Faktencheck

Fehlender Kontext: Selenskyj forderte die USA nicht auf, Soldaten in die Ukraine zu schicken

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe angeblich gesagt, die USA würden „ihre Söhne und Töchter“ in den Krieg schicken müssen. Er bezog sich dabei aber nicht auf die aktuelle Lage, wie ein verkürzter Videoausschnitt in Sozialen Netzwerken andeuten soll. Er sprach davon, was passieren könne, wenn Russland seine Angriffe auf die baltischen Staaten ausweite.

von Kimberly Nicolaus

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Eine Aussage des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wird in Sozialen Netzwerken aus dem Kontext gerissen. Dort heißt es: Die USA müsse in den Krieg eintreten. Weggelassen wurde, dass sich Selenskyj bei dieser Aussage auf den Nato-Bündnisfall bezog. (Symbolbild: SvenSimon-ThePresidentialOfficeU, Presidential Office of Ukraine / dpa / Picture Alliance)
Behauptung
Präsident Wolodymyr Selenskyj habe gesagt: „Die USA werden ihre Söhne und Töchter genauso schicken müssen, wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg schicken. Und sie werden kämpfen müssen, weil wir über die Nato sprechen, und sie werden sterben.“
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Fehlender Kontext
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Fehlender Kontext. Die Aussage Selenskyjs wurde aus dem Zusammenhang gerissen – er sprach nicht davon, dass die USA ihre Söhne und Töchter in die Ukraine schicken müssten. Er sagte, sollte die Ukraine den Krieg verlieren, könnte Russland in die baltischen Staaten eindringen, die Mitglieder der Nato sind. Die USA müssten dann militärische Unterstützung leisten.

„Selenskyj ist ein gefährlicher Soziopath, der will, dass Ihre Kinder seinen Krieg führen“, heißt es in einem Twitter-Beitrag zu einem 19-sekündigen Videoausschnitt. Darin sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj laut englischer Übersetzung: „Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg schicken. Und sie werden kämpfen müssen, weil wir über die Nato sprechen, und sie werden sterben.“ Die Beiträge wurden bei Twitter auf Deutsch und Englisch über 800.000 Mal aufgerufen.

Doch die Aussage Selenskyjs wird verkürzt dargestellt und falsch interpretiert. Er sagte bei einer Pressekonferenz am ersten Jahrestag von Russlands Einmarsch in die Ukraine in Kiew: Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, werde Russland Nato-Mitgliedsstaaten im Baltikum angreifen und die USA müssten in einem solchen Fall „ihre Söhne und Töchter [in den Krieg] schicken“. Davon, dass die USA Soldatinnen und Soldaten in die Ukraine schicken müssten, sprach er nicht.

Auf Twitter kursiert ein verkürzter Videoausschnitt von Selenskyjs Aussage bei einer Pressekonferenz am 24. Februar 2023 in Kiew (Quelle: Twitter; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Videoausschnitt von Selenskyj stammt von einer Pressekonferenz am 24. Februar 2023 in Kiew

Wir haben in dem Kurzvideo nach Hinweisen gesucht, woher es stammt: Die Kameraperspektive im Videoausschnitt wechselt ab Sekunde 11 von einer Nahaufnahme Selenskyjs zu einem größeren Bildausschnitt; der Präsident spricht vor einem Publikum und an der Wand hinter ihm steht auf Ukrainisch: „ЛЮТИЙ. РІК НЕЗЛАМНОСТІ“ (übersetzt mit Deepl: „Februar. Das Jahr der Unbesiegbarkeit“). Eine Google-Suche mit diesen Stichworten führt uns zu einem Artikel der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform über eine Pressekonferenz am 24. Februar 2023. Ukrinform filmte die Konferenz live in Kiew und veröffentlichte das Video von etwa 2 Stunden und 20 Minuten auf Youtube.

