Hintergrund

Russische Propaganda: Die Mär der SS-Großväter deutscher Politiker

Russland begründet den Krieg gegen die Ukraine mit einer „Entnazifizierung“. Auch deutschen Politikern wird jetzt eine falsche Nazi-Vergangenheit angedichtet. Die Spur führt zu einem bekannten russischen Oligarchen, dem vorgeworfen wird, eine „Trollfabrik“ zu finanzieren. 

von Sarah Thust

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Olaf Scholz, Christian Lindner und Karl Lauterbach wurde in Sozialen Netzwerken angedichtet, ihre Großväter seien hochrangige SS-Funktionäre gewesen. Die Desinformation geht auf einen Online-Kommentar des russischen Oligarchen Jewgeni Prigoschin zurück. (Quellen: Picture Alliance, Telegram; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

„Russland besiegt erneut den Nationalsozialismus“ – unter dem Hashtag #RusDefeatsNazismAgain veröffentlichte ein russischsprachiger Telegram-Kanal im April Bildcollagen von drei deutschen Politikern: Olaf Scholz, Karl Lauterbach und Christian Lindner. Die Bilder zeigen angeblich deren Großväter, die in den höchsten Rängen der Nationalsozialisten gedient hätten. Es wird suggeriert, Deutschland wolle ein „Viertes Reich“ schaffen. Beweise gibt es dafür nicht – doch der Vorwurf, die Regierung sei von Neonazis durchsetzt, kommt nicht zufällig. Im Krieg gegen die Ukraine nutzt Russland das Narrativ, um die Invasion zu rechtfertigen.

Die Vorwürfe scheinen grotesk – und sie sind falsch: Der Großvater von Bundeskanzler Olaf Scholz hieß nicht Fritz von Scholz (zum Faktencheck), General Gerhard Lindner ist nicht der Großvater von Finanzminister Christian Lindner (zum Faktencheck), und Hartmann Lauterbacher ist auch nicht der Großvater von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (zum Faktencheck).

Eine Collage zeigt Olaf Scholz, Karl Lauterbach und Christian Lindner neben historischen Fotos von SS-Funktionären.
Diese Bildcollagen zeigen angeblich die Nazi-Großväter von Olaf Scholz, Karl Lauterbach und Christian Lindner – das ist falsch (Quelle: Telegram; Screenshots, Collage und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Bilder verbreiten sich dennoch in Sozialen Netzwerken weltweit – wir fanden sie zum Beispiel auf Twitter und Facebook in verschiedenen Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Französisch. In Deutschland teilte sie auch der Telegram-Kanal „Neues aus Russland“, in dem die Bloggerin Alina Lipp immer wieder russische Desinformation über den Krieg in der Ukraine veröffentlicht. Wir fanden die Bilder aber auch in den Kanälen der Qanon-Bewegung und vereinzelt in Gruppen, in denen sonst vor allem die Corona-Pandemie heruntergespielt wird.

In Sozialen Netzwerken lösen die Bildcollagen der angeblichen SS-Großväter deutscher Politiker vor allem eines aus: wütende und gehässige Reaktionen. Manche Menschen halten sie für echt, wittern darin eine geheime Nazi-Verschwörung. „Diktatur hat im Hause Scholz Tradition…“, schreibt beispielsweise ein Nutzer. 

Die Behauptungen über Nazi-Großväter gehen offenbar auf Jewgeni Prigoschin zurück

Die Spur der Falschbehauptungen führt in das Umfeld des Kremls: zu dem 60-jährigen Russen Jewgeni Prigoschin, der in Medienberichten auch „Putins Koch“ genannt wird. Er gründete die Firma Concord Catering und bediente Berichten zufolge den russischen Präsidenten in einem seiner Restaurants. Er soll zudem hinter einer bekannten russischen „Trollfabrik“ stecken: der Internet Research Agency. 

Am 5. März veröffentlichte der Account „Pressedienst der Firma Concord“ in dem russischen Sozialen Netzwerk VK ein Zitat von Prigoschin: „Es stellt sich heraus, dass der Großvater von Bundeskanzler Olaf Scholz Generalleutnant der SS war und persönlich an der Erschießung von Juden in den Gebieten Polens und der heutigen Ukraine beteiligt war. Der unmittelbare Vorfahre des deutschen Finanzministers Christian Lindner, ein Wehrmachtsgeneral, nahm an der Operation zur Blockade von Leningrad teil. Der Großvater des deutschen Gesundheitsministers leitete die Hitlerjugend und schickte Kinder in den Krieg.“ Ein Beleg für die Echtheit des Accounts ist, dass die dort veröffentlichten Pressemitteilungen häufiger von russischen Medien zitiert werden.

Die ersten Bildcollagen mit Fotos von Olaf Scholz und dessen angeblichem Großvater erschienen bereits wenig später in dem russischen Sozialen Netzwerk und bauten auf dieser Erzählung auf. 

Der ursprüngliche Beitrag der Catering-Firma Concord wurde inzwischen gelöscht – die Nachrichtenseite T-Online wies das Unternehmen im April darauf hin, dass die Aussagen im Beitrag falsch seien und fragte nach, warum sie gelöscht wurden. Concord veröffentlichte diese Anfrage auf VK, und zitierte Prigoschins Antwort: Er sei nur ein „Koch“, der von nichts anderem als von Koteletts etwas verstehe. Der Beitrag über Kanzler Scholz sei gelöscht worden, weil Freunde ihm angeblich gesagt hätten, er solle kein „Skelett aus dem Kleiderschrank“ holen – dies würde alle Deutschen beleidigen.

