Hintergrund

Briefwahl und Wahlbeteiligung: Betrugsvorwürfe über die Wahl in Nordhausen ohne Grundlage

Durch die Briefwahl stieg die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl zum Oberbürgermeister in Nordhausen sprunghaft an. Manche wittern dahinter Betrug – und behaupten, das hätte dem parteilosen Kandidaten zum Sieg über den AfDler verholfen. Doch dieser Vorgang ist weder betrügerisch, noch überraschend. Und gewonnen hätte der Parteilose auch ohne die Briefwahlstimmen.

von Gabriele Scherndl

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Ein Stapel Wahlbriefe bei der Auszählung der Stichwahl in Nordhausen. Gewonnen hat die Oberbürgermeisterwahl der parteilose Kandidat Buchmann. (Symbolbild: Matthias Bein / DPA / Picture Alliance)

Es gebe einen „sehr schlimmen Verdacht”, sagt ein Youtube-Nutzer in einem Video: Es habe „massiven Betrug“ bei der Stichwahl der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen in Thüringen gegeben. Für ihn sähen die Ergebnisse „wirklich extrem verdächtig“ und „nicht nach einem regulären und ordentlichen Wahlergebnis“ aus, sagt der Mann, der auf Youtube als Vermietertagebuch auftritt.

Er spricht von der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen. Obwohl eine Kommunalwahl in einer 40.000-Menschen Stadt normalerweise kaum Aufsehen erregt, wurde über diese Wahl bundesweit diskutiert. Denn Jörg Prophet hätte der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands werden können. Doch nach der Stichwahl am 24. September 2023 wurde er das nicht. Stattdessen gewann der parteilose und bis dahin amtierende Bürgermeister Kai Buchmann.

Der Youtube-Nutzer analysiert in seinem Video die Ergebnisse der Stichwahl. Erst durch die Briefwahlstimmen sei die Wahlbeteiligung „sprunghaft“ gestiegen, rechnet er vor. Und erst so habe Buchmann den AfD-Kandidaten Prophet überholt. 

Auch andere Nutzer in Sozialen Netzwerken deuten einen angeblichen Wahlbetrug an. Etwa ein Tiktok-Nutzer namens NewsTVInsider, der über eine „gefakte“ Wahl spricht und sagt, für ihn sehe das Ergebnis „komisch“ aus, er habe da ein „mulmiges Gefühl im Bauch“. Björn Höcke, Faschist und Vorsitzender der AfD Thüringen sagte am Wahltag, „ganz subjektiv“ sei das eine „merkwürdige Dynamik in der Auszählung“ gewesen – ergänzt dann aber, dass er davon ausgehe, alles sei mit „rechten Dingen zugegangen“. 

Unsere Recherche zeigt: Die Vorwürfe über eine unsauber abgelaufene Wahl haben keine Faktengrundlage. Dass wegen der Briefwahlstimmen die Wahlbeteiligung steigt und sich das Ergebnis verändert, ist weder ein Anzeichen für Betrug, noch sonderlich überraschend. Und: Selbst wenn man die Briefwahlstimmen rausrechnen würde, hätte der AfD-Kandidat verloren.

Screenshot aus einem Youtube-Video, zu sehen ist ein Mann, der seinen X-Feed durchscrollt.
Mehrere Nutzer auf Youtube und Tiktok analysierten die Wahl in Nordhausen und deuteten an, dass es dabei zu Betrug gekommen sei (Quelle: Youtube; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Briefwahlstimmen heben die Wahlbeteiligung – das ist üblich

Einige Nutzer, die die Betrugstheorie verbreiten, beziehen sich auf einen Live-Ticker des Regionalmediums Thüringen24 am Tag der Stichwahl. Da waren Buchmann und Prophet lange Kopf an Kopf, zwischenzeitlich stand es 50 zu 50 Prozent. Um 18.45 Uhr lag die Wahlbeteiligung noch bei 39,8 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt war AfD-Kandidat Prophet mit 50,3 Prozent in Führung. Um 19.01 Uhr lag die Wahlbeteiligung bei 49,5 Prozent, zwei Minuten später hatte Buchmann mit 53,8 Prozent Prophet überholt.

Woher kommt also der Anstieg der Wahlbeteiligung? 

