Hessen: Nein, im Reinhardswald werden keine 120.000 Bäume für Windräder gefällt
Auf Facebook machen Nutzerinnen und Nutzer Stimmung gegen ein Energieprojekt in Hessen. Dort würden angeblich 120.000 Bäume gefällt, um Windräder zu bauen. Das ist falsch.
Der Konflikt um Windräder im hessischen Reinhardswald schwelt seit Jahren. Bereits 2018 berichteten wir in einem Faktencheck über die Behauptung, die Grünen ließen in Hessen den „uralten Märchenwald abholzen“.
Nun heißt es auf Facebook in einem rund 20.000-fach geteilten Beitrag, in dem Wald würden 120.000 Bäume für 20 Windkraftanlagen gefällt. Davon sei ein Teil des Waldes betroffen, der 800 Jahre alt sei – der „Märchenwald der Brüder Grimm“. Verantwortlich dafür seien „maßgeblich die Grünen“. Und: Mit einem Atomkraftwerk alleine könne man 1.160 Windkraftanlagen ersetzen.
Wer entschied, dass im Reinhardswald Windkraftanlagen gebaut werden dürfen?
Der Reinhardswald liegt in Hessen, nördlich von Kassel. Laut der Webseite „Naturpark Reinhardswald“ erstreckt er sich über eine Fläche von 20.000 Hektar. Ein kleiner Teil des Waldes (92 Hektar) wird als „Urwald Sababurg“ bezeichnet und steht seit 1907 unter Schutz.
Wie wir 2018 berichteten, waren an der Entscheidung für die Windradflächen nicht nur die Grünen, sondern auch die CDU und die SPD beteiligt. Die Genehmigung für den Bau der Anlagen, um die es jetzt geht, erteilte das Regierungspräsidium Kassel.
Das Regierungspräsidium setzt die politischen Beschlüsse der Landesregierung um, steht aber nicht unter der Kontrolle einer bestimmten Partei. Es erteilte die Genehmigung zum Bau der 18 Windkraftanlagen am 1. Februar 2022 nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz.
Auf unsere Presseanfrage schrieb uns der Pressesprecher des Regierungspräsidiums, Hendrik Kalvelage, die Anlagen vom Typ Vestas V150 seien jeweils 241 Meter hoch und hätten eine Nennleistung von 5,6 Megawatt. Die Nennleistung beschreibt, wie viel Leistung eine Anlage unter optimalen Windbedingungen erzielen kann.
Wo genau liegen die geplanten 18 Windräder?
Der Bau der Anlagen verzögerte sich seit der Genehmigung immer wieder. Das liegt daran, dass neben der immissionsrechtlichen Genehmigung auch eine Genehmigung für die Baustraßen zu den künftigen Standorten der Windräder erteilt werden muss. Gegen die wurde jedoch geklagt.
Dazu schrieb die Hessenschau im Oktober 2023, dass zunächst das Vorkommen der streng geschützten Haselmaus den Bau der Anlagen an mehreren Standorten gestoppt habe. Im Februar 2023 habe der Hessische Verwaltungsgerichtshof entschieden, „dass für den Bau einer Zufahrt keine Bäume gefällt werden dürfen, solange dafür keine gesonderte Baugenehmigung vorliegt.“ Im Oktober 2023 sei es möglich gewesen, die Rodungsarbeiten fortzusetzen, weil durch eine gesetzliche Änderung der Hessischen Bauordnung eine solche Genehmigung nicht mehr erforderlich gewesen sei.
Auf der folgenden Karte stellt das Regierungspräsidium die Standorte für die 18 genehmigten Windräder dar, sie liegen in den Vorranggebiete „KS 04b“ und „KS 04a“:
Wie viele Bäume für die Windräder gefällt werden müssen, ist unklar
Wir wollten vom Regierungspräsidium Kassel wissen, wie viele Bäume für den Bau der Anlagen und für die Baustraßen gefällt werden müssen. Hendrik Kalvelage antwortete uns, dass eine genaue Zählung der Bäume nicht erforderlich gewesen sei.
