Hat der Westen einen Waffenstillstand in der Ukraine „blockiert“? Interview mit Naftali Bennett irreführend untertitelt
Ein Interview mit dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett schlägt Wellen. Er soll darin gesagt haben, der Westen – allen voran die USA und Großbritannien – hätten einen Waffenstillstand in der Ukraine „blockiert“. Dieser sei zum Greifen nahe gewesen. Das ist jedoch eine Schlussfolgerung, die Bennett nicht zieht. Ein Interview mit ihm wurde irreführend untertitelt.
Zusammengedrängt sitzen die Männer in einem Flugzeug auf dem Weg nach Moskau und läuten mit gemeinsamen Gebeten den Schabbat ein. Es ist der 5. März 2022, rund eine Woche nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Mit an Bord: der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett. Der israelische Politiker will mit Putin über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine sprechen.
Seit Juni 2022 ist Bennett nicht mehr Ministerpräsident, aber sein Besuch in Moskau schlägt rund ein Jahr später in Deutschland hohe Wellen. Der Grund: Ein Interview, das Bennett Anfang Februar 2023 auf seinem eigenen Youtube-Kanal veröffentlichte. Dort ließ er sich erstmals nach dem Ende seiner Amtszeit interviewen. Stundenlang spricht er mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum – unter anderem über das Gespräch mit Putin über einen möglichen Waffenstillstand kurz nach Kriegsbeginn.
Ein Artikel der Berliner Zeitung von Anfang Februar darüber wird tausendfach auf Twitter (hier, hier, hier und hier), Facebook und Telegram geteilt. Der gemeinsame Tenor der Beiträge in Sozialen Netzwerken: Der Westen habe einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine verhindert, der zum Greifen nahe gewesen sei. Auch der österreichische Blog Exxpress.at sieht in Bennetts Aussagen bestätigt, für einige Nato-Staaten stünde „der Kampf gegen Putin“ an oberster Stelle, egal, was dabei mit der Ukraine passiere. Deshalb hätten sie „sämtliche Friedensbemühungen“ blockiert.
Diese These, dass der Westen Schuld am Scheitern der Verhandlungen trägt, vertritt auch die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. Einer ihrer Tweets dazu hat fast eine halbe Million Aufrufe. Vor allem die USA und Großbritannien hätten ein Abkommen verhindert, schreibt sie. Zwei Wochen später wiederholt sie die Behauptung in der ZDF-Talkshow Markus Lanz. Neu ist das jedoch nicht, Wagenknecht äußerte sich bereits im Mai 2022 ähnlich.
Wie wahrscheinlich war ein Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine?
Doch waren ein Waffenstillstand und ein Frieden zwischen Russland und der Ukraine tatsächlich so greifbar, wie die Beiträge suggerieren? Naftali Bennett selbst ist sich da weniger sicher.
Auf Twitter schrieb der ehemalige israelische Ministerpräsident am 6. Februar nach Reaktionen auf das Interview: Es sei unklar, ob ein Abkommen realistisch gewesen sei. „Zu diesem Zeitpunkt sah ich die Wahrscheinlichkeit bei ungefähr 50 Prozent.“ Unklar sei zudem, ob ein solches Übereinkommen überhaupt wünschenswert gewesen sei. Schon in dem vielzitierten Interview machte Bennett das deutlich: „Damals habe ich gedacht, das Richtige wäre ein Waffenstillstand. Jetzt bin ich unsicher. Vielleicht hätte man damit den Schurken zu schnell belohnt, vielleicht hätte es eine falsche Botschaft an andere Länder gesendet“.
Doch offenbar haben das nicht alle gehört und gelesen. Der Artikel der Berliner Zeitung greift als Aufhänger eine Aussage Bennetts auf, die sich bei 3:00:32 im Interview findet und auf Youtube irreführend untertitelt ist. Der Journalist Hanoch Daum fragt Bennett, ob Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA einen Waffenstillstand blockiert hätten. Darauf antwortet Bennett laut der englischsprachigen Untertitel: „Im Grunde ja. Sie haben es blockiert und ich dachte, dass sie falsch liegen.“ Diese Aussage zitiert auch die Berliner Zeitung und wirft die Fragen auf, warum Nato-Staaten den Waffenstillstand blockiert hätten, welche Rolle die deutsche Regierung gehabt habe und ob der Westen womöglich eine Mitschuld an der Eskalation des Krieges trage.
