Nein, es gibt keine neuen Grundrechtseinschränkungen ab 1. Juli 2023
Eine Gesetzesänderung soll ab 1. Juli 2023 Grundrechtseinschränkungen mit sich bringen, heißt es in Sozialen Netzwerken. Das ist falsch: Die konkreten Grundrechtseinschränkungen stehen schon seit mehreren Jahren im Infektionsschutzgesetz. Das Datum, an dem eine Änderung des Stiftungsrechts in Kraft tritt, wird falsch interpretiert.
„Am 22. Juni dieses Jahres wurde beschlossen, dass ab dem 1. Juli 2023 die Grundrechte eingeschränkt werden“, heißt es in einem Video auf Twitter. Eingeschränkt würden die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Freiheit der Person, die körperliche Unversehrtheit und die Freizügigkeit. Auch auf anderen Plattformen verbreitet sich die Falschmeldung. Tatsächlich wird nur – erneut – eine Gesetzesänderung falsch interpretiert. Über ähnliche Fälle berichteten wir bereits im November 2020 und im Juni 2021.
Der Hintergrund ist schnell erklärt: Das „Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit“ und weitere Grundrechte können durch bestimmte Paragrafen des Infektionsschutzgesetzes eingeschränkt werden; das ist jedoch nicht neu – schon seit November 2020 stehen die Einschränkungen im Infektionsschutzgesetz. So wurde etwa das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit durch die Auflage eingeschränkt, dass man im Falle einer Covid-19-Infektion in Quarantäne bleiben musste.
Und: Die Gesetzesänderung, um die es nun geht, ist bereits seit dem 17. Juli 2021 in Kraft. Lediglich die Änderungen im Stiftungsrecht, die ebenfalls in der Beschlusssache enthalten sind, treten erst im Juli 2023 in Kraft. Deswegen wirkt es so, als hätten die Grundrechtseinschränkungen etwas mit aktuellen Gesetzen zu tun. Das ist aber nicht der Fall.
Stiftungsrechtsänderung enthält keine neuen Grundrechtseinschränkungen
In einigen der Beiträge über die angeblich anstehende Einschränkung der Grundrechte wird eine Drucksache des Bundestages als Quelle verlinkt, etwa hier auf Facebook. In dieser Drucksache aus dem Jahr 2021 geht es eigentlich um einen Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts, der am 24. Juni 2021 im Bundestag zur Abstimmung gebracht und beschlossen wurde. Enthalten ist in der Beschlussempfehlung aber auch eine Passage, die das Infektionsschutzgesetz betrifft.
Geändert wurde damit Paragraf 36 Absatz 12 des Infektionsschutzgesetzes. Durch die Änderung wurde festgelegt, dass nach der Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite bestimmte Verordnungen automatisch ein Jahr später außer Kraft treten. Bei der Gesetzesänderung ging es also gerade darum, Einschränkungen automatisch zurückzunehmen. Das betraf zum Beispiel die Pflicht für Reisende aus Risikogebieten im Ausland, „bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie einem erhöhten Infektionsrisiko für die Krankheit ausgesetzt waren“, sich auf eigene Kosten in Quarantäne zu begeben und sich beim Robert-Koch-Institut zu melden.
Definierte Risikogebiete gebe es jedoch gar nicht mehr und die entsprechende Regelung laufe am 7. April 2023 ohnehin aus, wie uns eine Sprecherin des Bundesministeriums für Gesundheit per E-Mail mitteilte. Auch die anderen pandemiebedingt festgelegten Grundrechtseinschränkungen gelten, so schreibt sie, bundeseinheitlich nur noch in speziellen medizinischen Einrichtungen. „Eine Verlängerung der Maßnahmen über den 7. April 2023 hinaus ist nicht vorgesehen.“
Weil die Gesetzesänderung Einschränkungen betrifft, die von den Grundrechten berührt werden, wird explizit darauf hingewiesen: „Durch Artikel 9 werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (…), der Freiheit der Person (…), der Freizügigkeit (…) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (…) eingeschränkt.“ Aktuell heißt es in dem Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes: „Eine aufgrund des Absatzes 8 Satz 1 oder des Absatzes 10 Satz 1 erlassene Rechtsverordnung tritt spätestens am 7. April 2023 außer Kraft.“
Grundrechte wurden bereits im November 2020 eingeschränkt
Dass etwa das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zugunsten von Maßnahmen zum Infektionsschutz eingeschränkt werden kann, steht bereits seit der Dritten Novelle im November 2020 im Infektionsschutzgesetz (Paragraf 28). Auch die anderen Einschränkungen werden in dieser Fassung bereits genannt.