Die in Anspruch genommene Fläche belaufe sich auf rund 29 Hektar Wald. Sie teilen sich so auf: Für den Bau der Windräder würden 8,2 Hektar Wald dauerhaft gerodet, 12,1 Hektar nur vorübergehend „umgewandelt“ – dort werden also bestehende Wege verbreitert und befestigt und gegebenenfalls Bäume gefällt; nach den Bauarbeiten werden die entsprechenden Flächen wieder aufgeforstet. Für die Baustraßen würden 4,9 Hektar dauerhaft und 3,5 Hektar vorübergehend gerodet. Aufgeschlüsselt ist das in diesem Dokument des Regierungspräsidiums. Insgesamt erstreckt sich der Reinhardswald auf einer Fläche von 20.000 Hektar. Für das Bauvorhaben werden also rund 0,15 Prozent der Waldfläche benötigt.
Anders als auf Facebook suggeriert, wird kein Teil des Walds gerodet, in dem besonders alte Bäume stehen. Dazu schreibt Kalvelage, bei den Planungen seien viele Waldflächen ausgeschlossen worden, darunter diese. Überwiegend seien Flächen zum Bau ausgewählt worden, auf denen Nadelholzbäume stünden, die forstwirtschaftlich genutzt würden oder die durch Sturmschäden oder Borkenkäfer geschädigt seien.
Thomas Norgall, stellvertretender Geschäftsführer des hessischen Landesverbands vom Bund für Umweltschutz und Natur Deutschland (BUND) Hessen, schreibt uns, die Zahl auf Facebook sei „ganz sicher falsch und völlig übertrieben“. Bei dem im Reinhardswald typischen Buchenwald sei von einer Zahl von 150 Bäumen pro Hektar auszugehen, sodass sich eine erheblich geringere Anzahl an gefällten Bäumen ergebe. Weiter schreibt er: „Bäume mit einem Alter von 800 Jahren dürfte es im Reinhardswald, wenn überhaupt, nur in Einzelfällen geben.“
Dazu erklärt Norgall auf Rückfrage: „Wenn sie eine gerade angelegte Pflanzung betrachten, dann sind natürlich viel größere Zahlen anzunehmen. Wenn der Bestand dann zum Altbestand heranwächst, nimmt die Baumzahl ab.“ Forste man eine Fläche beispielsweise mit Buchen auf, dann würden 6.500 bis 8.000 Bäume pro Hektar gepflanzt. Bei Eichen seien es 6.000 bis 8.000 Bäume pro Hektar.
Keine 800 Jahre alten Bäume von den Rodungsplänen betroffen
Mark Harthun, Geschäftsführer des Bereiches Naturschutz beim Naturschutzbund (Nabu) Hessen, schreibt uns zudem, dass 90 Prozent der Windräder auf ehemaligen Fichten-Flächen errichtet werden sollen, die im Zuge des Klimawandels bereits abgestorben und abgetragen worden seien. „In den letzten Jahren sind dort rund 5.000 Hektar Wald vertrocknet.“ Es könne ausgeschlossen werden, dass 800 Jahre alte Bäume von den Arbeiten betroffen seien. Bäume, die mehrere hundert Jahre alt sind, seien nur im „Urwald Sababurg“ zu finden.
Aus Unterlagen, die uns das Regierungspräsidium Kassel zur Verfügung stellte, geht hervor, dass Bäume mit einem Alter von bis zu 220 Jahren betroffen sein können.
Ein Teil der gefällten Bäume wird wieder angepflanzt
Für die gefällten Bäume soll es teilweise einen Ausgleich in Form von Wiederaufforstungen geben. Dazu schreibt uns der Pressesprecher des Regierungspräsidiums, es gebe Aufforstungen von 16.120 Bäumen auf einer Fläche von 2,56 Hektar. Für die vorübergehend genutzten Flächen, also die, die nur in der Bauphase benötigt werden, müssten weitere 31.500 Bäume als Ausgleich gepflanzt werden.
Zur Aussage des BUND, im Reinhardswald sei von 150 Bäumen pro Hektar auszugehen, schrieb uns Kalvelage, dass sich diese Angaben auf alte Wälder beziehe. „Hier haben sich die fittesten Individuen durchgesetzt, was zum Absterben der unterlegenen Bäume geführt hat. Auf diese Weise reduziert sich im Laufe der Zeit die Anzahl an Bäumen je Hektar erheblich.“ Demgegenüber verfügten junge Wälder „über viele Tausend Bäume je Hektar.“
Bei der Fläche, auf der keine Ersatzaufforstung möglich sei, müsse der Betreiber einen Ausgleich zahlen. Dieser sei in einer Höhe von 237.184,17 Euro festgesetzt worden.
