Aussage von Ex-EU-Kommissar Thierry Breton missverstanden: EU könnte Wahl in Deutschland nicht annullieren
Der ehemalige EU-Kommissar Thierry Breton soll in einem Interview damit gedroht haben, die Bundestagswahl in Deutschland zu annullieren, etwa, um einen möglichen AfD-Sieg als ungültig zu erklären. Doch das könnte er gar nicht. Breton sprach über die Anwendung des DSA, ein Gesetz über digitale Dienste, in dessen Rahmen die EU kürzlich ein Verfahren gegen Tiktok einleitete.
Am 23. Februar sind Bundestagswahlen. Wie oft im Vorfeld von Wahlen kursieren bereits zahlreiche Falschmeldungen. So verbreitete sich Ende Dezember die Behauptung, der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe gesagt, die Wahl könne annulliert werden, wenn eine „falsche“ oder eine rechte Partei gewinnt. So hat sich Steinmeier nicht geäußert.
Eine Behauptung, die in die gleiche Kerbe schlägt, macht seit Mitte Januar 2025 international die Runde – etwa in französischer, englischer und deutscher Sprache. In teils tausendfach geteilten Beiträgen auf Facebook, X und Tiktok heißt es, Thierry Breton habe mit der Annullierung der Bundestagswahl gedroht und dabei auf die Annullierung der Rumänien-Wahl verwiesen, bei der die EU involviert gewesen sei. Etwas abgewandelt heißt es andernorts, der ehemalige EU-Kommissar für den Binnenmarkt und digitale Dienste habe gesagt, „dass die EU über Mechanismen verfügt, um einen möglichen Wahlsieg der AfD zunichte zu machen“.
Die Beiträge interpretieren eine Aussage von Breton falsch. Wie er wenig später auf X klarstellte, kann die EU keine Wahlen in Mitgliedstaaten annullieren. Worauf sich Breton bei seiner Aussage bezog, wer eine Wahl in Deutschland annullieren kann und was Elon Musk damit zu tun hat, erklären wir im Faktencheck.
Interview von Breton wird verdreht, es ging um die Anwendung des DSA
Mehrere Beiträge verlinken als vermeintlichen Beleg einen kurzen Interviewausschnitt. Breton sagt darin auf Französisch: „Im Moment sollten wir einen kühlen Kopf bewahren und unsere Gesetze in Europa durchsetzen. Denn es besteht das Risiko, dass sie umgangen werden könnten und es, wenn sie nicht durchgesetzt werden, tatsächlich zu Störungen kommen kann. Das wurde in Rumänien gemacht und muss natürlich auch in Deutschland gemacht werden, wenn es notwendig ist.“
Behauptung über Breton wird international missinterpretiert
Der Account Visegrad24, der schon häufiger mit Desinformation auffiel, setzte am 11. Januar einen X-Beitrag mit der Behauptung ab, Thierry Breton habe gesagt, die EU habe „Mechanismen, um einen möglichen Wahlsieg der AfD zu verhindern“. Elon Musk griff diesen auf und nannte Breton einen „Tyrannen Europas“. Sein Beitrag wurde mehr als 20 Millionen Mal angezeigt. Auf diesen reagierte Breton mit einer Klarstellung, dass die EU keine Mechanismen habe, um Wahlen in Mitgliedstaaten zu annullieren. Er habe sich auf die Anwendung des Gesetzes über Digitale Dienste, dem DSA, bezogen.
Mit Überschriften wie „Monsieur Größenwahn: EU macht notfalls Bundestagswahl rückgängig“ und „Früherer EU-Kommissar Thierry Breton: Bundestagswahl muss annulliert werden“ verzerrten auch der Blog Achgut und das rechtspopulistische Internetportal Nius die Aussage Bretons. Auf Nachfrage schreibt Achgut, es sei „offensichtlich, dass Breton einen Zusammenhang zwischen dem DSA und der Annullierung der Wahlen in Rumänien hergestellt habe, und dass die EU das, was sie in Rumänien ‘getan’ hat, auch in Deutschland ‘tun’ wird, falls ‘notwendig’“. Damit sei eindeutig die Anwendung des DSA gemeint, die „nach Bretons eigener Aussage bis zur Annullierung von Wahlen führen kann“. Bretons Klarstellung auf X, die vor Erscheinen des Achgut-Artikels entstand, wird dabei nicht beachtet. Nius antwortete nicht auf eine Anfrage.
Die Podcaster „Hoss und Hopf“, deren Inhalte sich in der Vergangenheit mehrfach irreführend verbreiteten, sprachen in einer Folge vom 12. Januar ebenfalls davon, dass „Breton sagt, dass sie bereit sind, die Wahlen in Deutschland zu annullieren, sollten Parteien drankommen, die wir so nicht wollen“. Auf eine Nachfrage antworteten sie nicht.
Die Berliner Zeitung titelte in einem Artikel vom 11. Januar: „Früherer EU-Kommissar droht, Bundestagswahl zu annullieren“. Auf Nachfrage korrigierten sie diese Darstellung.
