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The Kids Aren’t Alright

Die Zahl der islamistisch radikalisierten Kinder in Deutschland sei weiter gestiegen, warnt die AfD. Als Beleg zieht Bundessprecher Jörg Meuthen einen Artikel der „Hessenschau” heran. Der ist ein Jahr alt und bezieht sich vor allem auf die Stadt Frankfurt am Main.

von Pauline Schinkels

© John Macdougall / AFP

Innere Sicherheit, das war selten ein so großes Thema wie bei den vergangenen Landtagswahlen – und wie jetzt zur Bundestagswahl. Schnellere Abschiebungen von islamistischen Gefährdern, mehr Polizei – das fordern nahezu alle Parteien. Nicht zuletzt, um die Möglichkeit eines Terroranschlags in Deutschland zu verringern. Und sie gehen damit auf Stimmenfang.

„Die Anzahl muslimischer Kinder, die von radikalen Eltern zur hasserfüllten Ablehnung Deutschlands erzogen werden, steigt immer weiter“, das postete AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen zwei Wochen vor der Bundestagswahl auf Facebook. Und meint damit wohl Kinder wie Safia S. aus Hannover einst eines war.

Bei Youtube gibt es ein Video von Safia S., das die damals Neunjährige zeigt, wie sie lacht, wie sie flüstert, bis sich der Mann neben dem Kind schließlich hinunterbeugt und ihr sein Mikro gibt. Dann beginnt Safia zu sprechen. Knapp neun Minuten dauert diese Aufnahme aus dem Jahr 2009. Sie zeigt Safia, ganz in schwarz verhüllt, und Pierre Vogel, ganz in weiß, sieben Jahre bevor Safia einen Bundespolizisten am Hauptbahnhof Hannover niederstach. Und das Oberlandesgericht Celle vorerst urteilte, Safia habe mit der Tat den sogenannten „Islamischer Staat“ (IS) unterstützen wollen.

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Safia S. aus Hannover und Pierre Vogel in einem Youtube-Video von 2009. Derzeit sitzt sie in U-Haft, ihr Revisionsverfahren läuft inzwischen vor dem Bundesgerichtshof. Quelle: Screenshot des Youtube-Videos „Neues von Safia aus Hannover“

Gibt es in Deutschland zunehmend Kinder, wie Safia, die bereits sehr früh mit islamistischen Ideologien wie dem Salafismus in Berührung kamen? Kinder, deren Radikalisierung bereits im Grundschulalter, im Kindergarten beginnt, wie es die AfD suggeriert?

Der Beitrag, auf den Meuthen sich bezieht, ist von der „Hessenschau“. Ein Artikel, den kurze Zeit später auch die Schweizer Online-Plattform „Blick.ch“ aufgriff. Der Text ist ein Jahr alt. Zitiert wird der Leiter des Staatsschutzes vom Polizeipräsidium Frankfurt am Main. Es geht um Kinder, die zum Hass erzogen werden, um Kinder, denen angeblich Enthauptungsvideos gezeigt werden, es geht um Kinder, die ihren Mitschülern mit dem Tod drohen. Und natürlich geht es für die AfD in einem Atemzug damit auch darum, dass die Rechtspopulisten finden, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

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Facebook-Post von Jörg Meuthen (AfD) vom 13. September 2017, der etwa 2.500 Mal geteilt wurde.

Einzelfälle von betroffenen Kindern

„Ja, wir haben vereinzelte Fälle, in denen Kinder im Grundschulalter bereits islamistische Ansichten vertreten, bzw. diese aus dem Elternhaus oder dem sozialen Umfeld wiedergeben“, sagt Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das seien aber absolute Ausnahmen. Fälle in denen Kinder sich entsprechend im Kindergarten, in der Schule äußerten.

Oft sind es dann Erzieher oder Lehrer, die sich bei der Beratungsstelle melden. 3.800 Gespräche wurden seit 2012 geführt. Und die Zahl der Beratungen nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Neben dem BAMF haben auch diverse Bundesländer Anlaufstellen eingerichtet. Im Präventionsprogramm „Wegweiser“ von Nordrhein-Westfalen sind in der ersten Jahreshälfte 507 Personen betreut worden, 18 Prozent von ihnen waren jünger als 14 Jahre.