Wir haben das Video einer hebräischen Muttersprachlerin geschickt und um eine Übersetzung gebeten. Sie schrieb uns, die korrekte Übersetzung sei nicht „blockieren“ , sondern „stoppen“ oder „einstellen“. Das konnten wir mit Online-Übersetzungs-Tools bestätigen. Es gehe nicht um ein aktives, aggressives Handeln, schrieb uns die Übersetzerin, sondern um ein eher passives. Auch Business Insider kommt zu dem Schluss, dass die Übersetzung fehlerhaft ist.
Russland und Ukraine brachen Verhandlungen über einen Waffenstillstand am 17. Mai 2022 ab
Dass es nicht einfach einen Zeitpunkt gab, an dem die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine scheiterten, zeigt ein kurzer Rückblick auf die verschiedenen Stadien der Gespräche.
Am 27. Februar 2022 stimmte die Ukraine Verhandlungen zu, die Russland zuvor vorgeschlagen hatte. Einen Tag später begannen die Gespräche an der Grenze zu Belarus: Die Ukraine forderte einen „sofortigen Waffenstillstand“ und den „Rückzug aller russischen Truppen“, Russland eine „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine und die Anerkennung der Annexion der Krim. Am 29. März trafen sich die Verhandler dann in Istanbul, die ukrainische Seite legte einen 10-Punkte-Plan vor. Laut diesem Plan würde sich die Ukraine zur Neutralität verpflichten und auf den Beitritt zu jeglichen Militärbündnissen, wie der Nato, verzichten. Gegenüber dem italienischen Regierungschef Mario Draghi soll Putin am Tag nach dem Treffen in Istanbul in einem Telefonat gesagt haben, die Zeit sei noch nicht reif für eine Waffenruhe oder ein Treffen mit Wolodymyr Selenskyj.
Im April wurde online weiter über den ukrainischen Vorschlag verhandelt, aber das Massaker in Butscha Anfang des Monats brachte die Verhandlungen schon beinahe zum Scheitern. Naftali Bennett sagt dazu im Interview (ab 2:45:40): „Als das passierte, sagte ich: ‚Es ist vorbei‘.“
Doch die Gespräche gingen weiter. Mitte April 2022 drohte der ukrainische Präsident während der Kämpfe in Mariupol mit einem Abbruch: „Die Vernichtung unserer Truppen, unserer Männer in Mariupol, werden jegliche Verhandlungen beenden“. Als Russland die Stadt endgültig einnahm und über 1.700 ukrainische Soldaten in Gefangenschaft gerieten, beendeten beide Seiten die Gespräche.
Welche Ereignisse letztendlich zum Abbruch der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine führten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik weist jedoch darauf hin, dass es mehrere wesentliche Faktoren gab: der Kriegsverlauf, die Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen und die Überzeugung, Russland militärisch Einhalt gebieten zu können.
Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlungen mit Bennett ist unklar
Bestimmte Gespräche gehen weiter. Beide Seiten verhandeln immer wieder über den Austausch von Gefangenen und den weltweiten Export von Getreide aus der Ukraine. Dieses sogenannte Getreideabkommen wurde zuletzt am 18. März 2023 für 60 Tage verlängert.
Welche Rolle die Bundesregierung und Bundeskanzler Scholz bei den gescheiterten Friedensgesprächen spielten, ist weiterhin unklar. Am 17. Februar 2023 fragten mehrere Abgeordnete schriftlich, welche Position Deutschland bei den Verhandlungen von Naftali Bennett eingenommen hätte. Auch eine kleine Anfrage der AfD vom 28. Februar ging in eine ähnliche Richtung. In beiden Fällen hieß es von Seiten der Bundesregierung lediglich, man habe sich „intensiv“ für die Beendigung des Krieges eingesetzt und „kontinuierlich im engen Austausch“ mit Partnern gestanden. Zum Inhalt vertraulicher Gespräche äußere sich die Bundesregierung grundsätzlich nicht.
Expertinnen und Experten halten einen baldigen Frieden oder einen Waffenstillstand für unwahrscheinlich. Im Tagesspiegel sagte Mark Leonard, Leiter des European Council on Foreign Relations, solange sich sowohl Russland als auch die Ukraine militärische Erfolge im Krieg versprächen, seien Verhandlungen „in weiter Ferne“. Ähnlich äußerte sich Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Ukraine könne den Verlust ihres Territoriums nicht akzeptieren, ohne die eigene Existenz zu gefährden. Russland hingegen eskaliere den Konflikt militärisch immer weiter.
Gegenüber dem Deutschlandfunk sagte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, Putin suche eine Entscheidung des Konfliktes auf dem Schlachtfeld, um einen Frieden nach seinen Bedingungen diktieren zu können. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, Russland werde erst dann zu Verhandlungen bereit sein, wenn es durch den andauernden Krieg mehr Schaden als Nutzen sehe.
Redigatur: Viktor Marinov, Uschi Jonas