CORRECTIV.Faktencheck bat das Umfrageinstitut Infratest Dimap, das Wahl- und Politikforschung anbietet und in der Vergangenheit unter anderem an Wahltagen von der Tagesschau beauftragt wurde, um eine Einschätzung. Laut Sprecherin Irina Roth ist es „ein häufiges Muster, dass zunächst Urnenwahlbezirke bei den Ergebnismeldungen einlaufen und erst später Briefwahlbezirke“. Wann genau welche Stimmen in Nordhausen ausgezählt wurden, ist unklar – die dortigen Wahlleiterinnen und die Stadtverwaltung reagierten nicht auf mehrmalige Anfragen von CORRECTIV.Faktencheck.

Zur Erklärung: Urnenwahlbezirke gibt es mehrere innerhalb eines Wahlkreises. In jedem dieser Wahlbezirke beziehungsweise Stimmbezirke liegt ein Wahllokal. Ein Briefwahlbezirk ist eine organisatorische Einheit für die Auszählung der Briefwahlstimmen. Die jeweilige Wahlleitung fasst dafür die Wahlbezirke in Briefwahlbezirke zusammen. Als Wählerinnen und Wähler registriert sind die Wahlberechtigten in den Urnenwahlbezirken. Briefwählende fehlen in der Auszählung dieser Stimmbezirke. Ihre Stimmen fließen erst dann mit ein, wenn die Briefwahlstimmen ausgezählt sind. Die Wahlbeteiligung steigt also mit der Auszählung der Briefwahlstimmen nicht sprunghaft an, sie ist vorher schlicht nicht vollständig. 

So erklärt das auch Cornelia Schönfuß, Sprecherin des Thüringer Landesamt für Statistik: „Da sich die Zahl der Wahlberechtigten also nicht erhöht, aber die Zahl der Wähler zunimmt, steigt die Wahlbeteiligung an.“ 

Stimmen von Briefwahl fließen erst bei der Auszählung der Briefwahlbezirke in das Endergebnis ein

Das verdeutlicht für Nordhausen auch eine Tabelle (PDF, archiviert) mit dem vorläufigen amtlichen Endergebnis der Wahl, die die Stadt veröffentlichte. Einige Nutzer zeigen diese auch in ihren Videos. Darin sind die Wahlbeteiligung und Ergebnisse der einzelnen Stimmbezirke aufgeschlüsselt. 

Auf dieser Liste stehen in den unteren sechs Zeilen die Briefwahlbezirke (abgekürzt als BW). Bei diesen sind keine Wahlberechtigten aufgeführt, weil die Stimmen, die dort abgegeben wurden, eigentlich aus den Urnenwahlbezirken stammen und sich auf die Gesamtwahlbeteiligung niederschlagen, wie auch das Thüringer Landesamt für Statistik bestätigt.

Screenshot aus einem Youtube-Video, zu sehen sind ein Mann und eine Tabelle, darunter steht: "Beweise: Massiver Betrug durch Briefwahl in Nordhausen?"
Die vorläufigen Endergebnisse zur Stichwahl in Nordhausen sind für manche Anlass für Betrugsmutmaßungen – doch die sind haltlos (Quelle: Youtube; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Parteiloser Buchmann hätte auch allein durch die Urnenwahl knapp gewonnen

All das sagen die Tiktok- und Youtube-Nutzer aber nicht dazu. Sie konzentrieren sich in ihren Videos auf die Ergebnisse in den einzelnen Stimmbezirken. Und die zeigen tatsächlich: Der AfD-Kandidat war in vielen Urnenwahlbezirken deutlich stärker als in den Briefwahlbezirken. In 16 Stimmbezirken erhielt er mehr als die Hälfte der Stimmen, sein Gegner in den restlichen 20. In den sechs Briefwahlbezirken gewann der parteilose Buchmann, teilweise mit deutlichem Abstand. 

Buchmann hat nach Angaben der Stadt Nordhausen insgesamt 10.599 Stimmen bekommen, Prophet 8.702. Daraus sind 4.156 der Buchmann-Stimmen aus der Briefwahl, bei Prophet sind es 2.314. Das bedeutet: Prophet hat 6.388 Stimmen per Urnenwahl bekommen, Buchmann hingegen 6.443. Der parteilose Kandidat hätte also auch ohne Briefwahl knapp gewonnen.