Unter dem Oberbegriff Salafismus versteht man eine vom Wahhabismus geprägte islamistische Ideologie, die sich an den Vorstellungen der ersten Muslime und der islamischen Frühzeit orientiert. Die Mehrzahl der Salafisten in Deutschland sind keine Terroristen, sondern politische Salafisten. Andererseits, schreibt der Verfassungsschutz, sind fast alle in Deutschland bisher identifizierten terroristischen Netzwerkstrukturen und Einzelpersonen salafistisch geprägt beziehungsweise haben sich im salafistischen Milieu entwickelt.

Zahlen fehlen

Wie viele Kinder es über NRW hinaus bundesweit genau sind, wird nirgendwo genau erfasst. „Wir dürfen Kinder nicht beobachten“, sagt eine Sprecherin des Verfassungsschutzes. Und verweist auf das Verfassungsschutzgesetz. Demnach dürfen Informationen über Minderjährige vor Vollendung des 16. Lebensjahres nicht an ausländische sowie über- oder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. Registriert wird aber die Zahl der ausreisenden Minderjährigen: Wie bei Safia. Die über die Türkei nach Syrien reisen wollte. Oder wie bei Linda W. aus Pulsnitz, die in Mossul aufgegriffen wurde. Beide waren zum Zeitpunkt ihrer Ausreise 15 Jahre alt.

Insgesamt sind etwa fünf Prozent der Ausreisenden in den Irak oder nach Syrien noch minderjährig, so dokumentierte es der Verfassungsschutz für das vergangene Jahr. Der Großteil ist älter: 2016 waren die meisten Ausreisenden zwischen 22 und 25 Jahre alt. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde in Deutschland geboren. Knapp ein Viertel ist konvertiert. 72 der registrierten Personen (von 784) waren zum Zeitpunkt der Ausreise noch Schüler, ein Viertel von ihnen besuchte ein Gymnasium. Diese Zahlen zur Herkunft, zum schulischen Abschluss, zum Alter erzählen aber weit weniger von Kindern, sondern viel mehr von islamistisch radikalisierten Jugendlichen.

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Alter der Ausreisenden in den Irak und nach Syrien (Quelle: Verfassungsschutz 2016). Der IS fordert seine Anhänger im Westen seit geraumer Zeit dazu auf, nicht mehr in das „Kalifat“ auszureisen, sondern in ihren Heimatländern Anschläge zu verüben.

Insbesondere Jugendliche gefährdet

Vor allem Jugendliche werden von den Salafisten umworben, ob auf der Straße, vor Jugendzentren oder vor Schulen: Ein vermeintlich lockeres Gespräch, jemand der jemanden kennt, ein Moscheebesuch mit einem Freund, einer Freundin. „Die persönliche Ansprache ist für die Extremisten immer noch die effektivste Rekrutierungsmaßnahme“, sagt Michael Kiefer. Weit bedeutender als lose Chatkontakte, Propagandavideos oder das eigene Elternhaus.

Wie beim 13-Jährigen aus Ludwigshafen. Der Jugendliche hatte Mitte Dezember vergangenen Jahres versucht, eine Bombe am Weihnachtsmarkt in Ludwigshafen abzulegen. Einem Bericht des SWR „Report Mainz“ zur Folge soll ein Betreuer des Jugendlichen ein mutmaßlicher Salafist gewesen sein. 

„Jugendliche bauen sich in ihrem Extremismus oft eine Art Gegenwelt zum Elternhaus auf“, sagt Kiefer. Der Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück hat im Auftrag des Bundesjugendministeriums untersucht, warum sich Jugendliche radikalisieren. Eine Frage auf die es nicht die eine Antwort gibt, sondern lediglich viele Antwortversuche. 

