Nein, diese Menschen in Kiew sind keine Schauspieler, sondern wirklich verletzt
Erneut wird behauptet, Opfer russischer Angriffe seien gar nicht wirklich verletzt worden, sondern lediglich Schauspieler, die sich mit Marmelade oder Kunstblut beschmiert hätten. Doch ein Angriff auf Kiew am 10. Oktober und dessen Folgen sind umfassend dokumentiert.
Warnung: In diesem Beitrag wird Bild- und Videomaterial verlinkt, das die Folgen von Gewalt zeigt.
Manche sprechen von Marmelade, andere von Kunstblut, aber in einem sind sie sich einig: Die Bilder aus Kiew vom 10. Oktober, die eine verletzte ältere Frau und einen verletzten Mann neben ihr zeigen, seien inszeniert. Das wird in mehreren Beiträgen auf Sozialen Medien, auf Blogartikeln russischer Plattformen und vom russischen Diplomaten Dmitry Polyanskiy behauptet.
Doch die Behauptung ist falsch: Zahlreiche Aufnahmen belegen, dass an dem Tag bei einem Raketenangriff auf Kiew Menschen verletzt und Häuser zerstört wurden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Menschen das nur inszenieren oder unverletzt sind. In einem Fernsehinterview kurz nach dem Angriff sieht man die Wunden im Gesicht einer Frau.
Die Beiträge folgen einer Darstellung, die wir seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer wieder beobachten: Die Erzählung, ukrainische Opfer seien gar nicht wirklich verletzt (hier, hier, hier und hier) – das soll den Angriff Russlands auf die Ukraine und dessen Folgen verharmlosen.
Videoausschnitt zeigt die Folgen eines Angriffs in Kiew am 10. Oktober
In dem etwa 15-sekündigen Videoausschnitt, der in einigen Beiträgen geteilt wird, sind ein Mann und eine Frau zu sehen, die Verbände um den Kopf gewickelt haben. Gegenüber von ihnen stehen Fotografen und richten ihre Kameras auf sie. Die Frau hat ein Handy in der Hand und Blut auf ihrem T-Shirt, ein Mann in Uniform nestelt an ihrem Verband.
Zu einem anderen Mann sagt sie auf Ukrainisch, er solle ein Foto von ihr machen. Dann hält sie sich das Handy vor das Gesicht und sagt: „Ich mache ein Foto von mir, ich schicke es meiner Schwester in Russland“. Das ist offenbar der Ausgangspunkt für die Behauptung, sie sei gar nicht wirklich verletzt. Die Kamera schwenkt anschließend auf die gegenüberliegende Straßenseite, kurz ist ein Hochhaus zu sehen, dann endet die Aufnahme.
Eine Googlesuche mit den Stichworten „kiev attack tower“ führt uns zu einem Video, in dem das Hochhaus gezeigt und als „Tower 101“ bezeichnet wird – ein Turm im Zentrum Kiews. Auch ein Blick auf Google Maps belegt, dass in dem Video mit der verletzten Frau der Tower 101 gefilmt wird. Auf den dortigen Aufnahmen von Mai 2015 sind nicht nur der – damals unversehrte – Turm, sondern auch die beiden Gebäude daneben erkennbar. Dass das Hochhaus am 10. Oktober durch einen Luftangriff beschädigt wurde, bestätigte auch ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in einer Regierungspressekonferenz am 10. Oktober – in dem Turm ist die Visastelle der deutschen Botschaft untergebracht.
Fotograf vor Ort: „Ich sah, wie Blut aus seinem Hals strömte“
In dem Beitrag, der auf Twitter und Facebook geteilt wird, ist nicht nur das Video, sondern auch ein Foto der verletzten Frau zu sehen. Dieses lässt sich über eine Bilderrückwärtssuche zurückverfolgen: Die Associated Press (AP) bebilderte damit einen Text, in dem von mindestens 14 Todesopfern und etwa 100 Verwundeten nach russischen Angriffen auf 14 Regionen der Ukraine am 10. Oktober berichtet wird. Am frühen Nachmittag des 10. Oktobers schrieb Bürgermeister Vitali Klitschko auf seinem Telegramkanal, dass allein in Kiew fünf Menschen ums Leben gekommen und rund 50 verletzt worden seien.