BUND und Nabu Hessen befürworten den Windkraftausbau im Reinhardswald
Den Ausbau der Windkraft sieht Thomas Norgall vom BUND Hessen aus Gründen des Klimaschutzes als „unvermeidlich und zwingend“ an. Der Verband akzeptiere die Entwicklung im Reinhardswald, weil andere Schutzgebiete im Nationalpark Kellerwald/Ederee und im Biosphärenreservat Rhön von der Windkraft freigehalten werden könnten. Und auch für den Reinhardswald seien die Folgen „akzeptabel“.
Mark Harthun vom Nabu schreibt uns, in Hessen seien die Flächen für den Windkraftausbau bereits so ausgewählt, dass der Eingriff in die Natur möglichst gering sei. Im Reinhardswald habe der NABU zudem erreicht, dass ein über 1.000 Hektar großer Naturwald gesichert worden sei und „in Kürze als Naturschutzgebiet ausgewiesen wird“. In diesem Gebiet würden künftig gar keine Bäume mehr für die Holznutzung gefällt. „Der sich hier entwickelnde wilde Wald ist naturschutzfachlich weitaus bedeutender als die teils intensiv bewirtschafteten Forstbereiche im Reinhardswald, auf denen nun Windkraftanlagen errichtet werden“, so Harthun.
„Rettet den Reinhardswald“ argumentiert gegen die Windräder
Nicht alle sehen die geplanten Windräder positiv. Annette Müller-Zitzke engagiert sich mit dem „Aktionsbündnis Märchenland“ gegen ihren Bau. Von ihr wollten wir wissen, wie sie den Facebook-Beitrag bewertet und ob er aus ihrer Sicht dem Protest nütze oder schade.
Sie schrieb uns: „Für uns und unser Ziel, den Reinhardswald zu erhalten, sind solche Falschaussagen nicht nur ärgerlich, sondern sogar schädlich, weil damit die gesamte wichtige Thematik schnell als unglaubwürdig und übertrieben abgetan wird.“ Das Bündnis habe sich in Rundbriefen zu Falschbehauptungen geäußert, auch zu den schon lange kursierenden angeblich 800 Jahre alten gefällten Bäumen.
Dennoch seien die angerichteten Schäden im Reinhardswald bereits verheerend. Müller-Zitzke verweist auf die Fällung 200 Jahre alter Bäume, die Erhitzung des Waldes durch die Rodungen und Bodenschäden „im Zusammenhang mit dem Abtransport der gefällten Bäume“. Dem Argument, die zur Bebauung vorgesehenen Flächen seien durch Stürme und Borkenkäfer bereits geschädigt, widerspricht sie. Flächen, die durch Stürme geschädigt worden seien, hätten „inzwischen längst wieder neuen, meterhohen Bewuchs“ gezeigt und stellten „neue wertvolle Ökosysteme innerhalb des Waldes“ dar.
In den vergangenen Jahren berichteten verschiedene Medien immer wieder über den Konflikt um den Ausbau der Windkraft im Reinhardswald und ließen dabei Befürworter und Kritiker des Projekts zu Wort kommen (hier, hier, hier und hier).
Zwischenfazit: An der Zustimmung zum Bau der Windkraftanlagen im Reinhardswald waren nicht nur die Grünen, sondern auch die CDU und die SPD beteiligt. Es werden nicht 20, sondern 18 Windräder gebaut. Wie viele Bäume dafür gefällt werden müssen, ist nicht klar, aber es sind laut Naturschutzorganisationen deutlich weniger als 120.000. Klar ist, dass ein Teil der gefällten Bäume aufgeforstet wird und die für den Bau der Anlagen benötigte Fläche nur 0,15 Prozent des Gesamtwaldes beträgt. Zudem werden die Windräder nicht in solchen Gebieten gebaut, die zum sogenannten „Urwald Sababurg“ gehören. Falsch ist auch, dass 800 Jahre alte Bäume gefällt würden.
Wieso ein Vergleich zwischen Atomkraftwerken und Windrädern schwierig ist
Aber wie steht es um die Behauptung, ein Atomkraftwerk würde 1.160 Windräder ersetzen? Die Antwort auf diese Frage hängt vor allem davon ab, welche Anlagen miteinander verglichen werden.
In Deutschland wurden die letzten Atomkraftwerke – Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland – am 15. April 2023 abgeschaltet. Am leistungsstärksten von diesen Kraftwerken war Isar 2. Laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) hatte es eine Nettoleistung von 1410 Megawatt und war damit zusammen mit dem 2021 abgeschalteten AKW Brokdorf das leistungsstärkste AKW in Deutschland. Auf seiner Webseite schreibt das Betreiberunternehmen Preussen Elektra, Isar 2 habe im Jahr durchschnittlich 11 Millionen Megawattstunden Strom produziert.