Das Video im Netz trägt oben rechts das Logo des französischen TV-Senders RMC. Mit einer Stichwortsuche nach RMC und Worten aus diesem Ausschnitt findet sich das Original. Am 9. Januar war Thierry Breton in der französischen Fernsehsendung „Apolline Matin“ zu Gast – das war kurz vor dem Gespräch zwischen der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel und dem Tech-Milliardär Elon Musk auf X (unseren Faktencheck dazu gibt es hier). Darum geht es zunächst auch in dem Interview.
Breton sagt, Musk habe „das Recht zu denken, was er will, zu sagen, was er will“, auch wenn er das manchmal überzogen tue. Aber in dem Moment, in dem er in Europa agiert, „regulieren wir“. Man werde alle Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass er sich an das Gesetz halte. Wenn er sich nicht daran halte, drohten unter anderem Geldstrafen.
Bei den Regeln, an die sich Tech-Plattformen halten müssen, bezieht sich Breton auf das Gesetz über Digitale Dienste (kurz DSA). Im Rahmen des DSA müssen sehr große Online-Plattformen wie Meta, Tiktok oder X gegen illegale Inhalte vorgehen und Maßnahmen zur Eindämmung von Desinformation ergreifen. Breton gestaltete als damaliger EU-Kommissar für den digitalen Binnenmarkt das Gesetz maßgeblich mit. Er und Elon Musk legten sich in diesem Zusammenhang immer wieder öffentlich miteinander an.
Nach Wahl in Rumänien: EU-Kommission leitete Verfahren gegen Tiktok ein
Im entscheidenden Teil des Interviews geht es aber nicht primär um Musk und X, sondern um Rumänien und Tiktok. Breton sagt, Tiktok stehe im Verdacht, „dass es benutzt wurde, manipuliert wurde, um sich in die Wahlen in Rumänien einzumischen“.
Der prorussische Politiker und Nationalist Călin Georgescu hatte Ende November den ersten Wahlgang in Rumänien gewonnen – dabei soll er aus Russland unterstützt worden sein und dadurch unter anderem eine große Präsenz auf Tiktok erreicht haben. In dem Zusammenhang leitete die EU-Kommission ein Verfahren gegen Tiktok ein, um mutmaßliche Verstöße im Rahmen des DSA zu untersuchen, konkret, ob Tiktok ausreichende Maßnahmen zur Integrität der Wahlen ergriffen hat.
Breton sagt dazu – ohne weiteren Kontext des Gesprächs tatsächlich irreführend – das ginge „bis zur Ungültigkeitserklärung der Wahlen, weil wir dieses Gesetz angewendet haben“. Dabei bezog er sich laut eigener Aussage und, wie aus dem Kontext des ganzen Gesprächs deutlich wird, auf die Anwendung des DSA. Er habe sprachlich abgekürzt, „in jedem Fall sind allein die lokalen Behörden dazu befugt, endgültige Entscheidungen zu treffen, die sie für sinnvoll erachten, und nicht der DSA“, erklärte er gegenüber Medien. Fakt ist: Nicht die EU hatte den ersten Wahlgang annulliert, sondern das Verfassungsgericht in Rumänien.
EU kann Wahlen in Deutschland oder anderen Mitgliedsstaaten nicht für ungültig erklären
An keiner Stelle sagte Breton, die EU habe Mechanismen, um „einen möglichen Wahlsieg der AfD in Deutschland zu verhindern“. Auf X machte er das Gegenteil deutlich: „Die EU hat keinen Mechanismus, um irgendeine Wahl irgendwo in der EU zu annullieren“, schrieb er dort. Die Europäische Kommission bestätigt das auf Nachfrage: „Wahlen sind und bleiben immer eine nationale Kompetenz.“ Und: „Nichts im DSA kann eine nationale Wahl annullieren. Eine solche Entscheidung wird in voller Unabhängigkeit von nationalen Behörden oder Gerichten, wie dem Verfassungsgericht in Rumänien, getroffen.“
Wir haben zudem beim Büro der Bundeswahlleiterin nachgefragt, die für die Überwachung der Bundestagswahl in Deutschland zuständig ist. Von dort heißt es ebenfalls: Die EU oder ihre Institutionen könnten eine Bundestagswahl nicht für ungültig erklären. „Nur der Deutsche Bundestag oder das Bundesverfassungsgericht können entscheiden, dass eine Bundestagswahl ganz oder teilweise ungültig ist.“
Das ist in Artikel 41 des Grundgesetzes geregelt. Jeder und jede Wahlberechtigte kann Einspruch gegen die Bundestagswahl einlegen. Das muss innerhalb von zwei Monaten geschehen. Der Einspruch landet beim Wahlprüfungsausschuss und anschließend im Bundestag. Bleibt der Wahleinspruch ohne Erfolg, kann nach dem Grundgesetz Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden.
Alle Faktenchecks rund um die Bundestagswahl 2025 lesen Sie hier.
Redigatur: Sarah Thust, Gabriele Scherndl
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Interview von Thierry Breton am 9. Januar 2025: Link (französisch)
- Gesetz über digitale Dienste, EU-Kommission: Link
- Grundgesetz, Artikel 41: Link