Ein Bild zeigt Jewgeni Prigoschin an einem Tisch mit hochrangigen russischen Politikern.
Nicht nur ein „Koch“: Ein Video der Libyschen Nationalen Armee zeigt Jewgeni Prigoschin (im blauen Anzug) unter anderem mit dem russischen Verteidigungsminister Sergej Shoigu (mittig) in Moskau am 7. November 2018. (Archivbild: Picture Alliance / AP Photo / Uncredited)

Prigoschin finanzierte laut US-Sicherheitsdiensten die „Trollfabrik“ Internet Research Agency

Doch Jewgeni Prigoschin ist nicht nur ein „Koch“. Am 16. Februar 2018 wurde ein Haftbefehl in den USA gegen ihn ausgestellt, weil er unter Verdacht steht, von 2014 bis 2018 an konspirativen Aktivitäten gegen die Vereinigten Staaten beteiligt gewesen zu sein, inklusive der Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen 2016. Laut einer Fahndungsanzeige des FBI war Prigoschin der wichtigste Geldgeber der in Sankt Petersburg ansässigen Internet Research Agency (IRA) und habe mutmaßlich „deren politische und wahlpolitische Einmischung in den Vereinigten Staaten beaufsichtigt und genehmigt“. 

Die IRA wurde vor einigen Jahren weltweit als „russische Trollfabrik“ bekannt. Sie arbeitete mit gefälschten Social-Media-Profilen, die sich Berichten zufolge in politische Debatten im Internet einmischten und zum Beispiel zugunsten des Kreml kommentierten. Prigoschin deutete laut der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti im Februar 2018 an, die Vorwürfe gegen ihn seien erfunden. 

Ein Auszug des FBI-Fahndungsbriefs für Prigoschin
Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin wird in den USA wegen Verschwörung zum Betrug an den Vereinigten Staaten gesucht – Russland hat ihn nicht ausgeliefert (Quelle: FBI / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Während Russland in der Ukraine Krieg führt, taucht auch der Name der Internet Research Agency wieder auf

Nun taucht der Name der IRA wieder in den Medien auf – diesmal im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Wie uns das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bestätigte, steht hinter der Internet Research Agency vermutlich Jewgeni Prigoschin. Das BfV habe bislang keine konkreten Aktivitäten der Internet Research Agency gegen Deutschland im Zusammenhang mit Krieg in der Ukraine feststellen können. „Grundsätzlich spielen russische Propaganda- und Desinformationskampagnen aber eine bedeutende Rolle für Einflussnahme und die Verbreitung von russischen Narrativen“, schrieb uns ein Sprecher.

Durch Soziale Netzwerke rollt seit Kriegsbeginn eine Welle pro-russischer und anti-ukrainischer Desinformation, die laut Recherchen von Propublica und Forschenden des Clemson Media Forensics Hub denselben Mustern folgt wie damals zur amerikanischen Präsidentschaftswahl. Am 1. Mai warnte auch die britische Regierung vor einer russischen Trollfabrik, die in Sozialen Medien und in den Kommentarspalten bekannter Internetseiten Desinformation verbreite. Man vermute Verbindungen zu Prigoschin, heißt es in der Pressemitteilung. Die Forschungsarbeit, auf die sich die Regierung beruft, wurde jedoch nicht veröffentlicht. Großbritannien hatte bereits im März Sanktionen gegen die IRA verhängt. Ob die IRA oder eine andere Trollfabrik hinter den Bildcollagen der angeblichen Großväter von deutschen Politikern steckt, lässt sich nicht sicher sagen. Belegt ist nur die Verbindung des Narrativs zu Prigoschin.

Das Narrativ der „Entnazifizierung“ wird ausgeweitet

Josef Holnburger vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) sieht darin eine klare Taktik: „Die hier verbreitete Desinformation zu angeblichen Vorfahren deutscher und europäischer Politiker dient vor allem der Diskreditierung eben dieser Politiker, aber baut auch das Argument einer vermeintlichen notwendigen Entnazifizierung der Ukraine aus und überträgt es auf Europa. Das ist insofern besorgniserregend, weil es die Rechtfertigung Russlands zum Angriff auf die Ukraine auf Europa erweitert.“ Damit könnten Feindbilder konstruiert werden, die zum Beispiel kriegerische Handlungen rechtfertigen. 

Wir haben für einen Hintergrundbericht bereits recherchiert, wie Expertinnen und Experten Russlands Aussagen zu einer „Entnazifizierung“ der Ukraine bewerten. Für den Kreml sei alles faschistisch, was anti-russisch ist, sagte uns beispielsweise Osteuropa-Experte André Härtel von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch. Andere Experten sagten uns, dass nationalsozialistisch geprägte Gruppen in der Ukraine klein und einer breiteren Öffentlichkeit dort kaum bekannt seien.

Redigatur: Alice Echtermann, Steffen Kutzner

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Hintergrund: 

  • Pressemitteilung des VK-Accounts „Pressedienst der Firma Concord” mit den falschen Behauptungen, 5. März 2022: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung des VK-Accounts „Pressedienst der Firma Concord“ mit Antwort auf eine Anfrage von T-Online, 12. April 2022: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung der britischen Regierung über aktuelle Desinformations-Taktiken des Kremls, 1. Mai 2022: Link 
  • Britisches Außenministerium verhängt Sanktionen gegen die Internet Research Agency, 15. März 2022: Link
  • Analyse der Clemson University und Propublica, 11. März 2022: Link
  • FBI-Haftbefehl gegen Jewgenij Viktorowitsch Prigoschin wegen Verschwörung zum Betrug an den Vereinigten Staaten: Link