Faktencheck

Internes Behördenschreiben missverstanden: Wer ausreisepflichtig ist, wird abgeschoben

Ein Foto einer „Anweisung“ an die Bundespolizei, die keine ist, sorgt für Verwirrung im Netz. Manche sehen darin den Beweis, dass Personen nicht abgeschoben werden, wenn sie das nicht wollen. Doch so einfach ist es nicht – Abschiebungen werden selten abgebrochen, bei Widerstand droht Haft und die Abschiebung wird wiederholt.

von Steffen Kutzner

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Bei Abschiebungen wird keine Rücksicht darauf genommen, ob die Person abgeschoben werden will oder nicht (Symbolbild: Michael Bihlmayer / Chromorange / Picture Alliance)
Behauptung
Ein Foto einer Dienstanweisung aus Niedersachsen bestätige, wer nicht abgeschoben werden will, werde nicht abgeschoben. Denn in der Dienstanweisung heißt es, dass die Bundespolizei eine auszuweisende Person, wenn sich diese aktiv oder passiv der Abschiebung widersetze, auf freien Fuß setzen und eigenständig in die ihr zugewiesene Unterkunft zurückreisen lassen könne.
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Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Das Schreiben war laut der niedersächsischen Landesaufnahmebehörde missverständlich formuliert und wurde nur einmal verschickt. Ob eine Abschiebung durchgeführt wird, entscheidet vor Ort auch die Bundespolizei. Abschiebungen müssen manchmal abgebrochen werden, etwa weil jemand aus Gesundheitsgründen flugunfähig ist oder sich heftig wehrt. Wenn eine Abschiebung scheitert, bedeutet das aber nicht, dass die Person einfach in Deutschland bleiben darf. Sie bleibt weiterhin ausreisepflichtig und die Abschiebung wird erneut eingeleitet. Die alleinige Aussage, nicht abgeschoben werden zu wollen, reicht nicht für den Abbruch aus.

„Erklärung zur eventuellen Ausreiseverweigerung“ ist der Betreff eines Briefs der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen an die Bundespolizei am Flughafen Düsseldorf. Darin findet sich ein Satz, der viele Menschen irritiert: „Wenn sich der Betroffene weigert, in das Flugzeug zu steigen, bzw. auf eine andere Art versucht, sich der Abschiebung zu widersetzen (aktiver/passiver Widerstand), kann dieser auf freien Fuß gesetzt werden und eigenständig zu der ihm zugewiesenen Unterkunft zurückreisen.“ Der Betroffene habe sich danach umgehend bei seiner Ausländerbehörde zu melden und die Bundespolizei solle die entsprechenden Unterlagen zur gescheiterten Abschiebung eben jener Behörde zusenden. 

Über das Schreiben berichtete am 21. August 2024 die Bild-Zeitung: „Wer sich weigert oder wehrt, darf bei uns bleiben“, heißt es und es sei eine „unfassbare Dienstanweisung“. In Sozialen Netzwerken werden der Artikel und das Schreiben mit einem ähnlichen Tenor weiterverbreitet, etwa von Politikern und Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft DPolG. 

Wir haben bei der Bundespolizei und bei der zuständigen Behörde in Niedersachsen nachgehakt, was es mit dem Schreiben und der vermeintlichen Dienstanweisung auf sich hat. 

Wer hat die Behauptung verbreitet?

Das Schreiben wurde auch in Sozialen Netzwerken verbreitet, etwa auf X, Facebook und Telegram. Unter anderem der Bundesvorsitzende der DPoIG, Rainer Wendt, teilte das Schreiben in einem Facebook-Beitrag, der mehr als 11.500 Mal geteilt wurde. 

Mehr als 3.000 Mal wurde ein ähnlicher Beitrag von Manuel Ostermann, innenpolitischer Sprecher der Jungen Union NRW und stellvertretender Bundesvorsitzender der Polizeigewerkschaft DPoIG, auf X geteilt. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert bezeichnete das Schreiben in einem X-Beitrag als „Lachnummer Deutschland“. Auch der für das Verbreiten von Desinformation bekannte Blogger Tim Kellner kommentierte es in einem Telegram-Beitrag.

Diese vermeintliche Dienstanweisung hat für einige Verwirrung gesorgt. Sie ist missverständlich und wird nicht mehr eingesetzt. (Quelle: X)

Schreiben war laut der Behörde in Niedersachsen keine Weisung und „missverständlich und unpräzise formuliert“

Grundsätzlich kommt es zu einer sogenannten „erzwungenen Rückführung“ dann, „wenn die pflichtgemäße Ausreise in der gesetzten Frist nicht freiwillig erfolgt ist, erklärt das Bundesinnenministerium auf seiner Webseite. Die Rückführung sei das letzte Mittel. Rechtliche Bestimmungen rund um die Rückführung sind im Aufenthalts- und Asylgesetz festgelegt. 