AfD selbst warnt regelmäßig vor der Briefwahl – und ihre Wählerinnen und Wähler nutzen sie selten

Dass eine Briefwahl schlecht für die AfD läuft, ist ein Muster, das sich auch bei anderen Wahlen zeigt. „In den letzten fünf Jahren lag bei allen Wahlen zum Landtag, Bundestag oder Europaparlament der AfD-Anteil bei den Briefwählern deutlich unter dem AfD-Anteil bei den Urnenwählern“, schreibt Roth von Infratest Dimap. Das war auch bei der Bundestagswahl 2021 so: „Besonders die AfD erzielte bei den Urnenwählerinnen und -wählern ein höheres Ergebnis als bei den Briefwählerinnen und -wählern“, heißt es dazu in einem Bericht des Bundeswahlleiters (PDF, archiviert). Der Unterschied habe 6,9 Prozentpunkte betragen.

In einem Essay der School of Governance an der Universität Duisburg-Essen mit Erkenntnissen aus der Bundestagswahl 2021 schreiben die Forschenden, dieser Unterschied passe zur „generellen Skepsis“ der AfD-Wählerschaft gegenüber dem Wahlsystem. Die AfD habe „im Vorfeld der Wahl aktiv die Sicherheit der Briefwahl angezweifelt“.

Eine Grafik, die zeigt, dass Kai Buchmann mehr Briefwahl-Stimmen bekam als Jörg Prophet.
Der MDR veranschaulicht das Briefwahlergebnis in Nordhausen in dieser Grafik – der AfD-Kandidat unterlag deutlich (Quelle: MDR, Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Funktionäre der AfD warnen ihre Wählerinnen und Wähler regelmäßig davor, die Briefwahl zu nutzen. So sagte etwa Björn Höcke im September 2021: „Jeder, der Interesse an fairen Wahlen, an geheimen Wahlen hat, der geht ins Wahlbüro“. Die AfD Leipzig schrieb in einem Facebook-Beitrag im August 2021: „Briefwahl ist keine Lösung, sondern ein Problem“. Ende September 2023 schrieb der forschungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag, Michael Kaufmann, in einer Pressemeldung: „Briefwahl sollte die Ausnahme bleiben“.

Paula Jöst vom Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität Mainz ordnet das auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck so ein: „Die Anhängerinnen und Anhänger einer Partei achten sehr genau darauf, was von Parteieliten gesagt wird und übernehmen daher deren Skepsis gegenüber der Briefwahl. Deshalb gibt es meistens wenige Briefwahlstimmen für die AfD“. Dass unter den Briefwahlstimmen in Nordhausen wenige AfD-Stimmen seien, überrascht sie nicht.

Expertinnen und Experten schätzen die Briefwahl als sicher ein

Was steckt hinter der AfD-Angst vor der Briefwahl? CORRECTIV.Faktencheck hat schon vor zwei Jahren in einer Hintergrundrecherche über die Bundestagswahl detailliert beschrieben, in welchen Aspekten die Briefwahl sicher ist – und in welchen nicht. Die Zusammenfassung: Expertinnen und Experten bewerten die Briefwahl als sicher, zahlreiche Mechanismen sollen dafür sorgen, dass Betrug dabei erschwert oder unmöglich wird. Klar ist aber auch, dass das Wahlgeheimnis – das auch im Thüringer Kommunalwahlgesetz festgeschrieben ist – bei einer Briefwahl nicht im selben Ausmaß sichergestellt ist, wie in einer Wahlkabine.

Politikwissenschaftlerin Jöst schreibt dazu, sie schätze die Sicherheit der Briefwahl auch auf Kommunalebene als „sehr hoch“ ein. Und bringt in Bezug auf die AfD einen anderen Aspekt ein: Die „Gewinner-Verlierer-These“. Mehrfach sei in Forschungen festgestellt worden, dass Wahlverlierer eher dazu tendieren würden, die Integrität der Wahl in Frage zu stellen.

Die Stadt Nordhausen und die beiden Wahlleiterinnen antworteten nicht auf wiederholte Anfragen, ob es bei der Briefwahl oder bei der Wahl generell zu Ungereimtheiten kam. Zu solchen gibt es bislang aber keine Berichte.

Vergleich zum ersten Wahlgang ist ebenfalls kein Beleg für Betrug

Mehrere Nutzer ziehen außerdem einen Vergleich zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang. Weil beim ersten Wahlgang am 10. September kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte, gingen Prophet und Buchmann in die Stichwahl. Buchmann gewann im Vergleich zum ersten Wahlgang 31,2 Prozentpunkte, Prophet hingegen nur drei. 