Immer jünger und immer mehr

„Salafistische Gruppen sind häufig eine Art Auffangbecken“, sagt Kiefer. Für Jugendliche, die in einer Identitätskrise stecken, die verunsichert sind, die sich in der Schule oder in der Familie nicht mehr zurecht finden. Die Religion, suggerieren die Salafisten, biete ihnen Sicherheit, Rückhalt, ein neues Selbstbewusstsein. Während die Welt da draußen angeblich auf die Jugendlichen herabblicke und ihre Religion, ihre Herkunft mit den Füßen trete, versprechen die Salafisten den Jugendliche das Gefühl wieder ernst genommen zu werden, wieder etwas wert zu sein.

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Eine Überschrift des rechten Blogs „PI-NEWS“ vom 14. September 2017.

Und die Jugendlichen, die sie erreichen, werden immer jünger, auch wenn die Wenigsten von ihnen noch im Kindesalter sind. „Wir beobachten, dass sich das Durchschnittsalter der Betroffenen in den vergangenen Jahren abgesenkt hat“, sagt Endres vom BAMF. 2012 als das BAMF seine Beratungsstelle ins Leben rief, lag das Durchschnittsalter noch bei über 20 Jahren. Inzwischen sind sie bei über 18 Jahre. Und es werden mehr.

Zahl der Salafisten steigt

Vergangenen Freitag gab der Verfassungsschutz bekannt, dass die Zahl der Salafisten in Deutschland erneut gestiegen sei. Inzwischen rechnen die Sicherheitsbehörden 10.300 Menschen dieser Szene zu. Der Salafismus ist „sowohl in Deutschland wie auch auf internationaler Ebene die zurzeit dynamischste islamistische Bewegung.“

Bedeuten mehr Salafisten auch mehr islamistisch radikalisierte Jugendliche? „Wir haben etwa 20 bis 30 Prozent mehr Personen in unseren Beratungsangeboten“, sagt Thomas Mücke von „Violence Prevention Network“, das rechtsextreme Jugendliche genau wie islamistische Jugendliche ab 14 Jahre betreut und Extremismusprävention und Deradikalisierungsprogramme anbietet. Auch das Wegweiser-Programm von NRW, das sich vor allem an Menschen wendet, die bereits mit der salafistischen Szene sympathisieren oder in diese abzurutschen drohen, steht mit deutlich mehr Personen als im vergangenen Jahr in Kontakt.

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Insgesamt lagen dem Verfassungsschutz 2016 zu 69 Ausgereisten Informationen vor, dass sie zu Beginn ihrer Radikalisierung noch minderjährig waren (19%). Die Zahl der Ausreisenden geht seit Jahren zurück. Quelle: Verfassungsschutz

Auch die rechtsextreme Szene wächst

„Wir dürfen bei den ganzen Zahlen aber nicht vergessen, dass wir natürlich viel sensibilisierter für das Thema geworden sind“, sagt der Islamwissenschaftler Kiefer. Heute werde viel schneller gemeldet, wenn sich ein Anfangsverdacht einer möglichen Radikalisierung ergebe. „Es reicht aber nicht, wenn die Eltern fundamental gläubig sind, um ein Kind in Obhut zu nehmen“, sagt Kiefer. Das lasse der gesetzliche Rahmen nicht zu. 

Ähnlich wie die Salafisten, bekommen aber auch die Rechtsextremen Zulauf. Deren Anzahl belief sich laut Verfassungsschutz 2016 nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften auf insgesamt rund 23.100, also in etwa doppelt so vielen Personen, wie aktuell der salafistischen Szene zugerechnet werden. 

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„Rechtsextremismuspotenzial 2014-2016“, die Zahlen sind zum Teil geschätzt und gerundet. Quelle: Verfassungsschutz

„Das Thema darf nicht verharmlost, es darf aber auch nicht dramatisiert werden“, sagt Kiefer. Die AfD nutzt die Extremisten, um Ängste gegen den Islam zu schüren. Die Extremisten nutzen das möglicherweise, um Jugendlichen muslimischen Glaubens ihre vermeintliche gesellschaftliche Ausgrenzung aufzuzeigen und sie anzulocken. Am Ende verlieren bei der Debatte, wie sie die AfD sie derzeit führt, alle.