Laut einer Pressesprecherin der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen – die Behörde, die das Schreiben versendet hat – handelt es sich um ein internes Behördenschreiben, „das leider ausgesprochen missverständlich und unpräzise formuliert ist“. Es sei nur von einem einzigen Vollzugsteam für einen einzigen Fall verwendet worden, um die Bundespolizei auf die Rechtslage hinzuweisen und gleichzeitig die Daten der zuständigen Dienststelle weiterzugeben, falls es zu einem Abbruch der Abschiebung kommt. 

Es handele sich „ausdrücklich nicht um eine Weisung, grundsätzlich Personen auf freien Fuß zu setzen“, nur weil sie nicht abgeschoben werden wollen. Das Schreiben werde nicht mehr eingesetzt. Außerdem, so die Sprecherin, habe die Landesaufnahmebehörde auch gar keine Befugnis, der Bundespolizei eine solche Anweisung zu geben. Dasselbe kommunizierte die Landesaufnahmebehörde auch in einer Pressemitteilung zu dem Vorfall und spricht von einem „bedauerlichen Einzelfall“. 

Der Bild-Bericht vom 21. August 2024 wurde bis zum 30. Oktober nicht angepasst – er ist weiterhin online verfügbar. Auf Nachfrage, warum es keine Korrektur gab, verwies Unternehmenssprecher Christian Senft auf einen Folgeartikel vom 22. August. Darin wird die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens mit den Worten zitiert: „Es gibt keine Anweisung der Niedersächsischen Landesaufnahmebehörde an die Bundespolizei, Rückführungen bei Widerstandshandlungen abzubrechen.“ Auf den Kontext, dass eine gescheiterte Abschiebung kein Bleiberecht bedeutet, wird nicht näher eingegangen. Wir konfrontierten auch den DPolG-Vorsitzenden Rainer Wendt, der das Schreiben auf Facebook verbreitete. Er reagierte auf unsere Anfrage nicht und liefert keinen weiteren Kontext. 

Wir erklären im Folgenden die Rechtslage.    

Wer sich einer Abschiebung widersetzt, kommt entweder auf freien Fuß – oder in Haft

Wenn sich eine ausreisepflichtige Person, die in Deutschland in Freiheit lebt, der erzwungenen Rückkehr widersetzt oder diese anderweitig scheitert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Person in Haft genommen – oder sie wird auf freien Fuß gesetzt. 

Im konkreten Fall war die Abschiebung abgebrochen worden, weil die Person Widerstand leistete, wie uns eine Sprecherin der Bundespolizei mitteilte. Die Person sei auf Anraten der Bundespolizei in Abschiebehaft genommen und wenige Tage später abgeschoben worden. 

In Haft genommen dürften ausreisepflichtige Personen nur dann, „wenn dafür ein richterlicher Beschluss vorliegt“, so die Sprecherin der niedersächsischen Landesaufnahmebehörde. Andernfalls müsse die Person „auf freien Fuß gesetzt und aufgefordert werden, sich eigenständig bei ihrer zuständigen Ausländerbehörde zu melden“. Dafür würden ihr unmittelbar alle nötigen Informationen mitgeteilt. Und eben dieser Sachverhalt sei der Gegenstand und der eigentliche Grund für das Schreiben an die Bundespolizei gewesen. Festgehalten ist das, wie auch in dem Schreiben zu lesen, in Paragraf 71.3.1.2.3. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz.

Da die Person von der zuständigen Landesbehörde am Flughafen in die Zuständigkeit der Bundespolizei übergeben werde, entscheide auch die Bundespolizei darüber, ob eine Abschiebung abgebrochen werde oder nicht, so die Sprecherin. Gründe für einen Abbruch könnten etwa ein schlechter Gesundheitszustand der Person oder Widerstandshandlungen sein. Die bloße Aussage, dass man nicht abgeschoben werden möchte, reiche dafür nicht aus. Auch ob die Widerstandshandlung zu einem Haftantrag bei Gericht führe, entscheide die Bundespolizei.

Wenn eine Person ausreisepflichtig ist und die Abschiebung scheitert, wird diese erneut eingeleitet

Wenn eine Abschiebung gescheitert ist, bedeute das folglich nicht den dauerhaften Verbleib der Person in Deutschland, so die Sprecherin der Landesaufnahmebehörde. „Die Person ist weiterhin ausreisepflichtig und die Abschiebung wird erneut eingeleitet.“ Beim zweiten Mal werde das Verhalten der Person, das zum Scheitern des ersten Abschiebeversuchs führte, berücksichtigt.

Solche Abbrüche kommen aber nicht häufig vor: Im ersten Halbjahr, bis 30. Juni 2024, wurden von den 668 Abschiebungen, die die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen durchgeführt hat, 24 wegen Widerstandshandlungen abgebrochen. In 33 weiteren Fällen führten medizinische Gründe zum Abbruch, so Jonas Hartwig von der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen.

Redigatur: Uschi Jonas, Sarah Thust