ZDF-Beitrag falsch interpretiert: Keine Zahlungen für Erdgas, das Russland nicht liefert
Muss Deutschland trotz ausbleibender Erdgas-Lieferungen bis 2030 jährlich 40 Milliarden Euro an Russland zahlen? Das belege laut Beiträgen im Netz eine Ausgabe von ZDF-Frontal. Doch das ZDF stellte Ende August 2022 klar, die Lage habe sich „umgekehrt“.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine löste eine Energiekrise in Deutschland aus: Im Jahr 2022 reduzierte der russische Staatskonzern Gazprom Erdgas-Lieferungen über die Jamal-Pipeline und Nord Stream 1 zunehmend – im September 2022 kam es zudem zu Explosionen an Nord Stream 1 und 2. Danach blieben Erdgas-Lieferungen Russlands an Deutschland aus (Stand: 16. November 2023).
Muss Deutschland bis 2030 dennoch 40 Milliarden Euro pro Jahr an Russland für das nicht gelieferte Erdgas zahlen? Ein Videoausschnitt der ZDF-Sendung Frontal, der sich im August und September 2023 auf Tiktok, Telegram und Facebook verbreitete, soll diesen Eindruck erwecken. Doch die Nutzerinnen und Nutzer geben das Video falsch wieder und ziehen falsche Schlüsse daraus – und es ist nicht mehr aktuell. Dieser Faktencheck gibt einen Überblick, was sich verändert hat.
ZDF aktualisierte Videobeschreibung – „Deutschland muss nicht für das nicht gelieferte Erdgas bezahlen“
Der Ausschnitt der ZDF-Sendung ist auf Youtube (ab Minute 6:53) und stammt vom 27. April 2022. Zu diesem Zeitpunkt diskutierten Fachleute über die Option, Gaslieferungen aus Russland zu „boykottieren“. Im Kern geht es um Lieferungen des russischen Staatskonzerns Gazprom. Das ZDF berichtete, dass deutsche Unternehmen durch Langfristverträge bis 2030 zum Kauf von 40 Milliarden Kubikmetern Erdgas pro Jahr in Russland verpflichtet seien. Im Beitrag ist also nicht, wie behauptet, von 40 Milliarden Euro die Rede, sondern von 40 Milliarden Kubikmeter Gas, für die deutsche Unternehmen mindestens zahlen müssten.
Diese Pflicht basiere, so heißt es in dem ZDF-Beitrag, auf dem Prinzip „Take or Pay“ (auf Deutsch: „Nimm oder zahle“). Deutschland müsse also auch zahlen, wenn es die Mindestmenge Gas nicht kauft. Der Lieferant Gazprom schreibt dazu ebenfalls auf seiner Webseite: Der Käufer müsse einen Teil der Liefermenge bezahlen, unabhängig davon, wie viel er tatsächlich abnimmt. Das Prinzip setzt aber voraus, dass der Lieferant, also in dem Fall Gazprom, das Erdgas auch liefert.
Hätten deutsche Firmen also angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Gaslieferungen boykottiert, hätten sie weiterhin dafür zahlen müssen, berichtete Frontal im Video von April 2022 ab der achten Minute. Und nennt dann aber eine Alternative: „Experten sehen einen möglichen Ausweg. Die Bundesregierung beschließt einen Gas-Boykott wegen des Krieges, dann würden die Verträge hinfällig.“
Doch dazu kam es nie – dieser Aspekt fehlt in den Beiträgen in Sozialen Netzwerken. Die Erdgas-Lieferungen aus Russland an Deutschland blieben zunehmend aus. Am 29. August 2022 aktualisierte das ZDF die Videobeschreibung bei Youtube mit dem Hinweis: „Deutschland hätte nur dann bezahlen müssen, wenn Gazprom das Gas geliefert, Deutschland es aber nicht abgenommen hätte.“
Hans Koberstein, Co-Autor des Berichts von ZDF-Frontal, schrieb uns am 28. September 2023 auf Nachfrage, dass dieser Hinweis ergänzt wurde, weil schon damals die Behauptung kursierte, Deutschland müsse weiter für das zu wenig gelieferte Gas zahlen. Das sei aber falsch: Bei einer ausbleibenden Lieferung sei „take“, also Nehmen, nicht möglich. Deshalb greife die „Take or Pay“-Klausel nicht.
Energieforscher Sharples: Die Situation hat sich seit April 2022 „dramatisch verändert“
Das bestätigt uns auch der Energiexperte, der in dem damaligen Frontal-Beitrag zu Wort kam. Jack Sharples ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter im Oxford Institute for Energy Studies in England, ein laut Webseite unabhängiges Energieforschungsinstitut. Wir fragten ihn Ende September 2023, was sich seit seinen Aussagen mehr als ein Jahr zuvor getan hat.
Er antwortete: „Seit meinem Interview mit dem ZDF im April 2022 hat sich die Situation dramatisch verändert.“ Die langfristigen Verträge über die Lieferung von russischem Pipelinegas durch Gazprom nach Deutschland seien entweder gekündigt oder ausgesetzt worden. Dass die Verträge aktuell nicht mehr greifen, hat unterschiedliche Gründe, darunter vor allem die ausbleibenden Lieferungen aus Russland. Die Details sind hier in englischer Sprache in der Original-E-Mail von Sharples aufgeschlüsselt (PDF-Download). Der Kern von Sharples Einschätzung: „Daher können wir im Moment nur feststellen, dass […] die deutschen Unternehmen nicht verpflichtet sind, für Gas zu zahlen, das sie nicht von Gazprom erhalten“, schreibt Sharples.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- ZDF-Sendung Frontal vom 27. April 2022: Link (archiviert)
- Definition von „Take-or-Pay“ auf der Webseite von Gazprom: Link (archiviert)
Redigatur: Matthias Bau, Kimberly Nicolaus