telegram-Beitrag bezieht sich auf Artikel 106 und 107. Sie stammen aus der Gründungszeit der UN. Deshalb besagt Artikel 106, dass die „Parteien dieser Erklärung“ sich miteinander in Verbindung setzen sollen, falls konkrete Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens ergriffen werden müssen. Diese Regelung solle so lange gelten, bis der Sicherheitsrat seine Arbeit nach Artikel 42 ausüben könne. 

Das bedeutet nicht, dass Russland im Falle eines Angriffs auf ein anderes Land heutzutage nur „die drei Gewinnerländer benachrichtigen“ müsse, wie es im Telegram-Beitrag heißt. Der Sicherheitsrat übt seine Pflichten nach Artikel 42 längst aus. Die „Parteien dieser Erklärung“ sind auch nicht nur drei Sieger des Zweiten Weltkriegs, die in der Behauptung zudem falsch benannt werden – China kämpfte zwar auf der Seite der Alliierten, gehört aber formal nicht zu den „Siegermächten“. Als solche werden die Sowjetunion, die USA, Frankreich und Großbritannien bezeichnet.

Wir haben zum Hintergrund von Artikel 106 Patrick Rosenow von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) befragt. Der Verein setzt sich mit der UN-Politik auseinander. Rosenow erklärt uns, „dass die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (P5) ihre besondere Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wahrzunehmen haben“. Eigentlich sollten dem Sicherheitsrat Streitkräfte der Länder zur Seite gestellt werden. „Dazu ist es aber nie gekommen, da kein Staat bereit war, Teile seiner nationalen Streitkräfte einem internationalen Gremium bedingungslos zur Verfügung zu stellen.“ 

Rosenow erklärt: „Insofern sollte Artikel 106 eine Art Übergangsregelung erfüllen, die mittlerweile jedoch keine Relevanz mehr hat, denn entweder beschließt der Sicherheitsrat als Ganzes friedenserhaltende Maßnahmen oder nicht (etwa bei einem Veto mindestens eines der P5).“ 

Die Streichung von Artikel 106 sei immer wieder vorgeschlagen worden, aber der Prozess sei sehr schwierig und langwierig, sodass es bisher nicht dazu gekommen sei. Das gilt laut Rosenow auch für Artikel 107.

Was steht in Artikel 107 der UN-Charta?

In Artikel 107 geht es um Maßnahmen, die „als Folge des Zweiten Weltkrieges“ gegen Feindstaaten der Unterzeichner ergriffen werden. Diese würden durch die Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt. 

Ein Komitee der UN hatte schon 1995 vorgeschlagen, die sogenannten Feindstaatenklauseln, zu denen auch Artikel 107 gehört, aus der Charta zu streichen. Schon damals schrieb das Komitee, die Klausel sei „obsolet“. Das liegt daran, dass es keine Feindstaaten mehr gibt: Jeder Staat, der im Zweiten Weltkrieg als Feind erachtet wurde, allen voran Deutschland und das japanische Kaiserreich, ist inzwischen UN-Mitglied. Deshalb habe „die Feindstaatenklausel heute keine praktische Relevanz mehr“, wie es in einem Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags heißt. Auch Rosenow bestätigt, dass Artikel 107 keine Relevanz mehr habe.

UN verurteilen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit großer Mehrheit

Zudem war die Ukraine kein Feindstaat, sondern im Gegenteil einer der Gründungsstaaten der UN und Teil der Sowjetunion, weshalb sich die Feindstaaten-Artikel ohnehin nicht auf die Ukraine anwenden ließen.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, das wichtigste Organ zur Rechtsprechung der Vereinten Nationen, hat schon im März 2022 gefordert, dass Russland die rechtswidrige Intervention in der Ukraine sofort beenden solle. „Das ist eindeutig“, erklärt Rosenow uns gegenüber per E-Mail.

Berichte über die Verstöße russischer Streitkräfte gegen die Menschenrechte im Zuge des Krieges gegen die Ukraine führten zudem zu Konsequenzen innerhalb der UN: Die Generalversammlung hatte im April dafür gestimmt, Russland aus dem Menschenrechtsrat der UN zu werfen.

Redigatur: Viktor Marinov, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Deutscher Text der UN-Charta: Link
  • Vorschlag der UN-Generalverammlung zur Streichung von Artikel 107 (1995): Link
  • Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zu Artikel 107 (2017): Link

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