Gletschermumie Ötzi widerlegt menschengemachten Klimawandel nicht
Eine Grafik zeigt, dass es zur Lebzeit des Steinzeitmenschen Ötzi deutlich kälter war als heute. Online sorgt das für Spekulationen: Wenn es damals so kalt war, wie kam Ötzi dann unter den Gletscher? Doch dabei wird einiges durcheinandergeworfen.

„Der Klimawiderspruch könnte kaum absurder sein“, heißt es in einem Instagram-Beitrag mit fast 4.000 Likes. Anlass ist eine Grafik aus einem Zeit-Artikel, die zeigt, dass es zu Lebzeiten von Ötzi vor etwa 5.300 Jahren kälter war als heute. Die Gletschermumie des Steinzeitmenschen wurde 1991 in den Alpen entdeckt.
Die Grafik sei widersprüchlich, denn daraus, dass die Mumie von einem Gletscher bedeckt war, folge, dass es zu Ötzis Zeiten an seinem Fundort keinen Gletscher gegeben haben kann. Heute bei angeblich wärmeren Temperaturen gebe es aber einen. Der für Desinformation bekannte Finanzwissenschaftler Stefan Homburg schreibt auf X: „Zu Ötzis Zeit war es angeblich viel kälter als heute! Aber wie genau kroch der Kerl unter den Gletscher?“

Zeit-Grafik zeigt globale Temperaturen – regional kann es kälter oder wärmer gewesen sein
Der Zeit-Artikel, aus dem die Grafik in den Beiträgen stammt, beschäftigt sich mit dem Klima über 485 Millionen Jahre Erdgeschichte. In der ersten Grafik ist zu erkennen, dass die Temperaturen als Anomalien, also Abweichungen, zum vorindustriellen Zeitalter, sprich zum Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1900, angegeben sind. Die Grafik mit Ötzi betrachtet den Zeitraum von 10.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung bis heute.
Als Quelle sind mehrere Datensätze erwähnt. Etwa eine Studie, die sich mit der durchschnittlichen globalen Oberflächentemperatur über 485 Millionen Jahre beschäftigt. Für einen Teil der Berechnungen in der Grafik, nämlich die letzten 66 Millionen Jahre, wird zudem Georg Feulner als Quelle genannt. Er ist Forscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Auf Nachfrage schreibt er uns: „Der Kern des Problems dürfte zunächst darin liegen, dass die Kurven im Zeit-Artikel Rekonstruktionen für die globale Mitteltemperatur zeigen, woraus nicht unbedingt folgt, dass der Verlauf in den österreichischen Alpen genauso aussieht.“
Auf der Nordhalbkugel war es vor 9.000 bis etwa 5.000 Jahren wärmer als der globale Durchschnitt heute
Gerade auf der Nordhalbkugel seien die Temperaturen im mittleren Holozän überdurchschnittlich hoch gewesen, schreibt uns Feulner. Das Holozän ist die gegenwärtige Warmzeit, in der wir leben und die vor etwa 11.600 Jahren begann. Forschende gehen davon aus, dass es vor etwa 9.000 bis etwa 5.000 Jahren auf der Nordhalbkugel ein bis zwei Grad wärmer war als im heutigen globalen Schnitt. Diese Zeit nennt man Holozänes Klimaoptimum.
Als globale Kurve enthalte die Zeit-Grafik aber auch die Temperaturen in den Tropen und auf der Südhalbkugel, die damals konstant oder kühler waren, schreibt Feulner. Eine Studie zeigt: Global gesehen war die letzte Dekade (2011 bis 2019) 0,3 Grad wärmer als die wärmste Phase während des Holozänen Klimaoptimums vor etwa 6.500 Jahren. Dass es beim Klima in der Erdgeschichte regionale Unterschiede gab, darüber haben wir bereits mehrfach berichtet.
Auch beim aktuellen Klimawandel gibt es solche Unterschiede, wie wir hier berichten: Das liegt daran, dass die globale Durchschnittstemperatur auch über den kühleren Meeren gemessen wird, Landregionen erwärmen sich grundsätzlich stärker. Europa erwärmt sich beispielsweise von allen Kontinenten am schnellsten. Während der Anstieg global 1,35 Grad Celsius seit der vorindustriellen Zeit beträgt, liegt er in Europa bei 2,4 Grad.