In dem AP-Text ist der Fotograf des Bildes angegeben. Sein Name ist Efrem Lukatsky, er arbeitete schon in den Neunzigern für die AP und fotografiert laufend im Kriegsgebiet. In der Fotodatenbank der AP sind weitere Fotos, die er an dem Tag gemacht hat, sie zeigen Krankenwagen, zerstörte Autos und weitere Verletzte.
Lukatsky reagierte auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck bisher nicht, erklärte aber schon mehreren Medien, dass er an dem Tag vor Ort war und Verletzte, darunter auch die Frau, deren Bild sich in den Sozialen Medien verbreitet, gesehen habe. Laut Lukatsky erlitten die Menschen ihre Verletzungen durch umherfliegende Glasscherben eines Hochhauses. Auf Facebook berichtete der Fotograf am 13. Oktober von den Vorwürfen der Fälschung, einen Tag darauf teilte er einen Text von Les Observateurs, dem Faktencheck-Team des Senders France TV. Darin kommt die Redaktion zum Ergebnis, dass die Aufnahmen keine Inszenierung von Verwundeten belegen.
Les Observateurs kontaktierten für ihren Faktencheck auch Vladyslav Musiienko, einen anderen Fotografen, der nach eigenen Angaben an dem Tag vor Ort war – gemeinsam mit etwa zehn anderen Medienleuten, wie er sagt. Auch Musiienko bestätigt, Verletzte gesehen zu haben, er wird mit der Aussage zitiert: „Diejenigen, die sagen, es seien inszenierte oder vorgetäuschte Verletzungen, wissen nicht, wovon sie reden. Ich sah, wie Blut aus seinem Hals strömte“ – wobei aus dem Originalzitat im Französischen nicht hervorgeht, ob er von einem Mann oder einer Frau spricht.
Zahlreiches Bildmaterial belegt die Angriffe und dass es dadurch Verletzte gab
In der Datenbank der AP finden wir noch eine längere Version des Videos. Sie dauert 32 Sekunden und zeigt vor und nach dem Ausschnitt, der in Sozialen Medien geteilt wird, weitere Verletzte. Auf der Straße sind mehrere Krankenwagen zu sehen, zudem sind die Zerstörungen am Hochhaus und an den umliegenden Gebäuden in der längeren Version deutlicher zu erkennen.
Aufnahmen der Frau tauchen in vielen weiteren Online-Berichten auf. Etwa in einem Beitrag des zyprischen Mediums Phileleftheros oder beim Berliner Kurier oder in einem Artikel des ukrainischen Kanals Suspilne.
Die Bild- und Videoagentur Getty Images veröffentlichte einen Videoausschnitt, in dem die verletzte Frau und der Mann ebenfalls zu sehen sind, am Boden sitzt noch ein Verletzter. Ein Video, das der ukrainische Sender Hromadske zeigt, wie die Frau verbunden und andere Menschen behandelt werden. Laut den Untertiteln im Video sagt sie: „Das ist mein Blut auf dem Handtuch“. Jemand antwortet: „Das wichtigste ist, dass es Ihnen gut geht“. Nichts in den Videos, Bildern oder Artikeln deutet auf eine Inszenierung hin.
Frau wollte ihrer Schwester vom Kriegsgeschehen in Kiew berichten
Doch wer ist die Frau? Die Deutsche Welle fand ein Video, das darüber Aufschluss gibt: Eine Reporterin des ukrainischen Fernsehsenders TSN traf sich kurz nach dem Angriff mit der Frau, ihr Name sei Oleksandra Kisseljowa, heißt es in dem Beitrag. Im Interview sieht man deutlich frische Nähte und noch unverheilte Wunden im Gesicht der Frau, sie hat einige Blutergüsse.
Im Videoausschnitt, der in Sozialen Netzwerken geteilt wurde, sagt Kisseljowa, dass sie das Foto ihrer Schwester schicken wolle. Angesprochen darauf antwortet sie: „Die Welt muss das sehen“. Das gelte eben auch für ihre Schwester, die in Russland lebe.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Viktor Marinov, Matthias Bau