Ein Vergleich von Windkraftwerken mit Isar 2 hat jedoch verschiedene Fallstricke. Zu beachten sind dabei der Standort der Windräder, die maximale Leistung der Anlage und die Zeit, zu der diese wirklich ausgeschöpft wird. Zu behaupten, ein Atomkraftwerk würde 1.160 Windräder ersetzen, ist daher irreführend.
Moderne Windkraftanlagen auf See produzieren am meisten Strom
Aus einer Statistik der Bundesnetzagentur geht hervor, dass Ende November 2023 in Deutschland 29.607 Windkraftanlagen an Land mit einer Leistung von 60.660 Megawatt installiert waren. Offshore waren es 1.561 Anlagen mit einer Leistung von 8.429 Megawatt.
Das entspricht einer durchschnittlichen Leistung der Windkraftanlagen an Land von rund 2,05 Megawatt und bei Anlagen auf See von rund 5,4 Megawatt. Doch diese Zahl berücksichtigt nicht, dass neue Windkraftanlagen leistungsstärker sind als alte.
Ein Mitarbeiter des Umweltbundesamtes (UBA) schrieb auf Anfrage, die Zahl der Windkraftanlagen an Land setze sich aus vielen alten (kleineren, weniger leistungsstarken) Anlagen und neueren Anlagen zusammen. Bei Neuanlagen an Land könne man von einer Leistung von drei bis sechs Megawatt pro Anlage ausgehen, wobei das Leistungswachstum anhalte und bereits Anlagen mit über sieben Megawatt genehmigt worden seien. Moderne Anlagen auf See erreichten bis zu zehn Megawatt Leistung. Bei der Behauptung im Facebook-Beitrag geht es vermutlich um Windräder an Land.
Für alle Anlagen gilt, dass sie nicht immer ihre volle Leistung erreichen, denn der Wind weht nicht immer stark genug. Ob sie ihre volle Leistung erreichen, hängt vom Standort der Anlage, ihrer Höhe und dem Anlagentyp ab. Der Mitarbeiter des UBA schrieb uns, dass moderne Windräder an Land im Schnitt zwischen 2300 und 2800 Volllaststunden erreichen können. Bei Anlagen auf See könnten 3500 bis 4000 Volllaststunden erreicht werden. Ein Jahr hat 8760 Stunden.
Wie viele Windräder genau gebraucht würden, um beispielsweise Isar 2 zu ersetzen, kann also stark variieren. Wir haben jeweils einen Fall mit einer geringen und einen mit einer hohen Leistung von Windkraftanlagen an Land und auf See berechnet.
Fall 1: Es bräuchte 2.329 Windräder an Land mit einer Leistung von 2,05 Megawatt bei 2.300 Volllaststunden, um Isar 2 zu ersetzen.
Fall 2: Es bräuchte 654 Windräder an Land mit einer Leistung von 6 Megawatt bei 2.800 Volllaststunden, um Isar 2 zu ersetzen.
Fall 3: Es bräuchte 581 Windräder auf See mit einer Leistung von 5,4 Megawatt bei 3.500 Volllaststunden, um Isar 2 zu ersetzen.
Fall 4: Es bräuchte 274 Windräder auf See mit einer Leistung von 10 Megawatt bei 4.000 Volllaststunden, um Isar 2 zu ersetzen.
Es sind also je nach Alter der Windräder und ihrer Auslastung tatsächlich viele Anlagen nötig, um ein sehr leistungsstarkes AKW wie Isar 2 zu ersetzen. Pauschal zu behaupten, dass 1.160 Windräder ein AKW ersetzen, greift jedoch zu kurz, denn moderne Windräder sind leistungsstärker und werden nicht nur an Land gebaut.
Korrektur 26. Januar 2024: Wir haben korrigiert, dass die korrekte Einheit für die Leistung von Isar 2 und den an Land installierten Windrädern in Deutschland nicht Megawatt pro Stunde, sondern Megawatt ist.
Redigatur: Steffen Kutzner, Viktor Marinov
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Hintergrundinformation des Regierungspräsidiums Kassel über das Genehmigungsverfahren von 18 Windkraftanlagen im Reinhardswald, 9. März 2022: Link
- Genehmigungsbescheid des Regierungspräsidiums Kassel über den Bau von 18 Windkraftanlagen, 1. Februar 2022: Link