Screenshot aus einem Youtube-Video, zu sehen sind ein Mann und eine Grafik, die Grafik zeigt, dass Buchmann im Vergleich zum ersten Wahlgang 31,2 Prozent zugelegt hat.
Diese Grafik hat nichts mit der Briefwahl zu tun, sondern ist lediglich der Vergleich zum ersten Wahlgang (Quelle: Youtube, Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Doch auch das ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Wählerinnen und Wähler, die beim ersten Wahlgang für jemanden gestimmt haben, der nicht in die Stichwahl kam, müssen sich im zweiten Wahlgang für einen anderen Kandidaten oder Kandidatin entscheiden – sofern sie sich dazu entscheiden noch einmal abzustimmen. Daher sind viele Stimmen verfügbar. Die konnte sich der parteilose Buchmann in der Stichwahl sichern.

Einige der Parteien, die im ersten Wahlgang ausgeschieden hatten, gaben außerdem direkt oder indirekt Wahlempfehlungen an ihre Wählerinnen und Wähler. So riefen laut MDR die Nordhäuser Grünen dazu auf, Buchmann zu wählen. Die SPD erklärte, es dürfe dem AfD-Kandidaten keine Stimme gegeben werden. Der frühere CDU-Bürgermeister Klaus Zeh wollte laut MDR keine Wahlempfehlung abgeben, habe aber hinzugefügt, das führe nur dazu, dass die Menschen aus Trotz die AfD wählen würden.

Dass die Menschen, die vorher einen anderen Kandidaten gewählt haben, nicht zu Hause blieben, sondern Buchmann wählten, kann auch aus politikwissenschaftlicher Sicht erklärt werden. Jöst schreibt dazu: Wenn die Kandidaten in der Stichwahl als sehr unterschiedlich wahrgenommen würden, gewinnt die eigene Stimme in den Augen der Wählenden an Bedeutung. Sie wollen dann einen Kandidaten als „das geringere Übel” wählen, erklärt Jöst.

Keiner der drei Video-Ersteller antwortete auf Anfragen von CORRECTIV.Faktencheck – etwa dazu, worauf sie ihre zumindest impliziten Betrugsvorwürfe stützen oder ob sie vor hätten, sich zu korrigieren.

Grafik zur Wahl in Nordhausen ist eigentliche eine Referenz auf Donald Trump

Eine weitere Grafik, die manche Nutzer in Sozialen Netzwerken teilen, ist keine tatsachengetreue Darstellung der Auszählungen am Wahltag. Sie soll offenbar symbolisieren, dass Buchmann mit steigender Wahlbeteiligung einen Sprung in den Stimmengewinnen machte und damit Prophet überholte. Doch wie oben beschrieben, lag bei der Auszählung der Stimmen mal der eine, mal der andere Kandidat vorne.

Ein X-Nutzer teilt die Grafik mit den Worten „Stop the Steal“, auf Tiktok hieß es dazu: „Hat ja schon bei Biden geklappt“. Die Referenz ist also klar: Die Nutzer sehen sich an die US-Wahl 2020 erinnert, die Donald Trump gegen Joe Biden verlor. Trump verbreitete daraufhin die Theorie, bei der Wahl sei betrogen worden, auch er hinterfragte die Sicherheit der Briefwahl.

Screenshot eines X-Beitrag, darauf sind zwei Kurven übereinander, eine blaue und eine rote. Die rote (bei der steht Buchmann) überholt am Ende sprunghaft die blaue (zu der steht Prophet).
Diese Grafik ist keine tatsächliche Darstellung der Nordhausen-Ergebnisse, sondern eine Referenz an Trump-Anhänger (Quelle: X; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Grafik wurde für Trump-Anhänger zum Logo, es gibt Sticker und T-Shirts damit, Anhänger der Betrugstheorie verbreiteten sie in Sozialen Netzwerken. Für Trumps Betrugsvorwurf gibt es keine Belege. Stattdessen ist Trump selbst dafür angeklagt, versucht zu haben, das Wahlergebnis nachträglich zu kippen..

Redigatur: Viktor Marinov, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Kurzbericht über die Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik zur Bundestagswahl 2021, Der Bundeswahlleiter, 26.Januar 2022: Link (PDF, archiviert)
  • Vorläufiges Endergebnis der Stichwahl, Stadt Nordhausen, 25. September 2023: Link (PDF, archiviert)
  • Zum Steigenden Einfluss der Briefwahl, regierungsforschung.de, 2021: Link