Im Alpenraum war es zur Zeit von Ötzi ungefähr so warm wie heute
Ötzi lebte vor etwa 5.300 Jahren. Die Forschung zeigt, dass es zu dieser Zeit langsam wieder kühler wurde, wie der Glaziologe Pascal Bohleber auf der Webseite der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erklärt. Er fand in einer Studie heraus, dass ein Gipfel in der Nähe des Fundortes von Ötzi während des Holozänen Klimaoptimums schon einmal eisfrei war. Die Gletscher wuchsen dann vor rund 5.900 Jahren wieder, als das Klima kälter wurde. Ob Ötzi ein paar hundert Jahre später im Eis starb oder ob sein Körper erst nach seinem Tod vom Eis eingeschlossen wurde, sei unklar. Von dem Eis, in dem Ötzi gefunden wurde, gebe es heute keine Proben mehr. Anders als online behauptet, gibt es an dem Fundort auch keinen Gletscher mehr.
Auch Andrea Fischer, Forscherin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, erklärt gegenüber dem Österreichischen Rundfunk: „Zur Zeit um Ötzis Tod waren die Alpengletscher wahrscheinlich größtenteils eisfrei – die Temperaturen waren ähnlich wie heute.“ Danach habe sich das Klima abgekühlt und die Gletscher hätten sich regeneriert. Wie schnell es abgekühlt sei, sei eine Streitfrage, schreibt uns Fischer, daher könne man nicht genau sagen, ob Ötzi im Grünen gestorben sei.
Fischer fand 2022 in einer Studie heraus, dass Ötzi nicht an seinem Fundort gestorben war und über die vergangenen tausenden Jahre mehrfach für kurze Zeit durch Schmelzprozesse freigelegt worden war. Uns schreibt sie weiter, an Ötzi sehe man gut, dass es derzeit wärmer werde als im Holozänen Klimaoptimum.
Weder Stefan Homburg noch der Instagram-Nutzer reagierten bis zur Veröffentlichung auf unsere Rechercheergebnisse.
Gletscher schmelzen laut verfügbaren Daten aktuell schneller als je zuvor
Dass die Alpengletscher in der Vergangenheit aufgrund regionaler natürlicher Klimaschwankungen schrumpften und wuchsen, haben wir in einem früheren Faktencheck erklärt. Ein Widerspruch zum aktuellen Einfluss des Menschen auf das Klima ist das laut Experten aber nicht. „Seit circa der Mitte des 20. Jahrhunderts verzeichnen wir einen Rückgang der Gletscher in einem Ausmaß und in einer Geschwindigkeit, wie er uns aus der Vergangenheit unbekannt ist”, schrieb uns Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Diese Entwicklung sei nicht nur regional, sondern global zu beobachten. Die letzten vier Jahrzehnte seien die vier wärmsten in den historischen Aufzeichnungen und „vermutlich auch seit mehreren tausend Jahren“ gewesen.
Ähnlich äußerte sich auch der Glaziologe Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften auf unsere Anfrage. Insbesondere die Geschwindigkeit der Gletscherschmelze sei ein Unterschied zur Vergangenheit. Früher hätten Gletscher 500 Jahre benötigt, um abzuschmelzen. Heute geschehe dies innerhalb weniger Jahrzehnte. „Der menschliche Einfluss auf das Klima, den wir heute beobachten, hat eine viel stärkere Intensität und ist viel schneller.“ Seit etwa 150 Jahren seien die Temperaturen so schnell angestiegen, wie bisher noch in keiner Epoche zuvor, die aus Daten rekonstruiert werden konnte.
Redigatur: Matthias Bau, Max Bernhard
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Studie: „A 485-million-year history of Earth’s surface temperature“, Science, 20. September 2024: Link (archiviert)
- Artikel: „Holozäne Klimaänderungen und Waldgrenzschwankungen in den Alpen“, In Warnsignal Klima: Hochgebirge im Wandel, Universität Hamburg, 1. November 2020: Link (archiviert)
- Artikel: „Klimawandel: Ötzi musste sich warm anziehen“, Österreichische Akademie der Wissenschaften, 17. Dezember 2020: Link (archiviert)
- Studie: „Ötzi, 30 years on: A reappraisal of the depositional and post-depositional history of the find“, The Holocene, 7. November 2022: Link (archiviert)