Ab Sekunde 11 wechselt der Videoausschnitt zu einer anderen Perspektive, in der ukrainische Worte zu erkennen sind und das Logo der britischen Tageszeitung The Telegraph. Diese geben Hinweise darauf, woher das Originalvideo stammt. (Quelle: Twitter; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Ein weiterer Hinweis auf den Ursprung des Videoausschnitts ist das Wasserzeichen oben rechts im Bild; es gehört der britischen Tageszeitung The Telegraph. Eine Google-Suche nach den Stichworten „press conference“, „Selenskyj“ und „Telegraph“ führt zu einem weiteren Youtube-Video mit dem Titel: „Volodymyr Zelenksy press conference on first anniversary of Ukraine’s war with Russia“.

Laut der Videobeschreibung hat The Telegraph die Pressekonferenz ebenfalls am 24. Februar 2023 live bei Youtube übertragen. In der Aufnahme ist dieselbe Dolmetscherin zu hören wie in dem Videoausschnitt in Sozialen Netzwerken.

Selenskyjs Aussage wurde verkürzt – er bezog sich auf den Nato-Bündnisfall, sollte Russland seine Angriffe ausweiten

Tatsächlich sagte Selenskyj bei der Pressekonferenz, das, was sich in Sozialen Netzwerken verbreitet (ab Stunde 1:40). Doch wesentlicher Kontext fehlt: Mit seiner Aussage reagierte er auf die Frage eines Mannes (ab Stunde 1:31): „Herr Präsident, Umfragen in den USA zeigen, dass eine stetig wachsende Zahl der Amerikanerinnen und Amerikaner denkt, dass die Ukraine zu viel Hilfe bekommt. Was ist Ihre Botschaft, zum Jahrestag des Krieges, an diese Amerikanerinnen und Amerikaner?“

Selenskyj antwortete darauf unter anderem (ab Stunde 1:39): „Die USA werden die Nato-Mitgliedsstaaten niemals aufgeben. Sollte es passieren, dass die Ukraine aufgrund verschiedener Meinungen, Schwächung und Ausbleiben von Unterstützung verliert, wird Russland in die baltischen Staaten, Nato-Staaten, eindringen, und dann werden die USA ihre Söhne und Töchter schicken müssen, wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg schicken.“

Weiter sagte er (ab Stunde 1:40): „Sie werden kämpfen müssen, weil wir über die Nato sprechen, und sie werden sterben, Gott bewahre, denn es ist eine schreckliche Sache, ich wünsche den Vereinigten Staaten Frieden und ukrainische Unterstützung.“

Nato-Bündnisfall: Bei Angriff auf Nato-Staaten müssten USA militärischen Beistand leisten 

Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis von europäischen und nordamerikanischen Ländern, zu dem die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gehören. Die Nachrichtenagentur AFP berichtete in einem Faktencheck, dass US-Präsident Joe Biden unter Berufung auf das gegenseitige Verteidigungsabkommen versprochen habe, „jeden Zentimeter der Nato zu verteidigen“. Die Ukraine hat laut Medienberichten am 30. September 2022 eine beschleunigte Mitgliedschaft in der Nato beantragt – gehört dem Verteidigungsbündnis aber aktuell nicht an (Stand: 7. März). 

Mit seiner Aussage bezog sich der ukrainische Präsident auf ein Szenario, das bislang nicht eingetreten ist: Den sogenannten „Nato-Bündnisfall“. Dieser ist in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, dem Gründungsdokument der Nato, festgeschrieben. Dort heißt es: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird.“ 

Daraus folgt, wie es im Vertrag weiter heißt, dass sich die Vertragsparteien gegenseitig Beistand leisten, „indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.

Fazit: Selenskyj forderte in dem Videoausschnitt von der Pressekonferenz am 24. Februar 2023 in Kiew nicht, dass die USA Soldatinnen und Soldaten in den Krieg in der Ukraine schicken. Vielmehr wies er darauf hin, dass die USA militärischen Beistand leisten müssten, wenn Russland Nato-Mitgliedsstaaten angreifen würde. 

Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.

Redigatur: Paulina Thom, Matthias Bau, Sarah Thust

Öffentliche Quelle für diesen Faktencheck:

  • Video der Tageszeitung The Telegraph von der Pressekonferenz, 24. Februar 2023: Link