Die Änderung im Infektionsschutzgesetz, von der in der Drucksache die Rede ist, ist schon längst in Kraft, wie uns eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums auf Anfrage schreibt. Das ist auch im Bundesgesetzblatt vom 22. Juli 2021 nachzulesen: Darin steht, dass diese Passage am Tag nach der Verkündung, also am 17. Juli 2021 in Kraft tritt. Denn der Teil, der das Infektionsschutzgesetz betrifft, ist nur ein kleiner Anhang in einer größeren Novelle des Stiftungsrechts, die noch nicht in Kraft ist.
All das ist auch direkt aus der Drucksache, die aktuell wieder in Sozialen Netzwerken geteilt wird, ersichtlich. Dort steht, dass nur die Artikel 1, 2, 6, 7 Nummer 1, 2 und 4 sowie Artikel 8 am 1. Juli 2023 in Kraft treten. Die Änderungen im Infektionsschutzgesetz, die die Grundrechte einschränken, stehen aber in Artikel 9.
Dass Stiftungsrecht und Infektionsschutzgesetz in einer Änderung stehen, ist nicht unüblich, sondern ein Omnibusgesetz
Schon im Sommer 2021 wurde behauptet, dass die Einschränkungen „versteckt“ durch den Bundestag gegangen wären, weil sie in einem anderen Gesetzesantrag lediglich mit erwähnt wurden. Das stimmt so nicht: Es handelt sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz. So nennt man es, wenn ein bereits bestehendes Gesetz, in diesem Fall das Infektionsschutzgesetz, minimal geändert werden soll, ohne dass dafür der gesamte Gesetzgebungsvorgang durchlaufen werden soll. Man fügt dann diese Änderung dem Entwurf eines anderen Gesetzes an. Das sei ein „relativ häufiger Vorgang“, der Zeit und Ressourcen spare, wie uns ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums telefonisch erklärte.
Dass – in dem Teil, der das Infektionsschutzgesetz betrifft – in der Beschlussempfehlung noch einmal auf die Einschränkung der Grundrechte hingewiesen wird, liegt am sogenannten Zitiergebot. Demnach muss Gesetzen oder Gesetzesänderungen, die die Grundrechte einschränken können, ein solcher expliziter Hinweis beigefügt werden. Das haben wir in einem Hintergrundbericht zum dritten Bevölkerungsschutzgesetz im November 2020 erklärt.
Warum also wird dieses Dokument nun wieder geteilt? Grund dafür ist, dass der Hauptteil der Novelle, jener, der das Stiftungsrecht betrifft, erst am 1. Juli 2023 in Kraft tritt, nachdem der Termin verschoben worden war, wie das Deutsche Stiftungszentrum schreibt. Diese Verschiebung hat aber keine Auswirkungen auf die Änderungen im Infektionsgesetz, schreibt uns eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Denn die sind – wie oben beschrieben – schon längst durch.
Redigatur: Gabriele Scherndl, Matthias Bau
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Paragraf 28 Infektionsschutzgesetz (Stand November 2020): Link (archiviert)
- Paragraf 36 Infektionsschutzgesetz (Stand Juni 2021): Link (archiviert)
- Paragraf 36 im Infektionsschutzgesetz (Stand März 2023): Link (archiviert)
- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz an den Bundestag vom 22. Juni 2021, „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“: Link (archiviert)
- Gesetzesentwurf zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts, 22. Juni 2021: Link (archiviert)
- Bundesgesetzblatt vom 22. Juli 2021: Link (archiviert)
- Verfassungsrechtliche Vorgaben für das sogenannte Omnibusverfahren, 17. Juni 2020: Link